Erschütterungen

Devin war damals mit einer Brötchentüte in der Hand vorbeigekommen. Sila hatte auf einer Mauer am Ufer gesessen, ins Wasser gestarrt und sich ab und zu die Tränen abgewischt. Wie alle anderen ging auch Devin vorbei. Aber anders als die anderen machte er nach ein paar Schritten kehrt, kam zurück und blieb vor Sila stehen.

»Kann ich dir helfen?«

Sila schüttelte stumm den Kopf. »Ich habe Croissants geholt«, versuchte er es weiter. »Schokocroissants. Du könntest mitkommen, dich aufwärmen und einen Kakao dazu trinken. Ich heiße Devin.«

Erschrocken hatte sie zu ihm aufgeblickt. In seine graugrünen Augen inmitten von Lachfältchen, obwohl er damals auch erst vierundzwanzig war. Er trug Jeans mit Sägespänen darauf und einen Pferdeschwanz. Devin fasste sich an die Stirn. »Entschuldige! Du kannst natürlich nicht mit einem Fremden mitgehen. Du hast völlig recht. Ich lasse dir wenigstens ein Croissant da, ja? Und ich hoffe, dass es dir bald bessergeht.«

»Danke«, brachte Sila heraus.«

 

Nach dem, was kürzlich auf der Party passiert war, wäre Sila niemals mit ihm mitgegangen. Vorher auch nicht. Aber sie mochte seine Augen. Und seinen Pferdeschwanz. Schade, dass sie ihn nicht wiedersehen würde.

»Hallo, ich bin Indra«, erklärte die Silhouette und streckte ihr einen ebenfalls langen Arm entgegen. »Devin hat mir gesagt, dass es dir nicht gut geht. Es war natürlich richtig, dass du nicht mit ihm mitgegangen bist. Aber meine Freundin Bea und ich, wir arbeiten auch da oben im Haus. Es ist nämlich gar keine Wohnung, nur eine Werkstatt. Wenn du mitkommst und einen Kakao mit uns trinkst, würde ich mich freuen.«

Indra klang nicht wie jemand, zu dem man Nein sagte. Außerdem fror Sila. Innerlich und äußerlich. Unschlüssig stand sie auf. Ehe sie so richtig wusste, wie ihr geschah, war sie Indra viele Treppen hinauf gefolgt und saß mit einer warmen Tasse in der Hand auf einem Schaukelstuhl, dem noch eine Armlehne fehlte.

»Die mache ich noch«, erklärte Devin und zeigte ihr das Holz, das er gerade glattschliff.

 

Sila mochte ihn, und Indra sowieso. Bea hatte ihr freundlich zugenickt, ohne damit aufzuhören, bunte Stoffstücke zuzuschneiden.

»Das sieht gar nicht aus wie Arbeit«, sagte Sila, die sich zunehmend verwirrt umsah. Es war ihr immer noch unheimlich, dass sie einfach so mitgegangen war. Aber sie hatte nicht mehr weitergewusst.

Ebenso unheimlich war ihr, dass sie sich hier sofort wohl

»Bei uns ist Arbeit und Freude dasselbe«, erklärte Indra. »Was machst du denn gern?«

»Mit bunter Farbe streichen«, entfuhr es Sila.

»Na, wunderbar. Farbe haben wir hier auch, und die Wand da!« Indra wies dorthin, wo eine ehemals weiße Wand graue Streifen und braune Flecke aufwies. »Die könnte einen Anstrich dringend gebrauchen, meinst du nicht, Devin?«

»Klar. Farbe und Pinsel findest du da drin.« Devin zeigte beiläufig auf einen ramponierten Schrank. »Die hat ein Maler hiergelassen, der vor uns hier gearbeitet hat. Bedien dich ruhig!«

»Es sei denn, du möchtest uns vorher erzählen, warum du so traurig bist«, meinte Indra.

Sila schüttelte den Kopf. Indra stand auf. »Na, dann ist Arbeit die beste Lösung. Mir hilft es zumindest immer. Ich mach jetzt auch weiter. Such du dir eine Farbe aus, die dir gefällt. Natürlich nur, wenn du magst.«

Sila mochte. Sie öffnete vorsichtig den Schrank und fand sich im Himmel wieder. Alle Sorten Farben, viele davon angebrochen, manche ausgetrocknet, jedoch genug Reste, dass sie eine Wahl hatte wie nie zuvor. Auch Pinsel, Klebeband, Abdeckplanen gab es, alles, was sie brauchte.

»Hier!« Devin warf ihr einen fleckigen Kittel zu. »Und die Leiter steht da in der Ecke. Aber sei vorsichtig! Weißt du, wie man die richtig aufstellt?«

»Klar.« Er sah ihr trotzdem genau zu und überprüfte noch einmal, ob alles eingerastet war und die Leiter sicher stand.

Sila überlegte, ob sie »Seegras« oder »Sommer am Meer« nehmen sollte, und entschied sich dann doch für

Sie strich, und die anderen gingen ihrer jeweiligen Arbeit nach. Devin pfiff manchmal dabei, Bea summte, Indra brummelte gelegentlich Unverständliches. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sich Sila nicht einsam. Mit jedem Pinselstrich ging es ihr besser. Die Wand sah auch besser aus – viel besser.

»Das hätte längst mal jemand machen sollen! Wie schön, dass du gekommen bist, Sila«, meinte Bea, bevor sie ging.

»Ja, viel schöner hier jetzt!«, fand auch Indra, und Devin sagte: »Wenn du wiederkommen möchtest, kannst du das jederzeit tun.«

»Ich?«, fragte Sila ungläubig.

»Klar. Das hier ist doch ein Ort, der für kreative Menschen wie dich gedacht ist.«

Sie war kreativ? Das hörte sie zum ersten Mal. Aber wenn es bedeutete, dass es einem gut ging, während man schöne Dinge mit den Händen machte, und herauslassen konnte, was in einem drin war, dann stimmte es vielleicht sogar.

Um das auszuprobieren, nahm sie allen Mut zusammen, kam wieder und malte mit dem »Seegras«-Rest einen Baum auf die Aprikosenmorgenwand. Und da wusste sie, dass es stimmte.

 

Die Etage oben im Haus am Spreeufer wurde ihre Zuflucht. Anfangs konnte sie nicht glauben, dass sie die anderen nicht störte. Aber die zeigten es ihr einfach, bis sie überzeugt war. Indem sie sich freuten, wenn Sila Kuchen mitbrachte, aber auch, wenn sie den aß, den Indra gebacken hatte. Indem sie ihr Material schenkten und zeigten, was man daraus machen konnte. Indem sie mit leuchtenden Augen über die Ergebnisse staunten.

Warum sie an jenem Tag geweint hatte, an dem sie Devin begegnete, fragte niemand mehr. Sie hatte es selbst nicht genau gewusst. Da war diese schreckliche Party gewesen, mit der ihre Schulklasse die vollendete mittlere Reife gefeiert hatte. Irgendjemand hatte heimlich Schnaps in die Bowle gekippt. Sila hatte zum ersten Mal etwas getrunken, und dann gleich zu viel. Sie war in Lasse verknallt, und sie wusste, dass sie bald die Lehre im Laden ihres Onkels beginnen musste. Tante Daniela ging jedenfalls davon aus, und Sila wusste nicht, was sie anderes machen sollte. Doch diese Vorstellung hatte etwas Beängstigendes. Also trank sie und tanzte eng umschlungen mit Lasse und hoffte, dass die Zukunft vielleicht nie beginnen würde.

Von da an konnte sie sich an beinahe nichts erinnern. Irgendwann war ihr schwindelig geworden. Sie war mit Lasse und ein paar anderen Pärchen in ein Zimmer mit Sofas gegangen. Wie sie nach Hause gekommen war, wusste sie auch nicht mehr genau. Lasse hatte sie in ein Taxi gesetzt, sagte Tante Daniela, als Sila mit einem grässlichen Kater aufwachte. »Lass es dir eine Lehre sein«, sagte Daniela. »Du hattest zwar Grund zu feiern, aber Alkohol ist nichts für dich. Wir vertragen in dieser Familie alle keinen.«

Sila glaubte ihr sofort. Sie wollte dieses Gefühl nie wieder haben. Ihr war viel zu übel. Und alles tat weh. Wirklich alles.

 

Daniela beschloss, dass Sila die Lehre gleich beginnen sollte, bevor sie auf dumme Gedanken kam. Sila sah Lasse nie wieder, der ging nach Westdeutschland auf ein Gymnasium. Aber sie

Vielleicht lag es daran, dass sie es hasste, den ganzen Tag im Geschäft zu sein.

Es gab jedenfalls genug Gründe, an jenem Tag zu weinen. Sila fühlte sich krank, unglücklich, einsam und gefangen in einem Alltag, aus dem sie keinen Ausweg wusste. Schließlich war sie noch nicht volljährig.

Die Künstler in der Werkstattetage waren ihre Rettung.

Nur gegen die Übelkeit half auch das nicht. Einmal war Sila dabei, die kleine Küche zu streichen. Diesmal mit einem kühlen, blassen Blaugrau, »Zeit der Eisblumen«. Sie hatte die Farbe gewählt, weil es zu ihrer Stimmung passte. Sie fühlte sich seltsam eingefroren und unwirklich, als wäre sie gar nicht da, nur eine Fälschung.

Doch mittendrin konnte Sila nur noch zusammengekrümmt auf einem Stuhl sitzen. Die Übelkeit hatte sich in Bauchschmerzen verwandelt. Indra kochte besorgt Tee, machte ihr eine Wärmflasche und gab ihr schließlich Schmerztabletten. Es half nicht. Als Sila aufstehen wollte, wurde ihr schwindlig. Indra fing sie auf.

»Es sticht so!«, stöhnte Sila, die heimlich noch eine Tablette geschluckt hatte und davon so benommen war, dass sie alles wie in einem Nebel wahrnahm.

»Jetzt reicht’s!«, erklärte Indra. »Devin, du fährst das Mädchen in die Klinik. Da stimmt was nicht. Ich rufe ihre Tante an. Hast du noch deinen Blinddarm, Sila?«

»Ja.«

Devin hatte schon die Jacke an. »Komm. Schaffst du die Treppe?«

 

»Ich war schwanger?« Sila versuchte, sich das vorzustellen, aber es gelang ihr nicht.

»Sie sind jung, Sie werden sich bald erholen. Aber Sie müssen sich eine ganze Weile schonen«, erklärte die Ärztin und warf Tante Daniela im Gehen einen Blick zu, den Sila nicht deuten konnte.

»Gut, dass Lasse nicht mehr hier ist. Dein Onkel hätte sonst Pide aus ihm gemacht«, sagte Daniela düster. Sila hatte die mit Hackfleisch gefüllten Fladen ihres Onkels gern gegessen, aber die würden ihr nun auch nie wieder schmecken, dachte sie. Sie fühlte sich leer, müde und dumpf. »Es tut mir leid, dass ich so wenig Zeit habe wegen Mine und dem Laden. Ich hätte mich längst mehr um dich kümmern müssen«, fügte Daniela hinzu. Zu Silas Erstaunen war sie den Tränen nahe.

»Wir sind ja auch noch da«, tönte da eine entschiedene Stimme von der Tür her. Sila war glücklich, Indra zu sehen. Sofort fühlte sie sich besser. Vielleicht war es doch noch nicht das Ende der Welt.

Indra setzte sich zu Daniela, stellte sich vor und wickelte Silas Tante innerhalb weniger Minuten um den Finger.

»Sila kann sich tagsüber bei uns erholen, wenn sie hier rauskommt, dann sind Sie entlastet«, erklärte Indra diplomatisch und gab Daniela ein Taschentuch. Belohnt wurde sie mit einem Lächeln von Daniela und einem von Sila.

Nach den zwei Wochen, die Sila dann mit einem Fieberschub doch noch in der Klinik verbringen musste, hatte Indra Daniela noch von etwas anderem überzeugt. Sila durfte die Lehre im Laden abbrechen und unter Indras Aufsicht dafür eine Tischlerlehre bei Devin beginnen. Er war gerade alt genug, um ausbilden zu dürfen.

Sila wollte Indras Hand gar nicht mehr loslassen. »Danke, danke, danke!«, flüsterte sie.

Daniela händigte Indra einen Einkaufsgutschein für den Laden aus. Das war ihre unbeholfene Art, sich zu bedanken.

Devin musste allerdings erst einige Auflagen erfüllen. Der Brandschutz musste verbessert und der Sicherheitsauflagen wegen eine Wand herausgerissen werden. Aber Devin ließ nicht locker, auch nicht bei dem Papierkram, und schließlich bekam er grünes Licht.

Sila hatte nun endlich einen Grund, gesund zu werden. Die Vorstellung, in das enge, eintönige, stickige Geschäft mit den kleinen Fenstern und der grellen Neonbeleuchtung zurückzukehren zu müssen, war wesentlich unerträglicher gewesen als die Erläuterung der Ärztin, dass Sila nie Kinder bekommen würde.

 

Also brannte Sila Muster und vergaß alles dabei. Sie lernte, wie man eine Stelle dunkler und tiefer machte, je länger man die Spitze darauf ruhen ließ. Wie man mit wenig Druck feine Linien ziehen konnte und Schattierungen hinbekam, wenn man den Kolben schräg hielt. Beinahe von selbst entstand ein Bild. Ein Fluss, ein Ufer, ein Vogelschwarm.

»Nanu, seht mal!«, rief Indra, als sie über Silas Schulter sah. »Es wird Zeit, Sila eine eigene Arbeitsecke einzurichten. Sie ist jetzt eine von uns.«

»Hui!«, sagte Devin, der hinzukam. »Sila, wenn du noch etwas übst und ich dir ein paar Kniffe zeige – meinst du, du hättest Lust, dann mal einen meiner Stühle zu verzieren? So könnten sie etwas Besonderes werden. Ich bin schon lange auf der Suche nach etwas, das meine von anderen Stühlen unterscheidet und sie einmalig macht.«

Sila sah von einem zum anderen und hätte am liebsten beinahe wieder losgeheult. Vor Freude diesmal. Sie hatte einen Platz im Leben gefunden. Sofort fing sie an zu üben.

Zu Beginn ihrer Lehre legten die anderen zusammen und schenkten ihr eine richtige Brennstation. Und dann zeigte ihr Devin, wie man Werke signiert.

Jetzt war sie auch Andrena, und sie hatte ein Zuhause und eine Familie, wenn auch eine ungewöhnliche.

Indra und die anderen sorgten auch dafür, dass Sila nicht nur das Handwerk lernte. Sie achteten, wie einst Wanda, auf eine ordentliche Sprache. Dorothea hatte Sila in dieser Hinsicht nicht viel mitgeben können. Sie wiesen ihr Bücher über alles Mögliche zu, angefangen mit der Biologie, die sie sowieso interessierte, dann folgten Literatur, Kunst, Architektur, Wirtschaft. Jeden Monat gab es ein anderes Thema, über das dann bei der Arbeit gründlich diskutiert wurde. Fernsehen war nicht angesagt unter diesen Menschen, Lesen dafür umso mehr.

 

In jenem Jahr fiel die Mauer, aber Sila nahm kaum wahr, was das bedeutete. Sie hatte genug mit sich selbst zu tun. Bei aller Lockerheit im Umgang war Devin doch ein strenger Lehrmeister. Er liebte sein Handwerk, und wer bei ihm lernte, der lernte gründlich. Sila war es recht. Jeder Handgriff machte ihr Freude. Das Arbeiten mit Holz, mit Säge, Hammer und Feile gab ihr Halt, ebenso wie die Gemeinschaft mit allen. Für Sila fielen ganz andere Mauern. Sie fühlte sich zum ersten Mal sicher, und sie wollte hier nie wieder fort.