1
April
Ihre Rippen schmerzten heftig. Blut tropfte aus ihrer Nase und von ihren Lippen. Durch das zugeschwollene rechte Auge konnte Amy Tarcher vage das Tor zur Wildflower Ranch erkennen, die ihrer besten Freundin gehörte. Amy stolperte durch das Tor hindurch und lief weiter. Der Kies der Einfahrt knirschte unter ihren Flip-Flops – bei ihrer überstürzten Flucht aus dem Haus hatte sie sich einfach die erstbesten Schuhe geschnappt, die sie finden konnte.
Amys winziges Haus lag ein gutes Stück entfernt von Olivias weitläufiger Ranch. Was bedeutete, dass sie es irgendwie geschafft hatte, drei Meilen zu laufen, um hierherzukommen. Das Auto zu nehmen war unmöglich gewesen. Bevor ihr Ehemann ausgerastet war und sie grün und blau geschlagen hatte, hatte er ihre Reifen aufgeschlitzt, ihr Handy zertreten und ihre Fotoausrüstung mit einem Hammer bearbeitet. Das hatte fast mehr weh getan als die Prügel, die er ihr verpasst hatte.
Doch das Ende ihrer Flucht war nahe. Am liebsten hätte sie sich hier und jetzt fallen gelassen, doch Amy zwang ihre Beine, sich weiterzubewegen. Langsam schlurfte sie die Einfahrt entlang. Sie blinzelte ins helle Sonnenlicht, um das dreistöckige Gebäude vor sich zu betrachten, dann ließ sie den verschwommenen Blick über den Rest des Grundstücks gleiten. Jetzt, zur Mittagszeit, hielt sich wahrscheinlich niemand außer vielleicht Olivias Tante Mae im Haupthaus auf. Als Amy näher kam, bog sie nach rechts ab und konzentrierte sich auf die Scheunen. Drei von ihnen, nebeneinander.
Ihre Rettung.
Feuchtes Gras raschelte unter ihren Sohlen, und Pappeln wiegten sich in einer leichten Brise. Der Duft von Heu und Erde erfüllte die Luft, so vertraut, dass sie am liebsten geweint hätte. Der Frühling hatte die Temperaturen steigen lassen; trotzdem war ihr kalt. Wahrscheinlich würde ihr nie wieder warm werden.
Die Schmerzen waren schrecklich, aber – das sagte sich Amy immer wieder – jetzt war es endlich vorbei. Sie war damit durch. Sobald sie dazu fähig war, würde sie die Scheidung von Chris einreichen und ihren Nachnamen wieder zu Woods ändern. Verzweiflung und Scham erfüllten sie, bis ihr Körper davon zu pulsieren schien. Aber das war ja nichts Neues. Allerdings würde sie diesmal etwas dagegen unternehmen.
Endlich. Sie hatte es geschafft.
Am Rande des Zusammenbruchs, mit protestierenden Muskeln, lehnte sie sich an den Türrahmen der ersten Scheune. Erleichterung flackerte in ihr auf. Das vordere und hintere Tor standen offen, sodass Sonnenlicht den Gang zwischen den Pferdeboxen auf beiden Seiten erhellte. Ihre beste Freundin Olivia stand am anderen Ende der Scheune, ein Klemmbrett in der Hand. Olivias kastanienrotes Haar war zum Pferdeschwanz gebunden, und ihr schlanker Körper steckte in Jeans und einem eng anliegenden Flanellhemd. Amy hatte noch nie in ihrem jämmerlichen Leben etwas so Wunderbares gesehen.
«Liv?» Sie räusperte sich und versuchte es noch mal. «Liv, ich brauche Hilfe.» Ihr Gesicht musste schlimmer zerschlagen sein, als sie gedacht hatte, weil ihre Worte sehr undeutlich klangen.
Olivia riss den Kopf herum. «Oh … oh mein Gott. Amy? Was ist passiert?» Das Klemmbrett fiel klappernd zu Boden.
Amy stolperte vorwärts. Sie trafen sich in der Mitte, dann sank Amy mit einem schmerzerfüllten Seufzen zu Boden. Ihre Rippen protestierten heftig gegen die Bewegung. «Chris …»
Olivia ließ sich sofort neben ihr nieder. Sanft zog sie Amys Kopf auf den Schoß und strich ihr das verklebte Haar aus dem Gesicht. «Oh Gott, Amy, sag mir, was passiert ist.»
Die tröstende Berührung sorgte dafür, dass Amy die Augen schloss. «Bin … ein wenig … lädiert.»
«Hat … hat Chris dir das angetan?»
Sie nickte, unfähig, mehr zu tun.
«Warum hast du mich nicht angerufen?», fragte Olivia. Es gelang ihr nur mühsam, ihre Stimme ruhig zu halten. Das hörte Amy sogar in ihrem jetzigen Zustand.
«Konnte nicht. Er hat … das Handy … zerstört. Und mein Auto.»
«Scheiße, Amy. Du bist hergelaufen?»
Doch Amy war zu schmerzerfüllt und erschöpft, um noch einmal zu nicken. Stattdessen fiel sie in Ohnmacht.
Als sie wieder zu Bewusstsein kam, lag sie noch immer mit dem Kopf auf Olivias Schoß. Ihre Freundin hielt ein Walkie-Talkie in der Hand. «Ich habe Tante Mae gesagt, sie soll Hank anrufen. Und Rip.» Der Sheriff. Gute Idee. «Es wird alles gut, Amy, wir helfen dir.»
Dann hob Olivia das Funkgerät ans Ohr «Nakos?» Ihre Stimme durchschnitt förmlich die Luft in der stillen Scheune. «Ich brauche dich. Sofort.» Sie sah auf Amy herunter und erklärte: «Er ist mit Nate auf der südlichen Weide und repariert Zaunpfähle. Es wird etwas dauern, bis er hier ist.»
Bevor sie mehr sagen konnte, erklang ein lautes Klicken. Amys Herzschlag setzte einen Moment lang aus, als sie das Geräusch erkannte: eine Waffe, die entsichert wurde. Hinter Olivias Kopf erschien ein Lauf aus Metall, der gleich darauf gegen die Schläfe ihrer Freundin gedrückt wurde.
Aus ihrer liegenden Position konnte Amy nur ein Hosenbein sehen, doch der saure Geruch von Bier verriet ihr, dass ihr Ehemann beschlossen hatte, ihr zu folgen.
Chris stolperte um sie herum, bis Amy ihn ganz sehen konnte. «Her mit’em Funkgerät, Miststück.»
Olivias weit aufgerissene blaue Augen wurden noch größer, als sie Chris mit zitternder Hand das Funkgerät reichte. Dann sah sie auf Amy herunter, Entsetzen im Blick.
Chris warf das Gerät auf den Boden, zertrat es und verteilte die Bruchstücke mit einem schnellen Kick in der Scheune. Die Pferde wieherten und schnaubten, sodass zusammen mit Staubpartikeln auch der Duft von Heu und Fell aufstieg.
Gott, das konnte nicht passieren. Das war einfach nicht … möglich. Nicht mal sie konnte so viel Pech haben. Sie hätte versuchen sollen, zum Polizeirevier zu laufen, statt zur Wildflower Ranch zu kommen. Jetzt hatte sie ihre Probleme mit hierhergeschleppt.
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie Maes weißes Haar im Türrahmen hinter Chris. Die ältere Frau erfasste die Situation mit einem Blick, dann verschwand sie eilig wieder, bevor Chris sie entdecken konnte.
Gott sei Dank. Mae konnte alle informieren.
Amy schloss kurz die Augen. Erneut drohte die Dunkelheit nach ihr zu greifen, Punkte tanzten vor ihren Augen. Doch sie musste ihren Ehemann von ihrer Freundin wegbekommen. Er war offensichtlich sturzbetrunken, noch schlimmer als vor ein paar Stunden, daher war unmöglich vorherzusagen, was er tun würde.
«Lass Liv gehen. Sie hat nichts getan. Du bist …» Verdammt, reden tat weh. «Du willst mich, nicht sie.»
Chris schob seinen Hut nach hinten und senkte seine Waffe Richtung Boden. «Das is’ alles deine Schuld, du selbstsüchtige Schlampe. Schau dich an. Absolut nutzlos.»
Die folgende Tirade hatte Amy schon oft gehört. Tausende Male, um genau zu sein. Also blendete sie den Strom der Beleidigungen so gut wie möglich aus.
Chris’ Jogginghose war dreckig, und sein Sweatshirt sah nicht viel besser aus. Sie fragte sich, wo zur Hölle er hingegangen war, nachdem er sie als zerschlagenen Haufen auf dem Boden ihres Hauses zurückgelassen hatte. Er war dünn, eher sehnig als muskulös, und sein ausgezehrtes Gesicht machte nur selten Bekanntschaft mit einem Rasierer. Als sie sich vor drei Jahren getroffen hatten, hatte sie sein Gesicht auf raue Weise anziehend gefunden. Wenn sie sein strähniges braunes Haar und die blutunterlaufenen Augen jetzt betrachtete, hatte sie keine Ahnung mehr, wieso sie ihn je für attraktiv hatte halten können.
Er grinste höhnisch und spuckte auf den Boden. «Ich sollt’ dich bestraf’n. Auf ’ne Art, die du nie vergessen wirst. Aber beim Gedanken, dich zu ficken, faul’n mir die Eier ab. Du has’ die Prügel verdient. Das hätt’ ich schon vor Jahr’n tun soll’n, Fettarsch.»
Amy hätte nicht gedacht, dass sie sich noch mehr schämen könnte, aber nun schoss ihr die Hitze in die Wangen. Sie spürte Olivias Körper unter sich erzittern. Falls ihrer Freundin etwas zustieß, würde sie sich das nie verzeihen. Sie musste Chris von seinem Trip herunterholen, daher bemühte sie sich, die Kraft zu finden, ihm mit vernünftigen Argumenten entgegenzutreten.
Jemand trat in das Scheunentor, die Waffe auf Chris’ Rücken gerichtet. Jeans und ein schwarzes T-Shirt umhüllten einen … Riesen von Mann. Tätowierungen zogen sich über die kräftigen Muskeln an seinen Armen, und er hielt die Waffe, als wäre sie eine natürliche Verlängerung seines Körpers. Soweit sie das unter der Baseballkappe erkennen konnte, schien er seine Haare abrasiert zu haben, doch auf seinem Kinn glänzten hellbraune Bartstoppeln. Sein Blick huschte zu Olivia und über Amy hinweg und saugte sich dann an Chris fest.
Heilige Maria. Das musste Nate Roldan sein. Der Soldat, der vor ein paar Wochen ganz plötzlich vor Olivias Tür gestanden hatte. Er hatte Justins Wenn-du-diese-Zeilen-liest -Brief überbracht, damit Olivia die letzten Worte ihres Bruders lesen konnte. Amy hatte den Kerl bis jetzt nicht getroffen – aber er war in derselben Einheit wie Justin gewesen und hatte offenbar miterlebt, wie der junge Soldat gestorben war. Olivias Beschreibungen waren keineswegs übertrieben gewesen, wie Amy jetzt bemerkte. Der Mann war ein Berg aus Muskeln und Testosteron.
Leise schlich Nate vorwärts, bis er nur noch ein paar Meter entfernt stand.
Hinter ihr erklangen Schritte. «Lass die Waffe fallen, Chris.»
Nakos. Gott sei Dank. Amy hätte diese tiefe Stimme überall erkannt.
Chris zuckte zusammen und presste erneut den Waffenlauf gegen Olivias Stirn. Ihre Freundin schloss wimmernd die Augen. Gleichzeitig rann eine Träne über ihre bleiche Wange.
Nein! Nicht Liv. Panik schnürte Amy die Kehle zu.
Nate hob seinen Revolver ein wenig höher, stützte ihn mit der zweiten Hand ab, sein Blick kühl kalkulierend. «Er hat gesagt, lass die Waffe fallen.»
Chris drehte den Kopf und stolperte zur Seite. «Wer bis’su?»
«Nimm die Waffe runter, oder du wirst das nie herausfinden.»
Nakos’ Stiefel kratzten über den Boden aus festgestampfter Erde, bis er neben Amys Kopf anhielt. Damit hatten die beiden Männer Chris in die Enge getrieben. Nakos hielt ein Gewehr in der Hand, doch er schien Nate die Führung zu überlassen.
«Das is’ ’ne Privatsache.» Chris rammte Olivia die Pistole so heftig gegen die Stirn, dass ihr Kopf nach hinten gerissen wurde.
Sie schnappte nach Luft und sah voller Panik auf Amy hinunter.
Kalter Schweiß bildete sich auf Amys Haut, und ihr Puls raste.
Obwohl er keine Bewegung machte, wirkte Nate, als würde er jeden Moment austicken. «Privatsphäre kannst du in deiner Gefängniszelle haben. Lass die Waffe fallen. Sofort.»
Hätte Olivia nicht so begeistert von dem ehemaligen Soldaten erzählt, hätte sein Tonfall ausgereicht, dass Amy sich vor Furcht zusammenkauerte. Er klang vollkommen kontrolliert. Tödlich. Unerbittlich.
Nakos und Nate wechselten ein paar Worte, die für Amy nach Unsinn klangen. Nach einem kurzen Zögern fragte Nate: «Bist du sicher?»
«Positiv.»
«Wassur Hölle …?» Chris wirbelte herum und löste den Lauf dabei von Olivias Kopf.
Nate nickte einmal, als hätte er genau darauf gewartet. «Olivia, Baby. Beweg dich nicht.»
Ein Schuss zerriss die Luft und sorgte dafür, dass Amy das Herz stehenblieb. Olivia dagegen zuckte heftig zusammen.
Lautes Wiehern erfüllte die Scheune. Hufe stampften auf den Boden.
Eine ganz neue Dimension von Entsetzen erfüllte Amy, als sie den Kopf herumriss, ohne auf den Schmerz zu achten. Sie starrte Nakos an. Wie Olivia war er schon seit der dritten Klasse ihr Freund. Oh Gott sei Dank … er wirkte unverletzt. Und Olivia? Amy drehte erneut den Kopf, dann stieß sie ein Seufzen aus. Auch keine Verletzung zu entdecken.
Und dann verstand Amy endlich, was geschehen war. Nate hatte den Schuss abgefeuert, die Krempe von Chris braunem Cowboyhut getroffen und so dafür gesorgt, dass der Hut zu Boden gesegelt war.
Chris taumelte und ließ die Waffe fallen.
Schnell wie der Blitz trat Nate vor, stopfte seinen Revolver in den Hosenbund und warf Chris mit dem Gesicht voraus in den Staub. Mit einem Knie zwischen den Schulterblättern und einer Hand im Nacken hielt er Chris am Boden fest, während er die Pistole aus seiner Reichweite trat.
Dann riss er den Kopf zu Olivia herum. «Hat er dich verletzt?» Er musterte sie, scannte sie nach Verletzungen ab. Dabei wirkte er so angespannt, als würde er gleich einen Herzinfarkt bekommen.
Olivia schüttelte den Kopf. Tränen rannen über ihre Wangen. Dann senkte sie den Blick auf Amy. «Aber Amy hat er übel zugerichtet.»
Amy öffnete den Mund, um ihre Freundin zu beruhigen, aber Nakos stellte das Gewehr ab und ging neben ihr in die Hocke. Vertraute mitternachtsschwarze Augen glitten besorgt über ihr Gesicht. Seine dunkle Haut wurde bleicher, je länger er sie ansah. Mit gerunzelter Stirn und zusammengebissenen Zähnen streckte er eine zitternde Hand nach ihr aus, zog aber die Finger sofort wieder zurück.
«Du hast schon besser ausgesehen, Ames.» Die Anspannung in seiner Stimme traf sie tief.
Sie versuchte zu lächeln, doch dabei platzte ihre Lippe wieder auf, sodass Blut über ihr Kinn rann.
Panik und Entsetzen überlagerten die Sorge in seinem Blick. «Mae!» Nakos ließ seine Hände über Amys Beine und Arme gleiten. «Glaubst du, es ist etwas gebrochen?»
Amy gab sich Mühe, nicht zusammenzuzucken, schüttelte den Kopf und schloss die Augen. Jeder Atemzug jagte scharfen Schmerz durch ihre Lunge, und eine Seite ihres Gesichts pulsierte. Jetzt, wo sie in Sicherheit war – wo sie wusste, dass es auch ihren Freunden gut ging –, ließ das Adrenalin nach. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie begann zu zittern.
«Hank ist da.» Tante Mae rannte in die Scheune, sah sich kurz um und kniete sich dann neben Nakos. «Rip fährt auch gerade vor. Wir sorgen dafür, dass es dir bald wieder besser geht, Süße.»
Körperlich vielleicht, aber alles andere? Ihr Leben war schon vor dem heutigen Tag ein einziger Scheißhaufen gewesen. Diese Verletzungen würden nicht so leicht heilen wie eine geplatzte Lippe. Sie heilten überhaupt nicht. Doch Amy wusste die Wärme in den Augen der älteren Frau zu schätzen. Mae war immer so nett zu ihr gewesen.
«Lass mich los!» Chris versuchte, sich freizukämpfen, erreichte damit aber überhaupt nichts.
Nate drückte sein Knie fester gegen die Wirbelsäule ihres zukünftigen Exmanns. «Wenn du deine Beine jemals wieder benutzen willst, hältst du jetzt die Klappe.»
Hank betrat die Scheune, eine Arzttasche in der Hand, die aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen musste. Sie war eine hundert Kilo schwere, fünfzig Jahre alte Frau mit schwarzem Haar, das ihr bis zum Hintern reichte.
«Also, jetzt macht mal ein bisschen Platz.» Sie stellte die Tasche ab, öffnete sie und ging vor Amy in die Hocke, um ihr mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen zu leuchten. «Wo hat er dich geschlagen und womit?»
«Mit seinen Fäusten.» Amy kämpfte darum, Luft zu holen, zuckte jedoch sofort schmerzerfüllt zusammen. «Hat mich in die Seite getreten. Und ins Gesicht geboxt.»
Neben ihr versteifte sich Nakos und stieß ein tiefes Knurren aus.
«Nichts an Rücken oder Hals? Bist du irgendwann gestürzt?»
«Nein.» Amy schloss die Augen, zu müde, um sie weiter offen zu halten. Schwindel drohte, sie zu überwältigen, und ihr Magen verkrampfte sich.
«Sie braucht einen Krankenwagen.» Nates Stimme klang nicht so emotional wie die von Nakos, doch der scharfe Befehl zeigte trotzdem deutlich seine Besorgnis. Der arme Kerl wusste nicht, wie isoliert diese Gegend war. Man kam nur in die Notaufnahme, wenn Glieder abgetrennt wurden oder kein Puls mehr spürbar war.
«Das nächstgelegene Krankenhaus ist in Caspar. Wir kommen schon klar.» Hank seufzte. «Olivia, hättest du ein Zimmer für sie? Ich muss sie genauer untersuchen.»
«Ja. Wir können sie im freien Gästezimmer unterbringen.»
«In Ordnung.» Hank stand auf. «Nakos?»
«Ja. Ich habe sie.» Nakos lächelte leicht, als wolle er sie beruhigen. Vorsichtig schob er einen Arm unter ihre Knie, den anderen unter ihren Rücken, dann hob er sie hoch und drückte sie so sanft an sich, als bestünde sie aus Glas.
Trotzdem zuckte sie vor Schmerzen zusammen.
Nakos erstarrte. «Tut mir leid. Ich werde mich langsam bewegen.»
Gott, er war so ein anständiger Kerl. Gefühle schnürten Amy die Kehle zu, und sie ließ ihren Kopf gegen seine harte Brust sinken. Sein Flanellhemd war warm und roch nach ihm, erdig und sonnenwarm.
Rip watschelte in die Scheune, wobei er das Bein schonte, das im Golfkrieg verletzt worden war. Sein Fu-Manchu-Bart und die braune Uniform passten irgendwie nicht zusammen. Er fuhr sich mit der Hand über sein schütter werdendes braunes Haar. «Die Verzögerung tut mir leid. Die Hendersons dachten, es wäre eine gute Idee, ihren Minivan in den Graben der Garrisons zu fahren und dabei auch gleich den Briefkasten zu erledigen.» Er sah von Nate über Chris zu Amy in Nakos’ Armen, bevor sein Blick auf Olivia landete. «Sieht aus, als hättet ihr alles im Griff.»
«Ich bringe Amy ins Haus», verkündete Nakos. Amy schmiegte sich an seine Brust, als er die Scheune verließ, Mae und Hank auf den Fersen.
Sie nahm nur verschwommen wahr, wie sie über den Kiesweg ins Haus getragen wurde, dann stieg Nakos Treppen hinauf, bevor weiche Kissen ihren Rücken stützten und das sichere, schwebende Gefühl verschwand. Die festen, tröstenden Arme, die sie gehalten hatten, wurden zurückgezogen.
Plötzlich – und ohne dass sie etwas dagegen tun konnte – überwältigten sie die Ereignisse des Tages. Ihr Magen verkrampfte sich, als die Erinnerungen auf sie einströmten: die Faust, die ihre Wange traf, und das knackende Geräusch, das gefolgt war. Ein weiterer Schlag auf ihren Mund und der metallische Geschmack von Blut auf ihrer Zunge. Ein Stiefel in die Rippen, der ihr jede Luft aus dem Körper getrieben hatte. Die Schreie. Der säuerliche Gestank nach Alkohol.
Angst und Entsetzen schnürten ihr die Kehle zu, raubten ihr den Atem. Zitternd riss sie die Augen auf und griff nach Nakos’ Ärmel. «Lass mich nicht allein … Bitte, Nakos. Lass mich bitte nicht allein.»
«Hey, es ist in Ordnung.» Er setzte sich neben sie auf die Matratze.
Ein Schluchzen entrang sich ihrer Brust. Wenn sie wieder bei klarem Verstand war, würde sie sich dafür hassen. Aber sie … brauchte ihn einfach. Aus irgendeinem Grund brauchte sie nur ihn. Den stoischen, manchmal grüblerischen Kerl, der sich vor einen heranrasenden Zug werfen würde, wenn er damit sie und Olivia schützen könnte. Den scheuen Jungen, der zu einem Mann herangewachsen und ihr so vertraut war wie der Schlag ihres Herzens.
Er drehte kurz den Kopf zu den beiden Frauen, die ihnen in den Raum gefolgt waren. «Gebt uns einen Moment.» Als die Tür sich hinter Tante Mae und Doc Hank geschlossen hatte, richtete er seinen Blick wieder auf Amy. «Shhh. Ich bin bei dir. Du bist in Sicherheit.» Er beugte sich über sie und drückte seine warmen Lippen auf ihre Stirn, ohne sie irgendwo anders zu berühren. «Shhh», flüsterte er.
Amy schluchzte nur lauter. Ihre Rippen taten jetzt richtig weh, und ihre Tränen brannten in den Platzwunden auf ihrem Gesicht.
Die Lippen immer noch an ihrer Stirn, streichelte Nakos mit zitternden Fingern über ihre Schläfen und ihr Haar. «Lass los. Wir sind allein. Lass einfach los.»
Und das reichte aus, um die schreckliche Angst verschwinden zu lassen. Seine tröstende Stimme, seine sanfte Berührung, sein Duft, der sie umgab.
Sie atmete tief durch und bekam sich wieder unter Kontrolle. «Es tut mir leid.»
«Hihcebe , Ames. Entschuldige dich nicht.» Er hob den Kopf. Seine Augen waren zwar trocken, doch gleichzeitig gerötet, als hätte er selbst mit den Tränen gekämpft. Er nahm seinen schwarzen Stetson ab, sodass sie sein schulterlanges schwarzes Haar sehen konnte, das er zum Pferdeschwanz gebunden trug. Nachdem er den Hut beiseitegelegt hatte, rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. «Du hast mich gerade zehn Jahre meines Lebens gekostet.»
«Es geht schon wieder», flüsterte sie, um ihn zu beruhigen.
Er schüttelte ungläubig den Kopf, dann warf er ihr einen Blick zu, in dem Wut und Sorge miteinander kämpften. «Hat er …» Er stieß ein gequältes Stöhnen aus. «Hat er … dir noch etwas anderes angetan? Dich auf andere Weise verletzt?»
Oh Gott. «Nein. Er hat nur seine Fäuste benutzt.» Als wäre das okay. Aber Nakos befürchtete offensichtlich, dass ihr Mistkerl von einem Ehemann sie zudem noch vergewaltigt hatte. Was Gott sei Dank nicht der Fall war. «Wirklich.»
Er nickte so entschieden, dass sie fast fürchtete, sein Kopf könnte von seinen Schultern rollen. Dann legte er seine Stirn an ihre und schloss die Augen. «Was ist passiert? Bitte, sag es mir.»
Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass sie ihm alles erzählen sollte, damit sein Hirn die Lücken nicht selbst füllte. Das zumindest konnte sie tun. «Wir haben über Geld gestritten. Er wollte meine Kamera-Ausrüstung verkaufen, um die Rechnungen zu bezahlen, aber ich habe mich geweigert. Er ist … vollkommen ausgetickt. Ich bin hierhergelaufen, und es geht mir gut. Alles ist gut.»
Himmel, was für eine talentierte Lügnerin sie inzwischen war.
Nakos richtete sich auf, dann ließ er einen etwas ruhigeren Blick über ihren Körper gleiten. Er sah kurz zur Tür, bevor er sich ihr wieder zuwandte. «Ist das die Wahrheit?»
«Ja.» Bis auf den Teil, dass es ihr gut ging.
«Wie lange hat er dir das schon angetan?» An seinem Kinn zuckte ein Muskel. «Ich kann mich nicht erinnern, vor heute schon einmal blaue Flecken an dir gesehen zu haben.»
«War das erste Mal.» Sie mochte ein Ladenhüter sein, deren Zukunft grau und langweilig aussah, aber Misshandlungen hätte sie sich nicht gefallen lassen. «Ehrlich. Es war das erste Mal.»
Wieder ein Nicken und ein erneuter Blick zur Tür.
Und plötzlich wurde ihr etwas klar. Schmerzhaft klar. Nakos war seit ihrer Teenager-Zeit in Olivia verliebt. Amy war nicht die Einzige, die Chris mit der Waffe bedroht hatte. Daher musste Nakos sich schreckliche Sorgen um Olivia machen. Wahrscheinlich schrie alles in ihm danach, zu ihr zu gehen.
Obwohl ihre Schultern enttäuscht nach unten sackten und eine schreckliche Leere in ihr aufstieg, tat Amy, was sie immer getan hatte – sie akzeptierte die Realität und ignorierte die Einsamkeit. «Geh nur. Mir geht es gut. Danke für deine Hilfe.»
Sie würde nicht wieder weinen. Auf gar keinen Fall.
«Bist du dir sicher?» Er musterte sie einen Moment. «Doc Hank sollte dich wirklich untersuchen.»
«Ich bin mir sicher. Geh.»
Und natürlich tat er das.