Amy versuchte, das unangenehme Schweigen ihrer Tischgenossen zu ignorieren. Stattdessen beobachtete sie, wie ihre beste Freundin und Nate den ersten Tanz als Ehepaar in der Mitte der großen Scheune tanzten. Die beiden zusammen zu sehen, wirkte so süß, so perfekt, so richtig
, dass es Amy fast die Zehennägel aufrollte. Wäre sie nicht so verdammt glücklich für die beiden, hätte sie sich wahrscheinlich übergeben.
Sehnsucht durchfuhr sie. Niemand hatte sie je so angesehen, wie Nate Olivia ansah. Als wäre sie sein Ein und Alles und es gäbe für ihn niemand anderen auf der Welt. Nach dreißig Jahren als das Mädchen, über das die Männer hinwegsahen, um ihre Freundin anzustarren, sollte Amy das Leben im Schatten inzwischen eigentlich gewohnt sein. Doch so, wie sich ihr Magen verkrampfte, war das anscheinend nicht der Fall.
Da diese Scheune vor allem als Arbeitsfläche diente – zum Beispiel wurden hier auch die Schafe geschoren –, gab es keine Boxen in dem dreißig mal dreißig Meter großen Raum. Alle Maschinen und sonstige Einrichtung waren entfernt worden. Amys Bruder Kyle stand in der gegenüberliegenden Ecke und bediente statt eines DJ
s die Anlage. Ungefähr zehn runde Tische mit weißen Tischtüchern und Kerzen waren entlang der Wände aufgestellt worden. Sowohl das vordere als auch das hintere Tor standen offen, sodass die kühle Brise durch den Innenraum wehen konnte. Lichterketten hingen von den
Deckenbalken wie Sternenregen und erzeugten zusammen mit dem Mondlicht, das durch die Deckenfenster fiel, eine verträumte Atmosphäre.
Etwas in dieser Art hätte sie sich auch für ihre eigene Hochzeit gewünscht. Einfach, hübsch. Rustikal-schick. Stattdessen hatte sie nach einer stürmischen Romanze von gerade mal drei Monaten eine fünfminütige Zeremonie im Rathaus bekommen, gefolgt von Essen zum Mitnehmen aus der Bar im Ort.
Andererseits war es ja auch nicht so, als hätte ihr je jemand große Bedeutung beigemessen.
Nakos’ Vater drehte sich auf seinem Stuhl zu ihr um. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. «Unser Sohn sagt, alles läuft gut im Haupthaus. Dass du dich einlebst und Mae beim Kochen hilfst.» Er sprach in einem tiefen, angenehmen Bariton. Zusammen mit seinem ledrigen Gesicht, der dunklen Haut und den mitternachtsschwarzen Augen hätte er beängstigend oder unnahbar wirken können. Aber er hatte die sanfteste Seele, die Amy je erlebt hatte.
«Olivia war sehr nett zu mir.» Nach dem Martyrium mit ihrem Exehemann hatte Amy keine andere Wahl gehabt, als bei ihrer Freundin einzuziehen. Sie war mittellos zurückgeblieben, nachdem er wegen Körperverletzung und Kidnapping verurteilt worden war. Ihr Haus war an die Bank gefallen. Hätte Olivia sie nicht aufgenommen und ihr Arbeit gegeben, wäre sie geliefert gewesen. «Ich koche gerne.» Es war entspannend, und außerdem fühlte es sich gut an, sich nützlich zu machen.
Amys Vater, der an der anderen Seite des Tischs saß, wirkte vollkommen desinteressiert, während ihre Mutter abfällig schnaubte.
Jep. Diese Missbilligung war nichts Neues. Nach Meinung ihrer
Eltern sollte Amy zu Hause sein, um für ihren Ehemann zu kochen und das perfekte Bild einer ergebenen Ehefrau abzugeben. Doch stattdessen hatte sie sie mit einer Scheidung beschämt, das heilige Sakrament der Ehe beschmutzt und lebte nun angeblich in Sünde mit ihrer besten Freundin.
Nakos, der neben ihr saß, zwinkerte ihr aufmunternd zu, ohne ihre Eltern zu beachten. «Ames macht den besten Hackbraten auf dieser Seite des Platte River.»
Es war lieb von ihm, das zu sagen.
Seine Mutter nickte. «Amys Suppe, die du letzten Monat ins Reservat mitgebracht hast, als ich die Grippe hatte, war köstlich.»
Das kommentierte ihre eigene Mutter nur mit einem weiteren Schnauben.
Die Hunts starrten unangenehm berührt auf den Tisch.
Amy schämte sich für das schlechte Benehmen ihrer Eltern. Sie waren fromme Protestanten und so engstirnig, wie man nur sein konnte. Allein aufgrund ihrer Hautfarbe betrachteten sie die Hunts nicht als ebenbürtig. Warum zum Teufel sie sich entschlossen hatten, sich an diesen Tisch zu setzen, war Amy vollkommen schleierhaft. Eigentlich fragte sie sich sogar, wieso ihre Eltern überhaupt gekommen waren.
Ach, natürlich. Sie liebten Olivia, die Tochter, die sie sich immer gewünscht hatten.
Amy suchte verzweifelt nach etwas, womit sie das Schweigen füllen konnte. «Danke für das Kompliment. Ich will mir allerdings möglichst schnell eine andere Unterkunft suchen. Natürlich helfe ich Mae weiter in der Küche.» Sie hatte gar keine andere Wahl. Meadowlark war eine Kleinstadt mit wenigen Jobangeboten, und ihre
Eltern weigerten sich, sie in ihrer Eisenwarenhandlung arbeiten zu lassen.
Nakos’ Blick bohrte ihr quasi Löcher ins Gesicht, aber sie ignorierte ihn. Sie wusste seine Sorge zwar zu schätzen, doch gleichzeitig verstärkte das nur ihre Schuldgefühle. Hätten er und Nate nicht verhindert, dass Chris’ Überfall sich zu etwas Schlimmerem entwickelte, würde sie wahrscheinlich gar nicht hier sitzen.
«Aber warum? Olivia hat dich doch sicher nicht gebeten, das Haus zu verlassen.» Mrs. Hunt lehnte sich vor, Besorgnis in ihren braunen Augen. «Ihr beide seid schon seit eurer Kindheit befreundet.»
«Nein, hat sie nicht.» Stattdessen hatte ihre Freundin das Angebot, weiter bei ihr zu wohnen, immer wieder erneuert. Olivia hätte Amy ihr letztes Hemd geschenkt, und andersherum galt dasselbe. «Aber sie ist jetzt verheiratet. Die beiden brauchen Zeit für sich. Ich werde heute Nacht in Kyles Zimmer übernachten, um ihnen ein wenig Privatsphäre zu geben.» Olivias zehn Farmarbeiter, zu denen Amys Bruder gehörte, lebten in zwei Blockhäusern, die ein Stück entfernt vom Hauptgebäude standen. «Ich werde mir etwas Dauerhafteres einfallen lassen, sobald die beiden von ihrer Hochzeitsreise zurück sind.» Irgendeine Lösung würde sich schon finden.
Ihr Dad versteifte sich. «Was meinst du damit, dass du bei Kyle schläfst?»
«Als hättest du uns nicht schon genug Schande bereitet. Jetzt willst du auch noch deinen Bruder in die Angelegenheit verwickeln?» Ihre Mutter schüttelte den Kopf, die dünnen Lippen missbilligend verzogen. «In einem Haus mit all diesen Männern schlafen.» Sie sprach das Wort Hure
nicht aus, aber es klang deutlich in ihrem Tonfall mit.
Nakos atmete tief ein. Seine Nasenflügel blähten sich, und die Hände auf dem Tisch ballten sich zu Fäusten. «Wenn Sie sich solche Sorgen um Amy machen, sollten Sie Ihrer Tochter vielleicht einen Ort bieten, an dem sie bleiben kann, statt sie zu beleidigen.» Seine tiefe Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, doch gleichzeitig hart wie Stahl und fast schneidend.
Vollkommen schockiert starrte Amy ihn an, während er und ihre Eltern sich ein Blickduell lieferten.
Nakos war kein Mann großer Worte. Gewöhnlich redete er nur, wenn es absolut nötig war. Ja, sie waren gute Freunde, und ja, er hatte sie schon früher verteidigt. Doch in diesem Fall wusste er es besser. Er würde ihre engstirnigen Eltern nicht ändern, indem er sie daran erinnerte, dass ihr Blut durch Amys Adern floss. Das hatte nie eine Rolle gespielt. Nicht, als sie ein Kind gewesen war, und sicherlich nicht jetzt.
Vor ein paar Jahren noch wäre sie die Erste gewesen, die aufgesprungen wäre und ihre Meinung kundgetan hätte. Doch ihre Ich-komme-mit-allem-klar-Sag-mir-wem-ich-in-den-Hintern-treten-muss
-Einstellung war an dem Tag verschwunden, als sie vor den Altar getreten war. Und diese Attitüde würde auch nicht zurückkommen. Das war der Tag gewesen, an dem ihre selbstbewusste Fassade eingestürzt war; der Tag, an dem die Hoffnung begonnen hatte, langsam zu ersticken. Bis dahin hatte sie es ziemlich gut geschafft, Selbstbewusstsein vorzuspielen. Doch das uralte Mantra, dass echtes Selbstbewusstsein folgen würde, wenn man sich nur lang genug selbstbewusst gab, hatte sich irgendwie
nicht bewahrheitet.
«Nach dem, was sie getan hat, werde ich ihr nicht erlauben, auch nur einen Fuß in unser Haus zu setzen.» Dad schüttelte entschieden den Kopf.
Amys erstes Verbrechen hatte darin bestanden, nicht in der Kirche zu heiraten. Aber sie hatte sich nur eine Eheschließung im Rathaus leisten können. Das zweite Verbrechen war ihre Scheidung. Doch schon vor diesen beiden Vorfällen war Amy eine Ausgestoßene in ihrer Familie gewesen. Aber der Grund dafür war eine Erinnerung, die sie begraben hatte und auch nie wieder hervorholen würde.
Nicht zum ersten Mal musterte Amy ihre Eltern und fragte sich, ob die beiden sie je geliebt hatten. Sie hatte das dunkle Haar und das schmale Gesicht von ihrem Vater geerbt, während ihre Augen denen ihrer Mom ähnelten, auch wenn sie etwas intensiver leuchteten. Die kurvige Figur kam ebenfalls von ihrer Mutter. Ihre beiden Eltern richteten den Blick auf sie, als wäre Nakos keine Antwort wert. Und das stellte es endgültig klar: Das Einzige, was sie mit diesen Leuten gemeinsam hatte, waren äußerliche Ähnlichkeiten.
Dad rümpfte die Nase. «Du hast deine Fehler gemacht. Jetzt lebe damit.»
Genau. Sie hatte darum gebeten, dass ihr Ehemann aufhörte, die Hypothekenraten zu zahlen und Tausende Dollar an Kreditkartenschulden anhäufte. Sie hatte darum gebeten, dass er sie zu Brei schlug, um ihr dann den Lauf einer Pistole vors Gesicht zu halten. Und sie hatte ihn darum gebeten, die einzige Sache zu zerstören, die ihr irgendein Vergnügen bereitet hatte – ihre Foto-Ausrüstung. Es war nur ein dummes Hobby. Trotzdem hatte sie zwei Jahre lang jeden erdenklichen Job angenommen und das Geld
gespart, um sich die Kamera zu kaufen. Ein Schlag mit Chris’ Hammer hatte den Apparat – und sie – vernichtet.
Nakos erhob sich so schnell, dass sein Stuhl umfiel. «Tanz mit mir, Ames.» Keine Frage. Ein Befehl. Der ihm gar nicht ähnlich sah. Sein Blick richtete sie auf sie. Bittend. Wortlos flehte er sie an, ihn von diesem Tisch wegzubringen, weil er sonst nicht dafür garantieren konnte, was als Nächstes geschah.
Sie sah sich um und stellte fest, dass der erste Tanz vorbei war und sich inzwischen auch andere Paare auf der Tanzfläche tummelten. Als sie erneut Nakos anschaute, blieb ihr Blick an den langen Wimpern hängen, die die schwarzen Augen umrahmten. Diese Wimpern waren das Einzige, was seine finstere Intensität ein wenig dämpfte und seine Züge ein wenig weicher machten.
«Bitte.» Er streckte ihr die Hand entgegen und senkte seine Stimme zu einem Flüstern. «Ich werde tanzen. Und zwar mit einer wundervollen Partnerin.»
Ernsthaft? Ein Dirty-Dancing
-Zitat? Dieser Mann war einfach unglaublich. Was sich schon allein an der Tatsache zeigte, dass er sich an den Satz erinnerte. Denn bisher hatte er stets protestiert, wenn Olivia und sie mal wieder darauf bestanden hatten, den Film anzuschauen.
Amy lachte, warf ihren Eltern ein kurzes, entschuldigendes Lächeln zu, weil sie sie am Tisch zurückließ, und ergriff Nakos’ Hand.
Er führte sie zu der freien Fläche in der Mitte der Scheune und zog sie an sich. Nah genug, um seine Hitze zu spüren und seinen erdigen Duft in sich aufzunehmen, aber nicht so eng, dass ihre Oberkörper sich berührt hätten. Eine warme Handfläche fand ihr Kreuz, während er mit der anderen ihre Finger umschloss.
Plötzlich nervös, folgte sie seiner Führung zu den Klängen der langsamen Ballade, die aus den Lautsprechern drang. Nach der Trauung hatte er seine Hemdärmel bis über die Ellbogen aufgerollt, sodass seine sehnigen Unterarme sichtbar waren. Auch die ersten zwei Knöpfe am Kragen hatte er geöffnet. Außerdem hatte er sein langes, seidiges Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und sich den schwarzen Stetson wieder aufgesetzt, ohne den er eigentlich nie zu sehen war.
«Ich schwöre, Ames, hätten diese beiden Idioten nicht dich hervorgebracht, würde ich sie noch mehr hassen.»
Sie lachte atemlos. Ihre bornierten Eltern waren wirklich schrecklich, aber sie hatte schon vor langem gelernt, nicht auf sie zu achten. «Ignorier sie einfach. Sie sind den Frust nicht wert.»
«Sie haben dich verletzt, und das ohne jeden Grund.»
Ihre Eltern verletzten Amy schon ihr gesamtes Leben lang. Sie hatte sich daran gewöhnt. «Mir geht es gut.»
Sie bemühte sich, gleichmäßig zu atmen, während sie sich im Takt der Musik wiegten. Amy starrte Nakos’ Kehle an, den dunklen Bronzeton der Haut, das markante Kinn. Er war so ein gutaussehender Mann. Nicht so muskelbepackt wie Nate, aber trotzdem groß und schlank, mit einem durchtrainierten Körper. Lässig. Geschmeidig. Hohe Wangenknochen und ein ausdrucksstarkes Kinn. Breite Schulter und schmale Hüften.
Sie hatte immer ein wenig für ihn geschwärmt. Mit der Zeit hatte sich das gegeben, aber der Tanz sorgte trotzdem dafür, dass sie sich seiner Nähe unglaublich bewusst war. Was heute genauso dämlich war wie damals. Er hatte immer nur Augen für Olivia gehabt. «Wir haben seit unserem Abschlussball nicht mehr getanzt.»
Nakos war im Reservat in die Schule gegangen, aber zu Schulbällen und Tanzveranstaltungen hatten Olivia und sie ihn immer gebeten mitzukommen. Er war Amys Date für den Abschlussball gewesen. Sie hatte lächerlicherweise darauf gehofft, mit ihm auszugehen, würde dafür sorgen, dass er sie endlich als Frau wahrnahm. Sie hatte Stunden damit verbracht, das richtige Kleid und die richtigen Schuhe auszuwählen und sich zu schminken.
Er war mit dem gewohnt freundlichen Lächeln vor ihrer Tür aufgetaucht, ohne irgendein Aufflackern von Interesse in seinen Augen.
«Ist das wirklich so lange her?» Er sah auf sie hinunter, sein Blick zärtlich. «Nur für den Fall, dass ich es noch nicht gesagt habe: Du siehst heute Abend wirklich sehr schön aus.»
«Danke.» Wenn er das Kompliment ernst gemeint hätte, statt einfach nur höflich zu sein, hätte sie sich gefreut. Sie sah über seine Schulter, um seinem Blick nicht begegnen zu müssen, und versuchte sich an einem Lächeln, auch wenn sie vermutete, dass es eher unecht wirkte. «Und du bist so halb ordentlich angezogen auch ziemlich attraktiv.»
Er lachte rau, dieses Lachen, das er für spezielle Momente reservierte. «Ich bin nur dankbar, dass ich keine Krawatte tragen musste. Bei besagtem Abschlussball hast du mich dazu gezwungen.»
«Das ist zwölf Jahre her, und du bist immer noch nicht darüber hinweg.» Sie seufzte. «Gib es doch zu. Schick steht dir.»
Er brummte, dann drehte er sie in einer schwungvollen Tanzbewegung von sich weg und zog sie im nächsten Moment wieder an sich. «Wenn ich mit dir und Olivia aufgetaucht bin, hat niemand darauf geachtet, was ich getragen habe.» Er zwinkerte ihr zu.
«Damals bei dem Ball sahst du süß aus. Aber inzwischen bist du wirklich zu einer besonderen Frau geworden.»
Verflixt. Genau solche Sätze waren dafür verantwortlich, dass es ihr so schwerfiel, ihre närrischen Kleinmädchenphantasien hinter sich zu lassen. «Dito.» Sie ließ ihre Hand von seiner Schulter zu seinem Bizeps gleiten, der die Baumwolle des Hemds dehnte, und drückte zu. «Wann hast du solche Muckis bekommen?»
Sein Mund öffnete und schloss sich, doch es drangen keine Laute heraus. Stattdessen runzelte er verwirrt die Stirn.
«Im Ernst: Reitest du die Pferde und trägst sie dann noch ein wenig durch die Gegend, um zu trainieren?» Denn … verdammt!
Er schüttelte den Kopf und blieb stehen. «Ziehst du mich auf? Bei dir bin ich mir nie sicher. Dieses Interesse – ist das echt?»
«Wieso sollte ich dich nicht interessiert mustern? Du bist ein äußerst attraktiver Mann.»
Er erstarrte noch mehr, soweit das überhaupt möglich war. Tick, tick, tick zuckte der Muskel an seinem Kiefer im Takt ihres Pulsschlags. Er starrte sie aus diesen unergründlichen, dunklen Augen an, als hätte er sie noch nie gesehen. Und er schien das Atmen eingestellt zu haben.
Hatte sie dafür gesorgt, dass er sich unwohl fühlte? Es war ja nicht so, als hätte sie ihn richtig angebaggert. Sie hatte einfach nur Fakten festgestellt. Andererseits hätte Nakos es sowieso nicht bemerkt, wenn sie mit ihm flirtete. In all den Jahren ihrer Freundschaft hatte er sie kein einziges Mal als Frau wahrgenommen. Sie hätte sich nackt ausziehen und sich einen Pfeil in Richtung ihrer Intimteile auf den Bauch malen können. Und selbst das hätte ihn wahrscheinlich nicht mal zum Blinzeln gebracht.
Und da lag vermutlich das Problem. Ihr Interesse, so harmlos es auch sein mochte, war nicht erwünscht. Natürlich war Nakos erschüttert, vielleicht sogar angewidert von ihren Kommentaren. Es war ihm heute wahrscheinlich sehr schwergefallen, Olivia dabei zuzusehen, wie sie einen anderen Mann heiratete. Bei dieser Erkenntnis spürte Amy einen stechenden Schmerz im Herzen, und Bedauern schnürte ihr die Kehle zu. Hatte sie in den letzten Jahren ihre Lektion denn noch immer nicht gelernt? Sie war nicht die Prinzessin in einem Märchenbuch. Ganz im Gegenteil: Sie war schon kaputt gewesen, lange bevor Chris auf der Bildfläche erschienen war.
Das Letzte, wirklich das Allerletzte, was sie jetzt brauchen konnte, war ein Zerwürfnis mit Nakos. Amy stieß langsam den Atem aus. «Sorry. Vergiss, dass ich etwas gesagt habe.»
Nakos bewegte sich nicht. Keinen Millimeter. Tatsächlich schien er sich noch mehr zu verspannen. Schwarze Augen musterten sie intensiv, doch seine Miene verriet nichts. Manchmal konnte er wirklich stoisch und mysteriös wirken. Wenn Nakos Hunt seine Gedanken nicht preisgeben wollte, hätte selbst ein Angriff mit Napalm nichts an seiner ausdruckslosen Miene geändert.
Eine Ewigkeit später wandte er den Blick ab und zog sie erneut in seine Arme, um weiterzutanzen. Einfach so. Als hätten die letzten paar Minuten gar nicht stattgefunden. Er schwieg eine Weile, dann packte er ihre Finger fester, und die Hand an ihrem Kreuz zuckte leicht. Nachdem er in Gedanken versunken schien, war ihm das vielleicht gar nicht bewusst.
Unfähig, das Schweigen länger zu ertragen, biss Amy sich auf die Unterlippe. «Ich bin mir sicher, das war kein einfacher Tag für dich. Wenn du reden willst, bin ich da.» Das konnten sie gut. Reden. Das
war das eine, was Olivia ihm anscheinend nicht bieten konnte, aber sie schon. Zumindest führte er mit Olivia nicht diese Art von ernsthaften Gesprächen. Aus irgendeinem Grund war er Amy gegenüber offener, ehrlicher, und daran klammerte sie sich fest.
Er stöhnte. «Nicht du auch noch, Ames. Lass einem Mann seinen Stolz, ja?»
Sie blinzelte zu ihm auf. «Schäme dich niemals dafür, dass du jemanden liebst, egal, ob dieser Mensch deine Gefühle erwidert oder nicht.» Er würde wahrscheinlich nicht verstehen, wie kostbar ein Mann war, der zu seinen Gefühlen stand und nicht versuchte, sie zu verstecken. «Ich weiß, das hier ist nicht das Ende, auf das du gehofft hattest.»
Seine Miene wurde weicher, als er ihr in die Augen sah. «Nein, ist es nicht. Aber ich habe die Vorstellung von Olivia und mir als Paar schon vor langer Zeit aufgegeben. Heute habe ich lediglich einen Schlussstrich gezogen. Hat es ein wenig weh getan? Sicher. Aber bei weitem nicht so sehr, wie du vielleicht denkst.»
Überrascht von der Ehrlichkeit, die sie in seinen Augen erkannte und in seinem Ton hörte, nickte sie.
«Was ist mit dir?» Sein Daumen glitt über ihre Handfläche, ohne dass er sich der Bewegung bewusst zu sein schien. «Das muss doch Erinnerungen an deine eigene Hochzeit heraufbeschwören.»
Eigentlich nicht. Nur an ihre Fehler. «Ich hatte keine Hochzeit.»
«Ich erinnere mich.» Sein barscher Tonfall ließ sie leicht zusammenzucken. Warum klang er plötzlich so wütend?
Er bemerkte ihre Verwirrung offensichtlich, denn seine Augenbrauen wanderten höher. «Du bist ein paar Monate mit dem Kerl ausgegangen. Dann höre ich plötzlich von Olivia, dass du im
Rathaus geheiratet hast.»
«Ich hatte keine Ahnung, dass dich das so sehr gestört hat.»
Wieder stoppte er ihre Tanzbewegungen. «Soll ich mich umdrehen? Dann fällt es dir leichter, das Messer aus meinem Rücken zu ziehen.»
«Nakos …»
«Verdammt richtig, es hat mich sauer gemacht. Ich habe diesen Mistkerl gehasst. Er war nie nett zu dir. Und dass du mir nichts von deiner Hochzeit erzählt hast? Einfach davon ausgegangen bist, dass ich nicht für dich da sein will? Das war wirklich scheiße.»
Sie schloss die Augen und atmete zitternd ein. «Du hast recht. Tut mir leid. Es ist nur …»
Sie hatte sich geschämt. Wegen allem. Dass sie den erstbesten Kerl heiratete, der irgendein Interesse an ihr zeigte, auch wenn es die falsche Art von Interesse war. Dass sie so schnell zugestimmt hatte, dass nicht mal ein Verlobungsring nötig gewesen war. Dass sie kein Geld für nichts hatten, nicht mal für einen Brautstrauß.
Sie schüttelte den Kopf und starrte auf Nakos’ Hemd. Ihre Wangen brannten. Allein sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn er sie zum Rathaus begleitet hätte, löste schon ein Gefühl der Schande in ihr aus. Was auch der Grund dafür war, warum sie ihm nichts erzählt hatte. Genauso wenig wie Olivia. Kyle war ihr Trauzeuge gewesen. Für Chris sein Bruder Mark. Die Erinnerung an diesen unpersönlichen Raum und das Gelübde, das sich als bloßes Lippenbekenntnis entpuppt hatte, sorgte dafür, dass sich ein stechender Schmerz in ihrem Herzen einnistete.
Einsamkeit und Verzweiflung brachten Leute dazu, dumme Dinge zu tun. Wie zum Beispiel einen Mann zu heiraten, der einen nicht
liebte, einem nicht erlaubte zu arbeiten. Jemand, der das Interesse seiner Frau an Fotografie nicht unterstützte und sie komplett ignorierte, bis er betrunken genug war, um einen Ständer zu bekommen.
«Es ist nur … was?» Nakos’ ruhige Stimme sorgte dafür, dass sie ihn ansah. «Beende den Satz.»
Niemals würde sie ihm die ganze Wahrheit gestehen. «Ich dachte, dass du vielleicht versuchen würdest, mich davon abzuhalten.»
Irritation, Schmerz und Entschlossenheit huschten nacheinander über sein Gesicht. «Wenn du jetzt zurückblickst – wäre das so schlimm gewesen?»
«Ich kann jetzt wirklich kein Ich hab’s dir doch gesagt
brauchen.»
Er blinzelte langsam, dann seufzte er. «Ich hätte mich nicht eingemischt, Ames. Ich wäre gekommen, um dich zu unterstützen. Aber diese Möglichkeit hast du mir genommen.»
Verdammt sollte er sein. «Es tut mir leid. Ich kann mich nur wiederholen.»
Nakos’ dunkler Blick huschte nachdenklich über ihr Gesicht. Eine fast zärtliche Musterung ihres Haars, ihrer Wangen, ihrer Lippen, bevor er ihr wieder in die Augen sah. Sie hatte keine Ahnung, was er dort entdeckte, aber er presste frustriert die Lippen zusammen. Wie seine Wimpern waren auch seine Lippen an einen Mann verschwendet. So unendlich verführerisch.
«Wieso hast du es getan?» Seine Stimme war ein tiefes Rumpeln, das sie über die Musik kaum hören konnte. «Warum zur Hölle hast du dieses Arschloch geheiratet?»
Sie konnte das Gespräch einfach nicht mehr ertragen. Eilig löste
sie sich von ihm, sodass seine Arme schlaff an seine Seiten sanken. Über dieses Thema hatten sie aus irgendeinem Grund nie geredet … wofür sie dankbar war. Es jetzt plötzlich zu tun – an der Kruste zu kratzen – würde die Wunden nicht besser verheilen lassen. Eine Frau konnte nur ein gewisses Maß an Schmerz ertragen, bevor sie zusammenbrach.
«Warum, Ames?»
Zum Teufel damit. Es war ja nicht so, als wäre ihr noch Selbstbewusstsein geblieben. «Er war das Beste, was ich je kriegen würde.»
Nakos zuckte zusammen. «Was zur Hölle soll das bedeuten?»
Sie wandte seinen weit aufgerissenen Augen und der schockierten Miene den Rücken zu und ging Richtung Tür. Ein Tequila, zwei Tequila, drei Tequila und dann auf dem Boden schlafen.
Das war ihr Plan für den Rest des Abends. Sie würde sich eine Flasche Cuervo-Tequila aus dem Haupthaus schnappen, eine Ewigkeit zu den Wohngebäuden der Rancharbeiter laufen und sich im Zimmer ihres Bruders verkriechen, um sich dort zu betrinken.
Nur dass sich ein muskulöser Arm von hinten um ihre Taille schlang, um sie hochzuheben. Direkt danach wurde ihr Rücken gegen eine harte Brust gedrückt. «Die Diskussion ist noch nicht vorbei, anim
.»
Anim.
Dieses Wort hatte er in ihrer Gegenwart noch nie verwendet. Sie hatte keine Ahnung, was es in seiner Muttersprache Arapaho bedeutete, aber sie vermutete, dass es ein Fluch war.
Ihre Beine baumelten über dem Boden, als Nakos mit ihr zum Ausgang stiefelte, als wäre sie leicht wie eine Feder. «Wir werden uns ein wenig unterhalten.»
«Nein, werden wir nicht.»
«Doch, werden wir.» Stampf, stampf.
«Ich schlage mich schon mein gesamtes Leben mit deiner speziellen Art von Sturheit herum. Glaubst du, ich wüsste nicht, wie ich mit dir umgehen muss?»
Wieso erregte sie das? Wieso bekam sie plötzlich keine Luft mehr? Hitze sammelte sich in ihrem Bauch, und die Muskeln in ihrem Inneren zogen sich zusammen. Alpha Nakos war heiß.
Mehrere Köpfe drehten sich in ihre Richtung, verfolgten ihren Weg durch den Raum, an den Tischen vorbei und durch das offene Scheunentor.
Ein Pumps plumpste von ihrem Fuß. «Ich habe meinen Schuh verloren.»
«Wir werden ihn später holen, Aschenputtel.»
«Du verursachst eine Szene.» Sie wand sich, doch er hielt sie unerbittlich fest.
«Ist mir egal.» Er marschierte über das Gras, bog um die Ecke und stellte Amy außer Sichtweite der Partygäste auf die Beine. Dann drängte er sie gegen die Scheunenwand und starrte böse auf sie herunter, sein Gesicht nur Zentimeter von ihrem entfernt. «Erkläre deinen letzten Satz.»
Dunkle Schatten umgaben sie. Grillen zirpten. Eine warme Brise bewegte ihr Haar. In der Ferne blinkten Glühwürmchen. Eine Eule schrie.
Und sie? Sagte nichts. Gar nichts.
Er verschränkte die Arme.
«Ich kann das die ganze Nacht durchhalten.»
Jep, genau das befürchtete sie.