Er war das Beste, was ich je kriegen würde.
Die Worte hallten in Nakos’ Kopf wider und verursachten ein zorniges Pochen in seinen Schläfen, während er unverwandt Amy anstarrte und darauf wartete, dass sie nachgab. Es war nur eine Frage der Zeit.
Die Schatten, die die Bäume im Mondlicht warfen, erzeugten wilde Muster auf ihrer alabasterhellen Haut. Amys kakaobraunes Haar fiel ihr über die Schultern, sodass er gegen das Verlangen ankämpfen musste, seine Hände darin zu vergraben und diese Frau zu zwingen, ihn anzusehen. Während er mit ihr getanzt hatte, hatte sie ihm kaum mehr als flüchtige Blicke geschenkt, und genau das bewirkte – mehr noch als ihre Worte –, dass Sorge an seinen Eingeweiden nagte.
Er verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. Das war doch nicht Amy. Diese hängenden Schultern, die traurige Wölbung ihrer Lippen, das fehlende Funkeln in den Meerjungfrauenaugen – das war nicht seine Ames. Wo war ihr Feuer geblieben? Wo war die Frau, die ihn jederzeit in eine Ecke argumentieren konnte? Normalerweise war sie voller Energie und Lebensfreude.
Aber seit dem Vorfall mit dem Antichrist war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Eigentlich hatte die Veränderung sogar schon begonnen, bevor Chris auf der Bildfläche erschienen war. Aber es war zuvor nicht so deutlich gewesen. Himmel, Nakos hätte schwören können, das Amys Feuer erloschen war.
Er war von zwei liebevollen, aufmerksamen Menschen erzogen worden, und seine besten Freunde waren weiblich. Dank dieser Tatsache hatte Nakos ein, zwei oder fünfzig Dinge gelernt. Zuallererst, wie man liebte. Dass man vor Gefühlen oder Bindungen nicht zurückschrecken, sondern sie als etwas Positives betrachten sollte. Er hatte nur ein Leben und wollte später nicht voller Reue zurückblicken, weil er zu viel Angst gehabt hatte, den Menschen, die ihm etwas bedeuteten, das auch zu sagen.
Außerdem hatte er gelernt, aus den Mienen und der Körpersprache der beiden Mädchen und später Frauen zu lesen, was sie brauchten. Die Nähe zu ihnen hatte seinen Beschützertrieb gestärkt, bis der quasi Teil seiner DNA
geworden war. Olivia und Amy. Sie kamen immer zuerst. Und genau diese Instinkte waren jetzt aufgewacht und begannen, an seiner ohnehin schon angeschlagenen Selbstkontrolle zu rütteln.
Amy stand vor ihm – so nahe, dass er ihr dezentes Parfüm riechen konnte – und weigerte sich, ihren hübschen Mund aufzumachen. Wie oft hatte er sich gewünscht, sie würde die Klappe halten? Und jetzt hatte das Schicksal ausgerechnet diesen Moment ausgewählt, um seinen Wunsch zu erfüllen?
Einer von ihnen musste nachgeben. Das konnte genauso gut er sein.
«Was du eben gesagt hast – das war nicht dein Ernst, oder?» Denn anderenfalls hatte dieser Bastard mehr Schaden angerichtet, als Nakos vermutet hatte. «Du hast etwas viel Besseres verdient als ihn.»
Ihre einzige Antwort bestand darin, dass sie langsam die Augen schloss.
Irgendetwas stimmte absolut nicht. Ein Kribbeln der Erkenntnis überlief seine Haut. Gleichzeitig bildete sich ein
eisiger Knoten in seinem Magen. Wenn sie dachte, sie hätte nichts Besseres verdient als diesen … Kerl, dann hatte sie schon Probleme gehabt, lange bevor sie mit dem Antichrist ausgegangen war und ihn letztendlich geheiratet hatte. Was zur Hölle hatte Nakos übersehen? Denn er war vollkommen ratlos.
«Schau mich an.» Er wartete, bis ihre Lider sich hoben, wobei er dem Drang widerstehen musste, sie in die Arme zu ziehen. Sie berührten sich nicht oft – so war ihre Beziehung einfach nicht. «Du wirst mich auf keinen Fall davon überzeugen, dass er der beste Mann war, um mit ihm dein Leben zu verbringen. Ein Mann, der mit dir gesprochen hat, als wärst du sein Besitz. Ein Mann, der es gewagt hat, die Hand gegen dich …» Himmel, schon bei diesem Gedanken hätte er töten können. Wobei Amy Stein und Bein geschworen hatte, dass Chris sie nur dieses eine Mal geschlagen hatte. «Ich kann diesen Tag einfach nicht aus meinem Gedächtnis löschen.»
«Ich weiß.» Sie nickte. Endlich flackerte ein Funken Wut in ihren Augen auf. «Weil Olivia in Gefahr war.»
Zur Hölle, nein. Sein Körper wurde so starr, dass er fast dachte, er müsse zerbrechen. Sie konnte doch nicht ernsthaft glauben, dass sie ihm so wenig bedeutete. Niemals wäre er auf diese Idee gekommen. Aber … Scheiße
.
«Ja, Olivia war in Gefahr. Ihr beide
wart in Gefahr.» Nakos rammte die Handflächen gegen die Holzwand über ihrem Kopf, in dem jämmerlichen Versuch, all seine widersprüchlichen Emotionen irgendwie zu zügeln. Wut auf das, was dieses Arschloch getan hatte. Angst, dass den zwei Frauen, die er liebte, etwas zustoßen könnte. Und – am schockierendsten – Trauer, dass Amy ebendiese Liebe
bezweifelte.
«Du musst es nicht leugnen, Nakos.»
Er brauchte einen Drink. Und eine Zwangsjacke. «Hast du irgendeine Ahnung, was es mit mir angestellt hat, dich so zu sehen?» Seine Fingerspitzen krallten sich ins Holz, bis Farbsplitter unter seine Fingernägel drangen. «Dich so auf dem Boden zu sehen, verletzt, voller Blut, kaum fähig, die Augen zu öffnen …»
Lass mich nicht allein … Bitte, Nakos. Lass mich bitte nicht allein.
Ein Knurren stieg in seiner Kehle auf.
Amy kniff zweifelnd die Augen zusammen, als versuche sie zu entscheiden, ob sie ihm glauben sollte. Eisige Kälte breitete sich in seinem Körper aus, bis er dachte, seine Muskeln müssten gefrieren.
Die Tatsache, dass sie ernsthaft an ihm zweifelte, traf ihn wie ein Schlag in den Magen. Irgendwann, irgendwo, hatte er Amy im Stich gelassen. Was vollkommen inakzeptabel war. Weil es hier um Amy ging. Olivia hatte fast ihre gesamte Familie verloren, aber sie war vertrauensselig. Kümmerte sich um andere. Strahlte wie ein Licht in dunkler Nacht. Amy war das absolute Gegenteil. Sie besaß noch Blutsverwandte, direkt hier in der Stadt, die sie allerdings wieder und wieder gedemütigt hatten. Sie ließ fast niemanden an sich heran, und ihr erster Instinkt war es immer, Schutzmauern um sich zu errichten. Sie war
die Dunkelheit.
Weil dieses Gespräch so zu nichts führte, versuchte Nakos es mit einer anderen Herangehensweise. «Warum schläfst du bei Kyle? Das wird Olivia nicht gefallen. Und du gehörst dort nicht hin.» Das hatte nichts mit den Arbeitern zu tun, die in den Blockhäusern lebten. Vielmehr ging es hier um Komfort. In diesen Bauten gab es wenig Platz – ganz zu schweigen von Privatsphäre.
«Ich gehöre nirgendwohin.» Obwohl sie ihm entschlossen in die Augen sah und diese Aussage mit ihrer Ich-fresse-süße-Häschen-zum-Frühstück
-Stimme verkündete, verriet sie sich durch das leichte Zittern ihrer Unterlippe.
Bevor Nakos auch nur darüber nachdenken konnte, was er erwidern sollte, hörte er Schritte von rechts. Kyle trat um die Ecke und sah ihn skeptisch an. «Gibt es hier ein Problem?»
Mehrere. Zur Hölle, die Probleme prasselten nur so vom Himmel. Trotzdem atmete Nakos tief durch. «Es geht uns gut. Gib uns eine Minute.»
«Olivia sucht dich.» Kyles Blick huschte zwischen ihnen hin und her, als befürchte er, er hätte seine Schwester bei etwas gestört, was kein Bruder sehen sollte.
Verdammt. Er konnte Olivia kaum warten lassen. Er stieß sich von der Wand ab und deutete auf Amy. «Geh nicht weg. Wir sind noch nicht fertig.»
Ihre Antwort bestand darin, dass sie sich vorbeugte und den verbleibenden Stöckelschuh auszog, um sich dann wieder aufzurichten. Mit herausfordernd hochgezogenen Augenbrauen ließ sie den Schuh in einer Fang-mich-wenn-du-kannst
-Geste erst von einem Finger baumeln und dann zu Boden fallen.
Hihcebe.
Es gab in ganz Wyoming nicht genug Whiskey, um ihn gegen dieses Verhalten immun zu machen.
Frustriert folgte er ihrem Bruder in die Scheune, nur um direkt hinter dem Tor wieder zu stoppen und Kyle am Arm zu packen. «Wofür braucht Olivia mich?»
«Ich glaube, sie will ihr Strumpfband werfen.»
Was in aller Welt hatte er getan, um das zu verdienen? «Amy hat
gesagt, sie schläft heute Nacht bei dir?»
«Ja, auch wenn ich keine Ahnung habe, wo.» Kyle verschränkte die Arme, womit er sehr an seine Schwester erinnerte, wenn auch mit weniger Kampfgeist. «Eine Tupperdose ist größer als mein Zimmer, und ich habe nur ein Bett. Das sie übrigens nicht nehmen will. Letztendlich wird sie vermutlich unter dem Bett landen.»
Nur über seine Leiche, dachte Nakos. «Schnapp dir zwei der Männer und geh ins Haupthaus. Ich will, dass ihr in einer Stunde all ihre Sachen zusammengepackt und in mein Haus geschafft habt.» Er grub in seiner Hosentasche nach den Schlüsseln und gab sie Kyle. «Erster Stock, zweite Tür rechts, das Gästezimmer. Räumt ihre Sachen dort rein.»
«Okay», meinte Kyle langsam. «Aber du weißt, dass unsere Erzeuger ausflippen werden, wenn sie das mitbekommen, oder? Sie haben sich nicht gerade vor Freude überschlagen, als Amy bei …»
«Das ist mir vollkommen egal. Tu es. Und …» Er lehnte sich vor, die Hände in die Hüften gestemmt, «… du wirst ihr nichts von dieser kleinen Mission erzählen. Geh rein, geh raus, dann bring mir meine Schlüssel zurück.»
«Was auch immer du sagst, Mann.» Kyles lässiger Tonfall stand im Widerspruch zu der Dankbarkeit in seinen Augen. «Ist quasi schon erledigt.»
Nakos starrte einen Moment auf seine Stiefel und atmete tief durch. Musik und Lachen erfüllten die Scheune. Wieso zur Hölle fühlte er sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggerissen?
«Nakos.»
Er sah zu Olivia, die auf der anderen Seite des Raums nach ihm
rief. Ihr Lächeln beruhigte das Chaos in seinem Kopf ein wenig. «Ich komme.»
Eine halbe Stunde später wünschte er sich inständig, er wäre weggelaufen, als Kyle ihn holen gekommen war. Nate hatte Olivia auf seinen Schoß gesetzt und ihr mit großer Geste das Strumpfband heruntergezogen. Doch statt die unverheirateten Männer antreten zu lassen und das Band zu werfen, hatte er es einfach mit einem Nicken Nakos in die Hand gedrückt. Dann war der Brautstrauß geworfen worden, ohne dass Nakos einen blassen Schimmer gehabt hatte, wieso er dafür anwesend sein musste. Und auf dem Weg zum Ausgang war ihm ständig auf die Schulter gehauen worden, und er hatte Leute abwimmeln müssen, ohne grob unhöflich zu werden.
Auf keinen Fall hatte Amy auf ihn gewartet, doch er sah trotzdem hinter der Ecke nach. Das Einzige, was er dort noch fand, war ihr Schuh und die unangenehme Erinnerung an ihr Gespräch. Aschenputtel, kein Zweifel.
Da er seine Schlüssel noch nicht zurückhatte, konnte er nicht in den Arbeiterquartieren suchen. Außer, er wollte die halbe Nacht zu Fuß dorthin laufen. Zumal er noch nicht mal sicher war, ob sie diesen Weg eingeschlagen hatte. Er hoffte, dass sie stattdessen zum Haupthaus gegangen war. Sie besaß nicht besonders viel. Ob die Jungs schon mit Packen fertig waren? Wenn nicht und sie war dort, dann hatte sie die Männer vielleicht schon vollkommen eingeschüchtert.
Er machte sich auf dem Weg zum Haus. Dort würde er als Erstes nach ihr suchen. Doch ungefähr auf halber Strecke bemerkte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Abrupt blieb er stehen.
Er drehte sich um und entdeckte Amy zwischen der dritten
Scheune und dem Friedhof. Ungefähr fünfzig Meter entfernt ragte die Krone einer Eiche über einen kleinen Hügel. Von einem der dicken Äste hing eine alte Reifenschaukel, die es schon seit ihrer Kindheit gab. Es war so dunkel, dass Nakos kaum etwas erkennen konnte, doch der Schnitt ihres Kleids und die nackten Füße verrieten Amy.
Er ging in ihre Richtung und spürte plötzlich, wie die Vergangenheit mit der Gegenwart kollidierte. Als er Amy zum ersten Mal getroffen hatte, hatte sie auf diesem Reifen gesessen, genau wie jetzt – weit zurückgelehnt, sodass ihr Haar zu Boden strömte wie ein Wasserfall. Jetzt war sie allein, doch damals war Olivia bei ihr gewesen.
Seltsam, er hatte ganz vergessen, dass er zuerst Amy gesehen hatte. Etwas an der fragilen Wölbung ihrer Wirbelsäule hatte im Widerspruch zu ihrem ungehemmten, fast sinnlichen Lachen gestanden. Von Beginn an war er von Olivias kastanienrotem Haar fasziniert gewesen, das so ganz anders war als alles, was er aus dem Reservat kannte. Wenn er daran zurückdachte, war es fast so gewesen, als hätte Olivia ihn hypnotisiert.
Aber Amy? Sie hatte eine körperliche Reaktion ausgelöst, die er sogar im zarten Alter von neun als besonderes Bewusstsein für diese andere Person erkannt hatte. Beschleunigter Puls, zugeschnürte Kehle. Neugier, hatte er angenommen. Er hatte keine Ahnung, wie er es jetzt nennen sollte.
Das Mondlicht ließ ihre Haut leuchten, als sie sich auf der Schaukel zurücklehnte, die schlanken Finger um die Halteseile geschlungen. In dieser Position drängten ihre Brüste und Hüften gegen den Stoff des Kleids. Er wollte verdammt sein, wenn sein Herz nicht raste. Schon wieder. Was zum Teufel hatte sie vor drei Monaten
mit ihm angestellt? Seitdem stimmte irgendetwas nicht mit ihm.
Er trat an die Schaukel heran, bis er über Amy aufragte und in ihr umgedrehtes Gesicht sehen konnte. «Du siehst aus wie eine Nymphe, die im Mondschein von einem Baum hängt.»
«Quatsch. Nymphen kriegen mehr Sex als ich.»
Diesen Kommentar würde er einfach ignorieren. «Du weißt eine Menge über Nymphen, hm?»
«Ich kenne keine persönlich, aber in den Sagen sind sie sinnliche Kreaturen, die im Einklang mit der Natur leben und eine unwiderstehliche Anziehungskraft besitzen.»
Nakos fragte sich, ob ihr bewusst war, dass sie sich gerade selbst beschrieben hatte. Und natürlich wusste sie Bescheid über mystische Kreaturen. Eigentlich wusste sie zu jedem Thema etwas. Amy war intelligent, ohne herablassend oder angeberisch zu wirken. Sie besaß die Begabung, sich über fast alles unterhalten zu können.
Wieso er das plötzlich unglaublich heiß fand, wollte er gar nicht wissen. Also ignorierte er diese Tatsache ebenfalls so gut wie möglich.
«Ich bin schockiert, dass du auf mich gewartet hast.» Er entspannte sich, als Amy sich wieder aufrichtete und er erkennen konnte, dass sie nicht mehr so angespannt wirkte wie vorhin. «Du hörst – wenn überhaupt – nur sehr selten auf mich.»
Sie schüttelte voller Mitleid den Kopf. «Ich warte nicht auf dich. Bitte merk dir, dass ich mich nicht mit angehaltenem Atem neben der Scheune nach deiner Rückkehr verzehrt habe.»
Ihr Tonfall und diese Worte waren auch nicht heiß. Nein, waren sie nicht. «Ich werde mir das auf ein Post-it schreiben, damit ich es nicht vergesse.» Für einen Moment dachte er darüber nach, wie
wichtig es ihm war, dass sein Kopf blieb, wo er hingehörte. Denn sobald Amy herausfand, dass ihre Sachen gerade in sein Haus geräumt wurden, würde sie mehr als nur ein wenig gereizt reagieren. Es bestand definitiv das Risiko, von ihr den Kopf abgerissen zu bekommen. «Mir ist gerade wieder eingefallen, dass wir uns hier zum ersten Mal begegnet sind.»
«Gerade wieder eingefallen, hm? So unvergesslich war der Moment also?»
Sie hatte ja keine Ahnung, aber diese Diskussion konnte er nicht gewinnen. «Ich habe mich an die Details erinnert, meinte ich damit. Mach mal halblang. Wir waren neun.»
Ihre Antwort bestand darin, dass sie sich mit dem nackten Fuß im Gras abstieß, sodass der Reifen sich langsam drehte. «Hast du einen Anfall von Nostalgie, Nakos?»
Nostalgie, Verwirrung. Letztlich kam es auf das Gleiche heraus. «Es ist eine schöne Erinnerung.»
Ihr plötzliches Grinsen sorgte dafür, dass alle Gedanken sich aus seinem Hirn verabschiedeten. Vermutlich tat sie das absichtlich.
Mit der Ferse stoppte Amy die Bewegung der Schaukel. «Weißt du, woran ich mich erinnere? Dass du Olivia angestarrt hast, als hättest du dich an deiner eigenen Zunge verschluckt.»
Wieder hatte sie alles falsch gedeutet. Olivia beruhigte den Wahnsinn in ihm. Amy stachelte ihn an. «Und du hast meinen Cowboyhut gestohlen. Vielleicht gibst du ihn mir eines Tages zurück.» Er kniff die Augen zusammen. «Wieso lächelst du wie ein James-Bond-Bösewicht?»
Sehr zu seinem Missfallen stellte Amy sich plötzlich auf den Reifen, griff nach oben und schwang ihre Beine auf den Ast über sich.
Komplett mit Kleid und allem.
Um nicht aus Versehen eine Peep-Show zu bekommen, legte er eine Hand vor die Augen. «Komm runter, Ames.» Als sie nicht antwortete, spähte er zwischen den Fingern hindurch und stellte fest, dass sie auf dem Ast stand und sich Richtung Stamm streckte. Verdammt, das war wirklich weit oben. «Ames, komm runter. Jetzt.»
«Nur eine Sekunde.»
Er wusste nicht, was sein Herz heftiger schlagen ließ – die Sorge, dass sie fallen könnte, oder die unendlich langen Beine unter ihrem Rock. «Verdammt. Amy, komm schon.»
Sie zog einen Gegenstand aus einem Astloch, um dann – er würde gleich tot umfallen – auf den Zehenspitzen herumzuwirbeln. Etwas traf ihn ins Gesicht, bevor der Gegenstand vor ihm auf den Boden plumpste.
Ein kurzer Blick, dann starrte er böse seinen … alten Hut an. Er war zerdrückt, der schwarze Stoff war zu stumpfem Grau verblasst, und es klebten Blätter daran. Trotzdem war es eindeutig sein Hut.
«Wieso machst du das?» Er stemmte die Hände in die Hüften und sah stirnrunzelnd zu ihr auf. «Und damit meine ich, warum hast du ihn damals da oben versteckt? Und warum gibst du ihn mir jetzt plötzlich zurück?»
«Es ist das Vorrecht eines Mädchens, sich nicht erklären zu müssen – weder einem Jungen gegenüber noch dem Mann, zu dem er heranwächst.»
Amy hätte mit einer Bedienungsanleitung ausgeliefert werden müssen. Möglichst einer, die nicht in einem obskuren Kauderwelsch geschrieben war. «Schön. Dann sag es mir nicht. Komm einfach nur runter.»
Zum Glück machte sie sich bereits an den Abstieg. Sie schlang ihre Beine um den Ast, drehte sich, bis sie das Seil greifen konnte und ließ sich – geschickter als jeder Zirkusartist – daran nach unten gleiten.
«Gern geschehen», sagte sie, sobald ihre Füße wieder auf festem Boden standen. Erst dann lächelte sie, als würde es ihr nachträglich einfallen.
Zum Teufel mit der Bedienungsanleitung. Diese Frau sollte mit einem Warnschild versehen werden: Vorsicht: Zufälliger Kontakt könnte geistige und körperliche Schäden verursachen.
Nakos rieb sich übers Gesicht, bevor er sich wieder auf Amy konzentrierte. So gern er auch Antworten auf seine Fragen bekommen würde, vor allem was ihre Aussagen vorhin betraf, ihm fehlte gerade die Kraft dazu. Amy schien wieder zu alter Form aufgelaufen zu sein. Er spürte, wie der Nerv unter seinem Auge zu zucken begann. Plötzlich fühlte er sich verdammt erschöpft.
Sie beugte sich vor und griff nach dem Hut auf dem Boden. Obwohl sie ihn kräftig schüttelte, blieb er zerdrückt. «Könnte sein, dass du ihn wegwerfen musst.»
Er konnte einfach nicht anders: Er lachte. Ein raues Lachen, das tief aus dem Bauch kam. Zum Teufel, an den meisten Tagen schaffte es nur Amy, ihn zum Lachen zu bringen. «Was zur Hölle soll ich nur mit dir anfangen?»
«Du könntest mich zu Kyle fahren, damit ich nicht laufen muss. Meine Füße haben ziemlich unter diesen hochhackigen Folterinstrumenten gelitten.» Sie blinzelte ihn an. Legte den Kopf schräg. «Aber das hast du nicht gemeint, oder?»
«Nein, eigentlich nicht.» Ach ja, und wo sie gerade vom Zimmer ihres Bruders sprachen …
«Falls du dich dann besser fühlst: Meine Eltern haben sich dasselbe während meiner gesamten Kindheit und Jugendzeit gefragt, und sie haben auch nie eine Antwort gefunden.»
Wieso bitte sollte das dafür sorgen, dass er sich besser fühlte? «Die beiden sind Arschlöcher, und mir wäre es lieber, wenn du mich nicht mit ihnen vergleichst – oder sie und mich auch nur im selben Satz erwähnst.»
«Aye, aye, Sir.»
Er fand es auch nicht gut, dass sie immer alles so herunterspielte. Besonders diese Sache. Heute Abend war ihm absolut klargeworden, dass Amys Eltern sie auf eine Weise runtergemacht hatten, die er nicht einmal für möglich gehalten hatte. «Sie hat dich quasi eine Hure genannt, Ames.» Und damit ignorierte er noch eine Menge anderer Punkte. Nakos ballte die Hände zu Fäusten.
Sie zuckte mit den Achseln, als hätte er lediglich angemerkt, dass es morgen regnen könne. «Ich widerspreche dir ja nicht. Ich frage mich nur, wieso du plötzlich den aggressiven Alpha raushängen lässt. Du benimmst dich, als hättest du meine Eltern noch nie getroffen.»
Beweisstück A. Ja, Amy war eine Meisterin im Herunterspielen und Ablenken.
Ihre Miene wurde auf eine Weise weich, die er bisher nur selten bei ihr gesehen hatte, dann trat sie einen Schritt vor. «Hey, beruhige dich. Du zitterst ja vor Wut. Das sieht dir gar nicht ähnlich. Ich habe es doch schon mal gesagt: Ignoriere sie einfach, okay?»
Nicht. Okay. Eltern sollten ihre Kinder unterstützen und lieben, egal, wie viele Fehler sie auch machten. Nicht die eigene Tochter als Flittchen beschimpfen, aus dem Haus werfen und sie kein einziges Mal besuchen, nachdem sie von ihrem Ehemann blutig geschlagen
worden war. Noch jemand, der sie eigentlich hätte lieben sollen und sie auf schlimmste Art verraten hatte.
Nakos war mit dem heutigen Tag so fertig, dass es eigentlich schon morgen war. «Ich muss meine Sachen aus der Scheune holen, bevor du mich zu den Blockhäusern fährst.» Nope. Er würde sie zu seinem Haus fahren. Sie würde ihn umbringen. Hoffentlich war Kyle inzwischen mit den Schlüsseln zurück. «Komm. Dann sammeln wir auch deine Schuhe ein.»
«Die könnten wir auch einfach an die Pferde verfüttern.»
Er lachte schnaubend. «Ich mag die Pferde. Wir werden die Dinger einfach verbrennen.»
Ihr Bruder wartete tatsächlich schon auf sie, als sie über das Gras zur Scheune gingen. «Alles erledigt.» Kyle gab ihm die Schlüssel, nickte seiner Schwester zu, dann verschwand er in der Menge der Feiernden.
Ein schneller Blick verriet Nakos, dass seine Familie bereits aufgebrochen war. Er würde sie später anrufen. Eilig schnappte er sich seine Jacke von einem Stuhl, während Amy ihre Sachen zusammensuchte, dann führte er sie zu seinem Truck, der in Olivias Einfahrt stand.
Sobald sie im dämmrigen Innenraum saßen, seufzte er. Lang und laut. Dann ließ er den Motor an. «Du weißt, dass du mir wichtig bist, oder?» Er konnte Amys Blick fühlen, doch er sah sie nicht an. «Denk bitte daran, wenn wir an unserem Ziel ankommen.»