11
Immer noch entsetzt von der Nachricht, dass ihr Onkel zu Besuch kam, sprang Amy aus Nakos’ Truck und wartete darauf, dass er die Eingangstür zu seinem Haus aufschloss. Seitdem sie die Nachricht von ihrem Bruder bekommen hatte, war ihr Magen ein einziger schmerzender Knoten. Erinnerungen, von denen sie geglaubt hatte, sie längst besiegt zu haben, drängten wieder an die Oberfläche.
Rauchgeschwängerter Atem und Old Spice .
Grobe Hände, die blaue Flecken hinterließen.
Ihre Schreie, die von einer Hand über ihrem Mund erstickt wurden.
Der Schmerz. Die Tränen. Die Scham.
Sie musste ihre Reaktionen unter Kontrolle bekommen, bevor Nakos mitbekam, dass etwas nicht stimmte. Amy stiefelte vor ihm her ins Haus und ging direkt auf die Treppe zu. Sie hatte das einmal hinter sich gelassen, sie würde es wieder schaffen. Und wenn sie sich eine Million Mal daran erinnern musste, dass sie kein schwaches, verängstigtes kleines Mädchen mehr war – schön, dann würde sie genau das tun. Sie war stärker als alles, was das Leben ihr servieren konnte. Der beste Beweis dafür war die Tatsache, dass sie immer noch auf den Beinen stand.
Aber verdammt, sie wäre am liebsten zusammengebrochen.
«Ames.» Nakos’ Schritte erklangen hinter ihr, und sie stoppte auf der untersten Stufe. «Ich vermisse dich.»
Ihre Finger packten das Geländer fester, und sie schloss fest die Augen. Heute Abend konnte sie sich nicht mit Nakos auseinandersetzen. In der Bar hatte er sie mit Adleraugen beobachtet, auf diese ruhige Art, die immer den Eindruck vermittelte, als könnte er ihre Gedanken lesen.
Gott sei Dank konnte er das nicht. Es gab unzählige Schichten aus Schmerz und Erniedrigung, die er erst hätte durchdringen müssen, um die unschuldige Person zu finden, die er vor so langer Zeit kennengelernt hatte. Damals, an diesem Sommertag, als die Wildblumen geblüht hatten. Was sie nicht alles getan hätte, um das zurückzubekommen; um einfach zu löschen, wozu sie geworden war. Um die Zuneigung annehmen zu können, die sie so oft in seinen Augen sah.
Doch das war unmöglich … Und nichts von alledem war seine Schuld. Seine Bedürfnisse waren wichtiger als ihre, und wenn er jetzt ausgerechnet sie brauchte – beziehungsweise ein Ende ihres Zerwürfnisses –, dann würde sie ihm das geben.
Sie schluckte schwer und drehte sie sich halb um, sodass sie ihm ihr Profil zuwandte. «Du vermisst mich? Ich bin nirgendwo hingegangen. Ich stehe direkt vor dir.»
«Nein, tust du nicht.» Er trat vor, bis seine Stiefelspitzen gegen die Stufe stießen und ihre Augen sich auf einer Höhe befanden. «Du hast dich vor drei Monaten abgemeldet und bist seitdem nur hin und wieder mal aufgetaucht. Und die letzten Tage?» Er presste sich eine Hand an die Brust. «Die haben mich fast umgebracht, anim . Ich vermisse dich.»
Zum zweiten Mal schloss sie die Augen – diesmal, um gegen Tränen anzukämpfen. Das hätte Nakos nur noch mehr aufgeregt. «Es tut mir leid», flüsterte sie gepresst. Ihr Versuch, das zu stoppen, was sich da zwischen ihnen zusammengebraut hatte, hatte nur zu einer größeren Katastrophe geführt. Ihre Gründe waren vernünftig, und sie wollte ihre Meinung nicht ändern, aber sie würde ihre Freundschaft retten. Irgendwie. «Es tut mir leid.»
«Muss es nicht. Rede mit mir.» Nakos’ mitternachtsschwarze Augen suchten ihren Blick. «Sag mir, was er dir angetan hat. Damit wir darüber hinwegkommen können und ich meine Amy zurückbekomme.»
Zuerst dachte sie, Nakos hätte jetzt tatsächlich ihre Gedanken gelesen und spräche über ihren Onkel, aber dann wurde ihr klar, dass er ihren Ex meinte. Himmel. Chris war nicht das Problem. Irgendwann einmal hatte sie angenommen, er könnte die Lösung sein, aber nicht mal dieser Selbstbetrug hatte etwas gebracht.
«Er hat mir nichts angetan.» Außer dafür zu sorgen, dass sie sich noch unbedeutender fühlte; und zu beweisen, dass sie anscheinend nicht einmal die einfachsten Dinge verdiente: Blickkontakt. Berührungen. Anerkennung. Treue. Liebe. «Du weißt, was passiert ist. Ich bin darüber hinweg.»
Aber Nakos hatte recht. All das hatte an dem Tag begonnen, an dem Chris sie verprügelt hatte. Denn an diesem Tag hatte sie herausgefunden, dass sich die Realität nicht ändern ließ. Es war egal, wie viel Rückgrat man bewies; egal, was man sich einredete oder wie sehr man sich anpasste. Jeder Schlag in ihr Gesicht, jeder Tritt in ihre Rippen und jede gebrüllte Beleidigung hatten die Wahrheit unterstrichen.
Sie war ein Niemand.
«Du bist nicht darüber hinweg.» Nakos umfasste ihre Schultern, ließ seinen Daumen über ihren Nacken gleiten. «Wenn du nicht mit mir reden willst, dann rede mit Nate. Er kennt sich aus mit posttraumatischem Stress. Vielleicht kann er dir helfen.»
Das Problem war keine posttraumatische Belastungsstörung. Sie schüttelte den Kopf, weil sie nicht wusste, wie sie das alles in Worte fassen sollte. Und Nakos hatte offensichtlich nicht die Absicht, das Thema ruhen zu lassen.
Mit einem Seufzen trat Amy um ihn herum und ging Richtung Küche. Wenn er sie noch länger so sanft berührte, so zärtlich ansah, würde sie ausrasten. «Wenn du jetzt echt reden willst, brauche ich Eis. Als Stärkung.»
Er murmelte ein paar genervte Worte, dann folgte er ihr. «Seit wann brauchst du eine Stärkung, um mit mir zu sprechen?»
Seitdem er angefangen hatte nachzuhaken, statt nur zu beobachten. Sie zog ihren Notfallvorrat Minzeis mit Schokostücken aus dem Tiefkühlfach, nahm sich einen Löffel aus einer Schublade und trat durch die Küchentür nach draußen.
Dort ließ sie sich auf die oberste Stufe der Terrasse sinken, öffnete die Eispackung und starrte in Richtung Horizont. Die Laramie Mountains erhoben sich als schwarze Schatten vor einem marineblauen Himmel voller Sterne. Die weiten Grasflächen der südlichen Weiden bewegten sich im Wind. Der Duft von Kiefern und Wildblumen verband sich mit dem Duft der Erde. Amy atmete tief ein.
Bis hinter ihr die Tür ins Schloss fiel und sie Nakos’ Schritte auf dem Holz hörte. Sie grub den Löffel in ihr Eis und hielt den Blick nach vorne gerichtet, als er sich neben sie setzte. Vermeidungsstrategie. Ihre beste Freundin.
Nakos nahm seinen Stetson ab und ließ die Hutkrempe durch die langen, schwieligen Finger gleiten, bevor er den Cowboyhut zur Seite legte. «Ich mache mir Sorgen um dich.» Er drehte den Kopf und sah sie an, während seine tiefe Stimme über ihre Haut zu gleiten schien. «Du bist mir so verdammt wichtig, und ich mache mir Sorgen um dich.»
Und … Sie sackte in sich zusammen. Er schaffte es jedes Mal. «Es geht mir gut.» Sie rammte den Löffel noch etwas tiefer in ihr Eis. «Ich habe keine Albträume und auch keine Angst vor Berührungen oder irgendwas. Ich versuche nur, mein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Das ist alles.»
«Sei mir nicht böse, aber das glaube ich dir nicht.» Auch er richtete seinen Blick in die Ferne. An seinem Kinn zuckte ein Muskel im Takt ihres Herzschlages. So ein attraktives männliches Gesicht
Sie füllte einen Löffel und streckte ihm das Eis entgegen. «Willst du auch was?»
Er beäugte erst den Löffel, dann sie. «Ich mag kein Eis.»
Stimmt. Das hatte sie vergessen. «Ich wusste doch, dass du irgendeinen Fehler haben musst.»
Er versteifte sich, dann richtete er den Blick kurz zum Himmel, bevor er sie verständnislos ansah. «Was soll das jetzt schon wieder heißen? Ich bin nicht perfekt.»
«Nein, natürlich nicht.» Amy verdrehte die Augen. Dieser dumme Mann. Sie hob eine Hand, um die Punkte an den Fingern abzuzählen. Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. «Dein Herz ist nicht größer als das Universum. Du würdest nicht alles für die Leute aufgeben, die dir etwas bedeuten. Du bist nicht der loyalste Mensch, der je geboren wurde. Du versuchst nicht, deine Gefühle zu zeigen, auch wenn es schwerfällt. Du arbeitest nicht härter als jeder andere.» Ihr gingen die Finger an dieser Hand aus, also fing sie einfach noch mal von vorne an, da sie mit der anderen ihr schmelzendes Eis hielt. «Dein Blick ist nicht schärfer oder durchdringender als der aller anderen Männer, und ich sage jetzt mal nichts zu deinen dichten Wimpern. Damit fange ich wirklich lieber gar nicht erst an. Deine Stimme ist nicht so tief und rau, dass sie einem Schauder über den Rücken jagt. Die Art, wie du gehst, und deine ganze Haltung sind nicht selbstbewusst oder heiß. Und dein bronzefarbener, durchtrainierter Körper ist natürlich nicht unglaublich sexy.»
Verdammt. Sie musste seinem Beispiel folgen und einfach den Mund halten. Amy rammte den Löffel in das Eis und senkte den Blick, um den Mann neben sich nicht ansehen zu müssen. «Also nein, Nakos. Du bist nicht perfekt. Was habe ich mir nur dabei gedacht?»
Schweigen breitete sich aus. Grillen zirpten.
Nakos starrte Löcher in ihr Profil, als wolle er sich in ihren Kopf graben und dort für immer verweilen. Sie hätte ihm sagen können, dass er sich die Mühe sparen konnte, weil ihn dort nur Albträume erwarteten, aber er hätte sowieso nicht auf sie gehört.
Nach einer furchtbar langen Pause, rieb er sich das Kinn und erwiderte: «Wenn du mich so siehst … warum hast du mich dann abgewiesen, als unsere Freundschaft anfing, sich weiterzuentwickeln?»
Weiterzuentwickeln? Klar, ihre Fortschritte führten direkt in die Steinzeit zurück. «Das haben wir doch bereits besprochen.»
«Nein. Du hast geredet, bis mir der Kopf schwirrte, und dann bist du weggelaufen.»
Sie seufzte, frustriert und erschöpft. Trotz ihrer gemeinsamen Vorgeschichte hätte sie vielleicht darüber nachgedacht, sich auf Nakos’ Version von Weiterentwicklung einzulassen, wären da nicht zwei Dinge gewesen: zum einen, wie er in Bezug auf Olivia empfand. Und zum anderen, was Amy über sich selbst wusste. Olivia hatte ein paar interessante Theorien über den ersten Punkt geäußert, aber Amy war absolut nicht bereit, ein möglicherweise sinkendes Schiff zu besteigen. Und an dem zweiten Punkt kam sie einfach nicht vorbei. Selbst Panzertape und Superkleber konnten das, was in ihr kaputt war, nicht reparieren.
Trotzdem schnürte dumme Hoffnung ihr die Kehle zu. Es war Zeit, dem ein Ende zu setzen. «Weißt du noch, welche Farbe das Kleid hatte, das Olivia zum Abschlussball getragen hat?»
Amy brauchte die Erinnerung daran, dass sie niemals diejenige gewesen war, die er wollte. Wenn er die richtige Antwort wusste – und daran zweifelte sie keine Sekunde –, würde sie aufhören können, sich selbst mit Was-wäre-Wenns zu foltern. Sie würde ihre Beziehung wieder in eine Freundschaft zurückzwingen und die Chemie zwischen ihnen ignorieren, bis Nakos aufgab.
Er starrte sie an, als könne er einfach nicht begreifen, warum sie eine so seltsame Frage stellte, dann rieb er sich die Augen. «Blau. Dunkelblau und knielang. Warum?»
Bingo. Trotzdem sorgte der Beweis ihrer Theorien dafür, dass ihr leicht übel wurde. Dabei sollte sie inzwischen an Enttäuschungen gewöhnt sein.
«Hier.» Sie drückte ihm die Eispackung in die Hand und stand auf. «Das landet sowieso nur ohne Umwege auf meinem Hintern.» Sie wandte sich ab und zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
«Dein Kleid war grün.»
Sein ruhiger, entschlossener Tonfall ließ sie an Ort und Stelle erstarren. Das Gesicht zur Hintertür gerichtet, mit dem Rücken zu Nakos, versuchte sie, Luft in ihre Lunge zu zwingen. Die kleinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf.
Kleidung raschelte. Seine Stiefel ließen die Holzplanken vibrieren, bis er hinter ihr anhielt. «Ich weiß nicht, wie genau ihr Frauen diese Farbe nennt, aber es war ein Grünton. Die Farbe von Gras. Der Stoff fiel dir bis auf die Knöchel. Jedes Mal, wenn du dich vorgebeugt hast, ist einer der dünnen Träger über deine Schulter nach unten gerutscht. Du hast den halben Abend damit verbracht, ihn wieder nach oben zu ziehen. Deine Schuhe waren schwarz, du hast die Haare hochgesteckt getragen und hattest eine Kette mit einem gelben Stein als Anhänger.»
Scheiße. Oh Gott, scheiße. Er erinnerte sich. Und zwar bis ins kleinste Detail. Womit Grund Nummer eins, ihm nicht zu verfallen, einfach so aus dem Fenster flog.
Zitternd starrte Amy die Fliegengittertür zur Küche an. Hitze stieg in ihr auf, und ihre Lunge drohte zu kollabieren. Seine Gegenwart hinter ihr war so deutlich zu spüren, als hätte er sein eigenes Gravitationsfeld, und es kostete sie alle Kraft, sich nicht umzudrehen.
«Geht es hier um Olivia? Meine Gefühle für sie?» Sie hörte, wie Nakos sein Gewicht verlagerte. «Ich konnte mich gegen diese Gefühle damals ebenso wenig wehren, wie ich es jetzt bei meinen Gefühlen für dich kann. Das bedeutet nicht, dass du unsichtbar warst, Ames.»
Ihre Lider sanken nach unten. Sie konnte es nicht ertragen. Er brachte sie mit seiner Freundlichkeit um. Wie oft in den vielen Jahren hatte sie darauf gehofft oder innerlich darum gebettelt, genau diese Worte aus seinem Mund zu hören? Sich danach gesehnt, dass er sie als Frau wahrnahm? Dass er es nicht tat, war nicht einmal so furchtbar gewesen. Es lag eine gewisse Sicherheit darin. Unerfüllbare Träume, bei denen er sich keine Sorgen um Reue oder Schuldgefühle machen musste.
Und er hatte von seinen Gefühlen gegenüber Olivia gesprochen, als lägen sie in der Vergangenheit. Als gäbe es sie nicht mehr.
«Ames, ich …»
Sie wirbelte herum, riss ihm das Eis aus der Hand und ging mit großen Schritten ins Haus.
Fluchend folgte er ihr. «Was hast du damit gemeint, dass das Eis direkt auf deinen … Hintern wandern würde? Was stört dich denn bitte daran?»
Klar. Sie hatte ungeheure Lust, ihr Gewichtsproblem mit ihm zu diskutieren. Er mit seinem Waschbrettbauch und der muskulösen Brust und den starken Armen würde das auf keinen Fall verstehen. Peinlicher konnte es kaum werden.
Sie beschäftigte sich damit, den Löffel abzuspülen, dann verschloss sie das Eis wieder und stellte es ins Tiefkühlfach. Nakos beobachtete jede ihrer Bewegungen, die Hände in die Hüften gestemmt.
Auf zitternden Beinen verließ Amy die Küche. Alles, was sie jetzt noch wollte, war, sich in ihrem Zimmer zu verkriechen. Sie war entschlossen, die Treppe zu erreichen, bevor er ihr ein weiteres Mal den Boden unter den Füßen wegzog. Die Schritte, die ihr folgten, verrieten, dass die Diskussion für ihn noch nicht beendet war.
«Du hattest recht, anim
Verdammt, verdammt, verdammt.
Erneut stoppte sie auf der untersten Stufe. Seufzte. Überlegte. Und drehte sich schließlich zu ihm um.
«Diese Veränderung zwischen uns ist körperlich. Mein Körper reagiert auf deinen. Und je länger wir diese Anziehung ignorieren, desto stärker wird sie werden.» Langsam kam Nakos näher, bis der Abstand zwischen ihnen verschwunden war. «Seit ich dich im Bad überrascht habe, kann ich kaum noch an etwas anderes denken. Ich will dich. Ist es das, was du hören willst?»
Ihr feuchtes Höschen sagte ja. Ihr Gewissen schrie laut nein. Klugerweise hielt sie den Mund.
«Aber du hattest auch unrecht. Wir sind Freunde.» Er musterte sie mit zusammengebissenen Zähnen. «Mein Kopf und mein Herz spielen auch eine Rolle. Sonst würden wir hier nicht stehen. Also nein, diese Sache ist nicht rein körperlich. Ich werde mit keiner Frau intim, zu der ich nicht eine gewisse Verbindung verspüre. So ticke ich einfach nicht.»
Ratlos biss sie sich auf die Lippen und sah ihn an. Sah ihn wirklich an. Er wirkte so verdammt entschlossen, und die Tatsache, dass es dabei um sie ging, verschlug ihr die Sprache.
Ihr gesamtes Leben hatte sie sich genau nach dem hier gesehnt. Akzeptanz. Aufmerksamkeit. Dass jemand um sie kämpfte. Sie hatte das nie bekommen. Schon gar nicht von ihren Eltern, die einen Sohn gewollt und stattdessen eine Tochter bekommen hatten. Wäre sie ein Junge gewesen, wäre Kyle gar nicht gezeugt worden. Ihre Eltern hatten sie die gesamte Kindheit und Jugend über auf ihre Fehler hingewiesen, hatten sie mit Bibelversen beschossen und mit Geringschätzung behandelt. Außerdem hatte Amy immer den Eindruck, dass Kyle nur aus Pflichtgefühl zu ihr hielt. Keiner ihrer Liebhaber – und auch nicht ihr Exehemann – hatte sich je irgendwelche Mühe mit ihr gegeben. Schließlich war sie ersetzbar. Ein Wegwerfprodukt.
Mae, Olivia und Nakos waren die einzigen Ausnahmen. Doch selbst bei ihnen hatte sie sich oft gefühlt, als passe sie nicht dazu. Als wäre sie nur noch aus Gewohnheit Teil ihrer Welt – nicht weil die anderen das wirklich wollten.
Amy hatte gelernt, die Starke zu spielen und vorzugeben, sie brauche keinen Ritter in schimmernder Rüstung; sie könne ihre Monster selbst töten. Doch die Wahrheit zeigte sich in ihrem Versagen. Sie war eine laufende, sprechende, atmende Lüge, entstanden aus Verzweiflung und Einsamkeit. Und wenn Nakos so weitermachte, würde sie ihn mit in ihre Hölle ziehen, ohne Hoffnung auf Entkommen.
Seine dunklen Augen bohrten sich in ihre, flehend, suchend, umrahmt von langen Wimpern. Das vorgeschobene Kinn und die dünnen Lippen verrieten seinen Ärger. Gleichzeitig wirkte seine Haltung entspannt, als warte er einfach darauf, dass Amy nachgab. Ihre Meinung änderte und sich in seine Arme warf. Alle Gründe vergaß, die gegen das hier sprachen, und sich einfach an seinen Körper presste.
Schließlich runzelte er die Stirn, als wäre er zu einer Erkenntnis gekommen oder ein Puzzlestück hätte seinen Platz gefunden. «Du machst mich immer nervös.» Sein leicht schiefgelegter Kopf und der unsichere Tonfall wirkten, als müsste er noch herausfinden, ob das wirklich stimmte.
Sie zuckte zusammen. Blinzelte. «Was? Wir kennen uns seit …»
«Seit wir neun sind. Ja, ich weiß.» Er schüttelte ungläubig den Kopf. «Trotzdem ist es wahr. Du machst mich nervös. Das erste Mal direkt, als ich dich als Kind auf dieser Reifenschaukel gesehen habe. In unseren Teenager-Jahren hat sich das Gefühl verstärkt, und jetzt ist es konstant vorhanden.» Er atmete tief durch. «Ich spüre ein … Flattern in der Brust, sobald du einen Raum betrittst oder ich dich im Vorbeigehen aus dem Augenwinkel sehe. Selbst dann, wenn jemand nur deinen Namen erwähnt.»
Er kam zwei Schritte näher und hielt wieder an. «Es gibt quasi niemanden, in dessen Nähe ich mich wohler fühle als in deiner. Besonders weil du immer offen deine Meinung sagst. Dennoch stimmt es. Wir kennen uns schon all diese Jahre, und du machst mich immer noch nervös.» Er hob die Hand, um gewohnheitsmäßig seinen Hut zurechtzurücken, doch dann fiel ihm auf, dass er ihn abgenommen hatte. Also strich er sich stattdessen über den Pferdeschwanz in seinem Nacken. «Hihcebe» , murmelte er. «Das zwischen uns war immer schon da.»
Er suchte ihren Blick und hielt ihn. Qual und dunkle Leidenschaft in mitternachtsschwarzen Tiefen. «Es war immer schon da», wiederholte er fest. «Vielleicht war ich nicht bereit, mir diese Gefühle einzugestehen. Vielleicht wusste ich auch instinktiv, dass sie bedeutungsvoll sind. Ich schätze, ich habe so lange gebraucht, sie zu erkennen, weil du mich für gewöhnlich mit schlagfertigen Antworten überrumpelst, sodass ich nicht klar denken kann.»
Plötzlich straffte er sich und schnaubte. «Aber jetzt sagst du gar nichts, oder? Du bist untypisch still.»
Was zur Hölle sollte sie schon sagen? Wenn sie seine Worte richtig deutete, hatte er gerade erklärt, dass er diese Anziehungskraft bereits seit Anfang an empfand. Was nicht stimmen konnte.
Irrationale Freude stieg in ihr auf und versuchte, sich in ihrer Brust häuslich einzurichten. Doch entschlossen drängte sie diese Emotion zurück. Selbst wenn sie ihren Gefühlen vertraut hätte, spielte es keine Rolle. Sie würde nie – konnte niemals – mit Nakos zusammen sein. Sie liebte ihn zu sehr, seit zu langer Zeit, um zu glauben, dass sie ihn jemals verdienen würde.
«Sag etwas, anim
Engel. Wie sehr sie sich wünschte, er würde aufhören, sie so zu nennen. Der Kosename sorgte nur dafür, dass sie noch mehr Schuldgefühle quälten und die Hoffnung sich weigerte, in der Dunkelheit zu verschwinden, in die sie gehörte. Außer Reichweite.
Sie rieb sich über die Stirn. «Ich glaube, ich hätte dir nach dem ersten Bier das Trinken verbieten sollen.»
Seine Augenbrauen schossen nach oben. Er stieß ein schnaubendes Lachen aus. «Ich hatte nur ein Bier, und selbst das habe ich nicht ausgetrunken. Versuch es noch mal.»
Kaum zu glauben, dass sie Alpha-Nakos noch vor einer Woche total heiß gefunden hatte. Dabei war es unglaublich gefährlich, wenn er diese Seite von sich an die Oberfläche dringen ließ.
Schön. Dann musste sie das hier einfach abbrechen. Sie drehte sich um und … schaffte es nirgendwohin.
Fünfundneunzig Kilo heißer, harter Mann pressten sich von hinten gegen ihren Körper. Er schlang seine Arme fest um ihre Taille und zog sie an sich. Seine Lippen glitten über ihre Ohrmuschel, sodass Amy seinen warmen Atem spüren konnte und ein Zittern ihren gesamten Körper überlief. Dieser unglaubliche Duft nach Natur und Erde, der ihm eigen war, umhüllte sie im selben Moment, in dem ein seltsames Gefühl von Sicherheit sich in ihr ausbreitete.
Sie wimmerte. Heiliges Jesuskind. Bisher hatte sie sich immer über Frauen lustig gemacht, die mit ihren Intimteilen dachten und den gesunden Menschenverstand von Lust vernebeln ließen. Weil sie selbst so etwas nie erlebt hatte, war sie davon ausgegangen, dass sie dazu nicht fähig und das sogar vorteilhaft war. Doch diese sinnliche Hitze und der süße Schmerz machten süchtig. Zehn Sekunden, und sie war bereits reif für eine Entziehungskur.
Nakos drehte sie um und schob sie sanft Richtung Wand, die Hände auf ihren Schultern. Er ließ seinen Blick langsam, fast gemächlich, über ihr Gesicht gleiten und nickte. «Das dachte ich mir.»
Himmel! Erneut drängte er seinen Körper gegen ihren, diesmal von vorne, und zwei muskulöse Oberarme umrahmten ihren Kopf. Sein harter Oberkörper hielt sie gefangen. Sie drückte den Kopf gegen die Wand.
«Dein Herz rast an meiner Brust, du atmest schwer, und der Blick in deinen Meerjungfrauenaugen ist verhangen, Baby. Du willst mich. Und ich bin fast verrückt vor Verlangen.» Nakos ließ seine Nasenspitze über ihre streifen, dann senkte er das Kinn. Seine Lippen glitten über ihre Kehle. Sie erschauerte. Wieder. Oder immer noch. «Ich weiß nicht, was in deinem Kopf vor sich geht oder welche Entschuldigungen du dir zurechtgelegt hast, aber ich bin fertig damit, auf Zehenspitzen um dich herumzuschleichen. Ich werde dich umstimmen, und wenn ich dafür die nächsten fünfzig Jahre brauche.»
Das Blut rauschte in ihren Ohren, als Nakos sie ansah, seine Lippen nur Millimeter von ihren entfernt. Ohne sie aus den Augen zu lassen, packte er einen ihrer Schenkel und legte ihr Bein um seine Hüfte. Dann presste er sich an sie. Sie keuchte, als seine harte Länge sich gegen ihre Mitte drängte. Selbst durch die Jeans hindurch war es besser als alles, was sie je mit anderen Männern erlebt hatte.
Nakos stöhnte, laut und kehlig. «Das stellst du mit mir an. Nachts, wenn ich versuche zu schlafen, bei der Arbeit, in meinem Truck, auf einem Pferd oder wenn du in meiner Küche ein verdammtes Sandwich machst. Ein Gedanke an dich, ein Molekül deines Parfüms, mehr braucht es nicht, anim
Er sah ihr tief in die Augen. Das Einzige, was sie auf den Beinen hielt, war die Tatsache, dass sie zwischen der Wand und seinem harten Körper gefangen war. Ihre Hirnzellen implodierten. Ihre Brüste prickelten. Ihre inneren Muskeln zogen sich zusammen. Und er starrte sie nur an, wirkte dabei kühl und kontrolliert. Doch gleichzeitig vibrierte er förmlich, als wäre ein wildes Tier unter der Oberfläche gefangen.
Wieder stöhnte er, dann senkte er den Mund auf ihren. Er drang zwischen ihre Lippen, erkundete sie mit der Zunge. Liebkosend. Schmeichelnd. Dominierend. Er nahm sich Zeit, zeigte seine geduldige Seite. Doch sein Körper sprach eine andere Sprache. Angespannte Muskeln und schwere Atemzüge durch die Nase, während er sich immer wieder gegen sie presste.
Wachs. Sie war Wachs in seinen Händen.
Nakos knabberte an ihrer Unterlippe, dann hob er den Kopf und sah sie an. Seine Finger gruben sich in ihren Hintern, um sich gleich darauf wieder zu lösen, bis sein Griff erneut ganz sanft war. «Du bist gewarnt. Morgen geht es los.»