Nate lehnte mit verschränkten Armen im Scheunentor. «Mit Amy scheint alles gut zu laufen. Wieso wirkst du so irritiert?»
Nakos strich Midnight, dem dreijährigen Hengst, ein letztes Mal über die Flanke, dann schloss er die Boxentür. Unsicher, wie er antworten sollte, ließ er den Blick über das Land hinter dem Exsoldaten gleiten, als könnte er dort Antworten finden.
Ein Gewitter zog auf; finstere Wolken verdunkelten den Himmel. Elektrizität knisterte in der schwülen Luft, die nach Regen roch. Sie hatten den Arbeitstag gerade rechtzeitig beendet, um dem Zorn der Natur zu entkommen. Die Vorstellung, sich vor dem Kamin in Amys warmem Körper zu verlieren, während draußen ein Sturm tobte, ließ sich kaum übertreffen.
Nur dass … «Sie versteckt etwas. Vor mir, vor …» Er hob die Hand, dann schlug er sich auf den Schenkel. Frustration ließ seine Schläfen pulsieren. «Ich weiß es nicht. Sie hat aufgehört, gegen mich anzukämpfen. Das ist immerhin etwas. Aber irgendetwas in ihrem Kopf hält sie davon ab, sich ganz auf unsere Beziehung einzulassen. Ich wünschte, ich wüsste, was es ist. Sie sieht mich immer wieder mal an, als versuche sie gerade, den Mut zu finden, es mir zu sagen. Aber in der letzten Sekunde macht sie dann immer dicht.» Was ihn sauer machte. Wann hatte er ihr je den Eindruck vermittelt, sie könne nicht mit ihm reden? Über egal was?
Nate nickte langsam. «Hast du sie danach gefragt?»
«Nein.» Die Situation war für sie beide offensichtlich, auch wenn alles andere glattlief. «Ich versuche, ihr Zeit zu lassen, denn was auch immer es ist, es ist … schlimm.» Das erkannte Nakos an den Schatten in ihrem Blick, der gehetzten Miene. Und es brachte ihn schier um.
«Du liebst sie, oder?»
Nakos schloss die Augen. «Ja. Und das ist die andere Sache. Ich habe es ihr gesagt, mehrfach, und sie hat nichts erwidert.» Als Nate ihn nur unverwandt anstarrte, seufzte Nakos. «Was?»
«Für Leute wie sie und mich ist das nicht einfach. Amys und meine Situation sind sich nicht unähnlich. Es ist schon witzig: Noch vor ein paar Monaten bist du zu mir gekommen und hast mir erklärt, wie Olivia tickt. Ich schätze, ich versuche jetzt, den Gefallen zu erwidern.»
Nate war ohne Liebe und Zärtlichkeit aufgewachsen. Bis er nach Meadowlark gekommen und auf Olivia getroffen war, war er durchs Leben gedriftet und hatte seine Fehler ein ums andere Mal wiederholt. Ja, Amys Eltern waren schwierig, aber Nakos fand trotzdem nicht, dass es viele Ähnlichkeiten zwischen dem Exsoldaten und Amy gab.
«Denk mal darüber nach.» Nate richtete sich auf, stellte sich breitbeiniger hin. «Ja, mein Leben war schrecklich, bevor ich hierhergekommen bin, doch in gewisser Weise war es für Amy noch schlimmer.» Er nahm seine schwarze Baseballkappe ab, rieb sich den kahlrasierten Schädel und setzte die Mütze wieder auf. «Ich gehörte nirgendwohin, hatte keine Familie. Das Leben in Pflegefamilien war nicht angenehm, aber ich kannte meinen Platz. Amy ist in einem Haus mit ihrer Mom und ihrem Dad aufgewachsen – ihren leiblichen Eltern –, und die haben sich einen Dreck für sie interessiert. Kannst du dir
etwas Schlimmeres vorstellen? Versetz dich einmal in ihre Lage.» Er hob eine Hand, die Handfläche nach vorne gerichtet, um jeglichem Protest vorwegzukommen. «Und bevor du jetzt sagst, dass sie doch dich und Olivia hatte, versuch wirklich, es aus ihrer Sicht zu sehen. Wenn ihre eigenen Eltern sie nicht geliebt haben, wie soll sie da anderen Leuten vertrauen, die behaupten, sie täten es? Ihr grauenhafter Ex und die Art, wie er sie behandelt hat, haben diese Überzeugung nur verstärkt.»
Hihcebe
, Nate hatte recht. Nakos hatte selbst schon darüber nachgedacht. Aber er wusste einfach nicht mehr, was er noch tun sollte, um Amy zu beweisen, dass er sie wirklich liebte. Er liebte jeden Moment, den er mit ihr verbrachte, und wenn sie getrennt waren, fühlte er sich manchmal, als fehle ihm die Luft zum Atmen. Welche Dämonen auch immer in Amy lauerten, sie hatten ihre Klauen auch in ihn gehauen. Er würde sich um einiges besser fühlen, wenn er wüsste, was das für Dämonen waren. Weil er sie dann bekämpfen konnte.
Nakos ging zum Scheunentor. Über Nates Schulter hinweg sah er Amys Eltern, die mit einem Mann, den Nakos nicht erkannte, vor dem Haus standen. Begleitet wurde die Gruppe von Amys Bruder Kyle und Olivia. «Was wollen die hier?»
Nate drehte den Kopf, zog eine finstere Miene und wandte sich wieder Nakos zu. «Der Onkel ist heute Morgen in der Stadt angekommen. Sie sind hier, um Kyle zu besuchen. Olivia hat sie die letzte Stunde herumgeführt.» Er hielt inne. «Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Kerl. Ich habe Kyle gebeten, bei Olivia zu bleiben, damit ich bei dir vorbeischauen kann.»
«Wo ist Amy? Haben sie sie getroffen?» Wenn sie den ganzen Weg zur Ranch fahren konnten, um ihren Sohn zu
besuchen, sollten sie gefälligst auch kurz nach ihrer Tochter schauen.
«Nein, sie sind draußen geblieben. Als ich Amy das letzte Mal gesehen habe, stand sie mit Mae in der Küche.»
Das war wahrscheinlich doch besser. Nakos knirschte mit den Zähnen. «Lass mich noch kurz die Pferde …»
Er drehte sich um und entdeckte Amy am hinteren Scheunentor. Sie trug ihre übliche Alltagskleidung – Jeans und eine pfirsichfarbene Bluse –, doch alles war verknittert. Mehrere Strähnen waren ihrem Pferdeschwanz entkommen und tanzten unordentlich um ihr Gesicht. Sie hatte die Hände vor dem Körper verschränkt, so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten, und trug nur einen Flip-Flop. Der andere Fuß war nackt, als wäre sie gerannt und hätte den Schuh verloren. Ihre vollen Lippen waren nur noch ein schmaler, verzweifelter Strich, und ihre Meerjungfrauenaugen schwammen in Tränen.
Sämtliche Alarmglocken in Nakos’ Kopf begannen zu schrillen. «Was ist passiert?»
«Können wir nach Hause fahren?» Ihre Stimme klang brüchig, und als er näher trat, bemerkte er, dass Amy zitterte. Am ganzen Körper.
Hilfesuchend sah er zu Nate, erfüllt von tiefer Sorge. Doch auch Nate starrte Amy an, eine tiefe Falte zwischen den Brauen. Seiner Miene nach zu schließen, wusste auch er nicht, warum sie so durcheinander war.
«Könntest du uns eine Sekunde geben?»
Nate sah Nakos an, dann glitt sein Blick wieder zu Amy. «Ich bin drüben beim Haus, falls du mich brauchst.»
Sie nickte heftig, fast verzweifelt. Sobald Nate verschwunden war, richtete sie ihre weit aufgerissenen Augen auf Nakos.
«Bitte, können wir fahren?» Ihr Atem stockte, und er geriet offiziell in Panik.
Sanft umfasste er Amys Schultern und zog sie an sich, streichelte ihr den Rücken. Ein Espenblatt in einem Oktobersturm hätte nicht heftiger zittern können als sie. Sorge schnürte ihm die Luft ab, und eisige Kälte ergriff Besitz von seinem Körper. Das hier war nicht seine Amy. Ihre schlagfertige, kämpferische Persönlichkeit war verschwunden, und zurückgeblieben war eine Frau, die er nicht kannte. Er umarmte sie fester – nicht nur, weil sie es brauchte, sondern er auch.
Er gab ihr einen Kuss auf den Scheitel, dann ließ er sein Kinn auf ihren Kopf ruhen. «Rede mit mir, bixooxu
. Wieso bist du so durcheinander? Geht es darum, dass deine Eltern hier sind?» Sein Herz raste fast genauso schnell wie ihres.
Sie löste sich von ihm, dann richtete sie ihren Blick auf alles, nur nicht auf ihn. «Ich will weg. Ich will ihn nicht sehen. Ich kann im Moment nicht damit umgehen. Ich kann es einfach nicht.»
Nakos erstarrte, nicht nur wegen ihres seltsamen Verhaltens, sondern auch wegen ihrer Wortwahl. Sie hatte ihn
gesagt, nicht sie
. Meinte sie ihren Onkel? Wieso sollte ein Mann, den sie seit Jahren nicht gesehen hatte, Angst und Schrecken in ihr auslösen? So sehr, dass sie am ganzen Körper zitterte und fliehen wollte? Es gab verdammt noch mal fast nichts, wovor Amy sich fürchtete.
Erinnerungen jagten durch seinen Kopf, schneller als Blitze und doppelt so hell. Wie Amy in der Kneipe kreidebleich geworden war, als sie erfahren hatte, dass dieser Kerl in die Stadt kam. Was Olivia darüber gesagt hatte, wie unwohl sie sich als Kind in seiner Gegenwart gefühlt hatte. Beide Frauen hatten erklärt, er wäre
unheimlich und dass er sie angestarrt hätte wie …
Zur Hölle. Nakos’ Lunge versagte schier den Dienst, als er Amy ansah, die vor panischer Angst hilflos zitterte. Eisiges Entsetzen ergriff Besitz von ihm.
Nein. Lieber Himmel, nein.
«Was hat er getan, Ames?»
Sie stieß ein Wimmern aus, machte sich von ihm los und begann, auf und ab zu tigern, die Hände an die Schläfen gepresst. Die Worte, die über ihre Lippen drangen, waren so leise, dass er sie kaum verstand. «Lass mich das nicht noch mal durchleben … Ich habe es überwunden … Kann mich nicht verletzen … Ich will nur nach Hause …»
Nakos’ Verdacht verhärtete sich. Es fühlte sich an, als würde ihm das Herz aus der Brust gerissen und er würde gleich vollkommen durchdrehen. «Ames», presste er hervor. Mit großen Schritten ging er zu ihr, packte ihre Schultern, senkte den Kopf, um ihr in die Augen zu sehen. «Was hat er getan? Sag es mir», forderte er.
Doch sie schwieg, starrte ihn nur aus glasigen Augen und mit zitternder Unterlippe an. Voller Qual.
Er versuchte nachzudenken. Weitere Erinnerungen stiegen auf. Wie sie sich versteift hatte, als er sie dieses erste Mal von hinten genommen hatte. Das Geständnis, dass sie ihre Jungfräulichkeit in jüngerem Alter verloren hatte als die meisten Mädchen.
Galle stieg ihm in die Kehle. Lieber Gott, mach, dass ich mich irre.
«Hat er …» Er konnte die Worte nicht einmal aussprechen. «Hat er … Hand an dich gelegt?» Sag nein. Bitte, sag nein.
Sie wimmerte mit flehendem Blick. Sekunden vergingen. Schließlich nickte sie.
Nein, nein, nein.
«Hat er dich geschlagen? Getreten?»
Sie schüttelte den Kopf.
Die Bedeutung dieses Kopfschüttelns war grauenhaft. Nakos konnte es einfach nicht ertragen. Er hatte Amy vor wenigen Monaten aus genau dieser Scheune getragen – leblos, voller Blut. Noch immer hatte er sich von diesem Anblick nicht erholt. Aber … das? Die Vorstellung, dass sie missbraucht worden war? Das war sein Ende. Das konnte er nicht überleben. Nicht sie. Hihcebe
, nicht seine Amy.
Er wollte sich übergeben. «Schlimmer?» Als wäre die Vorstellung, dass dieser Mann sie geschlagen hatte, nicht schlimm genug. Er wollte sterben. Jetzt auf der Stelle. «Hat er etwas Schlimmeres getan?»
«Er hat es getan», flüsterte sie. Tränen hingen in ihren dunklen Wimpern, fielen auf ihre fahlen Wangen.
Und er wusste es. Bevor sie den Mund öffnete, um das Wort auszusprechen, wusste er bereits, was ihn erwartete. Er versuchte, sich zu wappnen, versagte aber vollkommen.
«Er hat mich vergewaltigt.»
Er hielt ihren Kopf in seinen zitternden Händen und presste die Augen zusammen. Schreckliche, quälende Visionen schossen durch seinen Kopf, trafen ihn wie Messerklingen. Zerrissen ihn. Er gab Amy frei, um nach hinten zu stolpern, die Arme vor den Bauch geschlagen.
Wut – rotglühend – stieg in Nakos hoch. Verschlang ihn. Das Gefühl war so allumfassend, so gewalttätig, als wäre es aus den tiefsten Tiefen der Hölle heraufbeschworen worden. Sein Blut kochte, und Druck baute sich in seinem Schädel auf, hämmerte gegen seine Schläfen. Jemand – dieses Ding
dort draußen – hatte es gewagt, seine Amy zu verletzen. Seinen wunderschönen, mutigen Engel.
Ein Knurren drang aus seiner Kehle, und er wirbelte herum.
Stürmte aus der Scheune. Sah sich kurz um und entdeckte ihre Eltern, Kyle, Nate und Olivia an derselben Stelle wie vorhin. Neben ihnen stand der Mann, der jetzt sterben würde. Er würde ihn umbringen. Langsam. Er sollte leiden, bevor er verreckte.
Er stiefelte in Richtung der Gruppe, hielt direkt auf den Bastard zu. Ihm blieb ein kurzer Moment, um durch den roten Schleier vor seinen Augen eine fette Wampe und braunes, über eine Glatze gekämmtes Haar wahrzunehmen. Dann war er bei dem Kerl angekommen und rammte ihm seinen linken Unterarm unter die Kehle, um ihn dann an der Hauswand festzunageln.
Nakos riss den freien Arm zurück, um seine Faust mit aller Kraft in das hässliche Gesicht vor ihm zu rammen. «Du.» Schlag.
«Kranker.» Schlag.
«Drecksack.» Schlag, Schlag.
Knochen brachen. Blut spritzte. Der Typ rutschte zu Boden, aber Nakos beugte sich vor, um ihn wieder nach oben zu zerren.
Arme schlangen sich um ihn, zogen ihn mehrere Schritte nach hinten, verhinderten, dass er weiter die gerechte Strafe austeilen konnte. Nate. Er musste es sein, mit den Armen voller Tätowierungen – auf keinen Fall war irgendjemand außer dem Exsoldaten stark genug, um Nakos’ Wut etwas entgegenzusetzen. Nakos kämpfte, versuchte sich zu befreien, doch Nates’ Griff blieb unerschütterlich.
«Atme tief durch, mein Freund.»
«Lass mich los.» Wieder wehrte Nakos sich gegen die Arme und erreichte damit gar nichts.
«Was zur Hölle sollte das, Mann?» Kyle, der inzwischen neben seinem Onkel kniete, starrte Nakos böse an.
Mae kam aus dem Haus und ließ die Fliegengittertür hinter sich
zufallen. «Was ist das für ein Lärm?» Sie warf sich ein Handtuch über die Schulter, während ihr Blick von einem zum anderen glitt in dem Versuch, die Situation abzuschätzen. «Also?»
«Er ist aus dem Nichts aufgetaucht und hat mich geschlagen.» Der Onkel wischte sich mit dem Unterarm das Blut aus dem Gesicht und sah von Amys Eltern zu Kyle. «Wer ist dieser Kerl?»
«Das ist unser Vorarbeiter, Onkel Clint.»
Amys Vater streckte die Hand aus und half Clint auf die Beine. «Genauso wild wie der Rest seiner Art.»
«Wie kannst du es wagen?» Amys Mutter sah Nakos angewidert an. «Ich will, dass er verhaftet wird.»
Nakos biss die Zähne zusammen, bis er glaubte, sie müssten zerbröseln, seine Muskeln zum Zerreißen angespannt. «Wussten Sie es?» Erneut wehrte er sich gegen Nates Griff, den Blick auf Amys Eltern gerichtet. «Wussten Sie, was er ihr angetan hat? Antworten Sie!»
«Okay, Auszeit.» Nate schob sein Gesicht vor das von Nakos. «Erklär, was hier los ist. Ich gehe davon aus, dass ‹er› Clint ist und die ‹sie›, um die es hier geht, dürfte Amy sein. Was ist passiert?»
Schwer atmend starrte Nakos Nate an. «Er hat sie … er hat …»
«Hey.» Olivia trat neben ihn und strich sanft über Nakos’ Arm. «Sie sind gerade erst angekommen. Wir sind Amy gar nicht begegnet.»
«Er redet nicht von heute», sagte Nate gepresst. Er musterte Nakos angespannt. Nakos konnte förmlich sehen, wie Nate im Kopf die Puzzlestücke zusammensetzte.
«Aber das letzte Mal, als er hier war …» Olivia rieb sich die Stirn.
«Wart ihr zwölf. Da war er das letzte Mal in der Stadt.» Tränen
brannten in Nakos’ Augen, schnürten ihm die Kehle zu. Er musste die Knie durchdrücken, um nicht zusammenzubrechen. «Sie war nur ein Mädchen, Little Red. Ein Kind.» Scheiße. Er konnte es nicht ertragen.
«Ich verstehe nicht.»
Nakos betete, dass sie es nie wirklich verstehen würde. Er sah Nate an, während die Wut erneut an Hitze gewann. «Er. Hat. Sie. Angefasst.» Nakos knurrte, seine Kehle wund. «Er … hat sie … er …»
Nates Miene wurde hart. Er biss die Zähne zusammen, verengte die Augen zu Schlitzen und gab Nakos langsam frei. Die schweigende Frage in den Augen des Exsoldaten richtete sich allein an Nakos, auch wenn das brutale Glitzern in den dunklen Tiefen verriet, dass er es bereits verstanden hatte.
Trotzdem nickte Nakos einmal, weil er sich nicht sicher war, ob er reden konnte. Seine Wut verklang langsam. Aber was auf die Wut folgte, war viel schlimmer. Erkenntnis. Trauer. Leid. Schuld. Tiefe, allumfassende, unüberwindliche Pein.
Kyle drehte sich um und wich von der Gruppe zurück. «Willst du damit sagen …» Als niemand darauf antwortete, wurde er bleich. «Nein.» Sein entsetzter Blick – aus Augen, die ein wenig heller waren als Amys – richtete sich auf seinen Onkel, dann auf seine Eltern. «Mom? Dad?»
Weder Mr. noch Mrs. Woods bestritt die Anschuldigung. Doch am schlimmsten war, dass keiner von ihnen überrascht oder schuldbewusst wirkte.
Sie haben es gewusst.
Sie wussten es und hatten nichts unternommen.
Clint schwankte, als er einen Schritt auf sie zutrat. «Was ist das für ein Unsinn?»
Nate holte tief Luft, die Nasenflügel gebläht. «Du Hurensohn.» Tätowierungen blitzten auf, dann traf Nates Faust ihr Ziel. Clint kippte um wie ein gefällter Baum. Und diesmal stand er nicht wieder auf. «Übrigens verjährt Vergewaltigung in Wyoming nicht, du Arschloch.» Er deutete auf Amys Eltern. «Keine Bewegung. Sie sind alle verhaftet.» Er warf einen verächtlichen Blick zu dem bewusstlosen Clint. «Auch wegen versuchter Körperverletzung. Ich meine mich zu erinnern, dass er zuerst nach Nakos geschlagen hat. Das hast du doch auch gesehen, oder, Baby?»
Olivia, ihr Gesicht tränenüberströmt, nickte.
«Das ist lächerlich.» Mrs. Woods verschränkte die Arme vor der Brust. «Er hat meiner Tochter nichts angetan, und dieser Barbar hat Clint zuerst geschlagen.»
«Ich würde Ihnen raten, sich auf Ihr Recht zu schweigen zu besinnen.» Nate sah Mae an. «Ruf bitte den Sheriff an. Sag Rip, ich brauche Hilfe.»
«Sicher.» Mae strich sich verwirrt über die weißen Haare, dann verschwand sie im Haus.
Nakos war am Ende seiner Kräfte. Er zog Olivia an sich, weil er die Ruhe brauchte, die sie ihm gewöhnlich schenkte. Doch es reichte nicht. Die Berührung füllte weder die entsetzliche Leere in seiner Brust, noch half sie gegen die Übelkeit oder das Rasen seines Pulsschlags. Es gab nichts, was ihm helfen konnte. Ein raues Wimmern, wie von einem verletzten Tier, entkam seiner Kehle. Zerriss seinen Hals, als es lauter wurde.
Er gab Olivia frei, besorgt, dass er sie zu fest hielt. Stattdessen umklammerte er mit beiden Händen seinen Kopf. Seine Beine gaben nach, und er fiel auf die Knie. «Hihcebe
, Little Red. Ich kann nicht …
Ich kann nicht …» Atmen. Er konnte nicht atmen, verdammt noch mal.
«Kyle, geh und such nach Amy.» Olivia kniete sich vor Nakos, umfasste seine Wangen.
Nate murmelte etwas darüber, dass Amy in der Scheune war. Die Worte erreichten Nakos nur wie durch einen Schleier. Das Rauschen in seinen Ohren war zu laut. Die Welt begann, sich um ihn zu drehen, und Punkte tanzten vor seinen Augen.
«Shhhh.» Olivia streichelte ihm die Wange, doch ihr Duft war falsch. Ihre Berührung fühlte sich nicht richtig an. Sie war nicht Amy. «Alles wird gut. Aber du machst mir Angst. Ich habe dich noch nie so unbeherrscht gesehen. Wir müssen uns jetzt auf Amy konzentrieren, also …»
«Ames.» Ja, das war es, was er brauchte. Er brauchte seine Amy. Er musste sie halten; musste sicher sein, dass es ihr gut ging, ihr versichern, dass ihr niemand jemals wieder auch nur ein Haar krümmen würde. Er sprang auf die Beine und drehte sich in dem Moment um, in dem Kyle aus der Scheune rannte.
«Sie ist nicht mehr da.»
«Was?» Nakos joggte um ihn herum durchs Tor. Leer. Der einsame Flip-Flop, den Amy getragen hatte, lag auf der Erde. Er rannte durch die Scheune, sah zu dem Weg, den sie eingeschlagen hätte, wenn sie zurück zu seinem Haus gelaufen wäre. Nichts. Erfüllt von Panik, eilte er zu den anderen zurück. «Olivia, durchsuch das Haus. Kyle, kontrollier die anderen Scheunen.» Er sah Nate an, der offensichtlich bei Amys Eltern und dem Onkel bleiben musste, bis Rip auftauchte. «Kommst du hier klar?»
«Ja. Geh.»
Nakos umrundete das Haus und hielt vor der Haustür an. Ein Blitz zuckte über den Himmel, direkt gefolgt von einem Donnergrollen. Stirnrunzelnd sah Nakos zum graugrünen Himmel auf. Amy war nicht in seinem Truck und nicht auf der vorderen Veranda. Nur für alle Fälle lief er einmal die gesamte Einfahrt auf und ab, aber auch dort war sie nicht. Als er sich erneut der Hinterseite des Hauses näherte, trat Olivia gerade durch die Fliegengittertür.
«Ich habe überall gesucht. Sie ist nicht im Haus. Tante Mae sagt, sie hat sie nicht gesehen.»
«Scheiße.» Nakos riss sich den Hut vom Kopf, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und setzte den Hut wieder auf. Er konnte nur Amys große blaugrüne Augen vor sich sehen – und die Tränen darin –, als sie seine schlimmsten Vermutungen bestätigt hatte. Daran, wie sie in seinen Armen gezittert hatte. «Scheiße. Wo würde sie hingehen?»
Nate sah nach rechts. «Rip ist da. Gib mir fünf Minuten, um diese Arschlöcher hier wegzubekommen, dann kann ich helfen.» Er wandte sich an Olivia. «Ruf die Rancharbeiter. Sie sollen sich alle in der Scheune versammeln. Wir werden uns in Teams aufteilen.» Er musterte Nakos. «Kontrollier den Hauptweg zu deinem Haus. Vielleicht hat sie einfach beschlossen, zu Fuß zu gehen.»
Nakos rannte los, sprang in seinen Truck, startete den Motor und raste die Einfahrt entlang. Sobald er das Tor passiert hatte, verlangsamte er den Wagen, obwohl das Blut in seinen Adern rauschte.
Während er nach Amy Ausschau hielt, erinnerte er sich an das Gespräch in der Scheune und fluchte. Er hätte bei ihr bleiben müssen, hätte sie weiter in seinen Armen halten und sich um sie kümmern
müssen. Stattdessen war er auf vollkommen untypische Art ausgeflippt, und jetzt wurde Amy vermisst. Die Sorge um sie brannte Löcher in seinen Magen.
Er erreichte sein Haus, ohne sie irgendwo gesehen zu haben. Nur für alle Fälle rannte er hinein, um jeden Raum zu überprüfen. Sie war nicht da. Der Himmel öffnete seine Schleusen, und Regen prasselte in dichten Schwaden vom Himmel, als er zum Haupthaus zurückfuhr. Die Scheibenwischer konnten kaum etwas ausrichten, und er stellte sich Amy im Regen vor. Allein.
Als Nakos zurückkehrte, waren alle Männer in der Scheune versammelt und hörten aufmerksam Nate zu, der sofort verstummte. «Irgendwas?»
Nakos schüttelte den Kopf. Ihm war schlecht. Wenn sie nicht heil zurückkam – wenn es ihr nicht gut ging –, würde er den Verstand verlieren. Aber er würde sie finden. Das schwor er bei allem, was ihm heilig war.
«Okay. Los geht’s. Funkt mich an, wenn ihr irgendetwas entdeckt.» Die Männer verließen die Scheune, und Nate deutete auf die Luftbildkarte der Wildflower Ranch, die an der Wand hing, und forderte Nakos gleichzeitig mit einer Kopfbewegung auf, näher zu treten. «Zweierteams fahren mit den Quads los, hierhin, hierhin und hierhin.» Er deutete auf drei verschiedene Gebiete. Auf dem vierten standen das Haupthaus und die Scheunen. «Olivia ist mit Kyle unterwegs zu deinem Haus. Olivia glaubt, Amy könnte einen der Schleichwege dorthin genommen haben. Mae bleibt hier und meldet sich, falls Amy auftaucht.»
Nakos rieb sich mit zitternder Hand das Gesicht. «Danke für deine Hilfe. Ich kann nicht klar denken.»
«Wir werden sie finden.» Nate seufzte. «Ich kann ihre Eltern und ihren Onkel nur bis morgen festhalten, wenn Amy keine Aussage über …» Er schloss die Augen. An seinem Kinn zuckte ein Muskel. «Ich will dem Kerl schon wieder die Faust ins Gesicht rammen.» Er lockerte seine Schultern, dann öffnete er die Augen. «Rip hält sie vorerst wegen angeblich unerlaubten Betretens eines Privatgeländes fest. Dann habe ich die Chance, sie später noch zu vernehmen.»
«Okay.» Zum Teufel mit ihnen. Wo war Amy? «Ich kann nicht hier herumstehen und warten. Ich muss sie suchen.»