Durchnässt und zitternd kauerte Amy in einer Ecke von Olivias altem Baumhaus und versuchte zu atmen. Sie hatte es nicht ertragen können, hatte einfach verschwinden müssen. Schnell. Das Bedürfnis zu flüchten war stärker gewesen als alles andere.
Nachdem Nakos aus der Scheune gestürmt war, hatte sie das Gebäude umrundet, damit niemand sie sah. Dabei war ihr plötzlich der alte Treffpunkt ihrer Kinderzeit ins Auge gefallen. Das Gewitter hatte nicht lange angehalten, aber weil das Baumhaus kein Dach hatte, hatte sie den Regen voll abgekriegt.
Obwohl sie von hier oben einen guten Ausblick hatte, konnte Amy kaum die Lichter im Haupthaus der Ranch erkennen. Das Baumhaus lag weit genug entfernt, um Privatsphäre vorzugaukeln. Die kleine Holzkonstruktion hing hoch in den Ästen einer Eiche und maß höchstens zwei Meter im Quadrat. Die alten Kiefernbretter waren zerkratzt und verfärbt, aber immer noch stabil. Äste formten einen Baldachin über Amys Kopf. Sternen- und Mondlicht drang durch die Blätter. Sie war seit ihrer Kindheit nicht mehr hier gewesen, hatte das Baumhaus fast vergessen gehabt.
Es war ihr als ein guter Ort erschienen, um sich wieder zu fangen. Nur war das inzwischen Stunden her, trotzdem konnte Amy sich nicht dazu bringen, sich zu bewegen. Die Nacht war hereingebrochen, während sie zusammengerollt in der Ecke gelegen hatte. Überall zirpten Grillen. Gras raschelte im Wind, und eine Eule schrie. Die
sanften Naturgeräusche halfen nicht, sie zu beruhigen.
Gott, es war so ein Schock gewesen. Sie hatte neben Mae in der Küche Gemüse gewaschen und sich gefragt, ob Nakos sich wohl später für ein gemeinsames Bad begeistern lassen könnte, dann hatte sie aus dem Fenster geschaut und … ihn
gesehen.
Plötzlich hatte ihr Körper nacheinander alle Funktionen eingestellt. Sie war nicht fähig gewesen, zu denken oder zu atmen oder einen einzigen Satz zu formulieren. Sie hatte nicht ahnen können, dass so etwas passieren würde, wenn sie ihren Onkel wiedersah. Nach dem … Vorfall war er bereits am nächsten Tag wieder nach Texas gefahren, und seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen.
Amy hatte hart, so hart daran gearbeitet, sich zusammenzureißen, weiterzumachen und Schutzmechanismen aufzubauen. Sie hatte diese Sache hinter sich gelassen, war stärker geworden, führte ein halbwegs normales Leben. Und ein einziger Blick auf diesen Mann hatte sie wieder in das hilflose Mädchen verwandelt, das sie einmal gewesen war. Das Mädchen, das gegen eine Ziegelmauer gepresst wurde und vor Schmerzen weinte.
Allein. Vollkommen, absolut allein.
Zum millionsten Mal drang ein tiefes Schluchzen über ihre Lippen. Alle wussten es. Nach dem Geschrei zu schließen, das sie gehört hatte, kannte jetzt jeder ihr schmutziges, beschämendes Geheimnis. Sie zog die Knie an die Brust und ließ die Stirn darauf sinken. Ihre Wangen brannten vor Demütigung, doch gleichzeitig breitete sich Kälte in ihr aus. Drohte sie zu verschlingen.
Würde ihr jemals wieder warm werden? Hatte sie noch Freunde?
Schritte erklangen unter dem Baumhaus. Sie verspannte sich.
«Amy? Ich bin’s, Nate.» Er hielt inne. «Falls du da drin bist, ich komme jetzt hoch. Nur, damit du es weißt. Ich will dich nicht erschrecken.»
Der Boden vibrierte, als er die Füße auf die hölzerne Leiter setzte. Sein kahler Kopf erschien, gefolgt von breiten Schultern und tätowierten Armen, dann einem Torso in einem eng anliegenden schwarzen T-Shirt.
Sein Blick glitt über die Plattform und fand sie. Er atmete tief durch. «Gott sei Dank.» Er kletterte das restliche Stück nach oben und sank ein gutes Stück von ihr entfernt auf die Fersen. «Bist du verletzt?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Gut.» Er zog ein Funkgerät vom Gürtel. «Ich will das nur kurz den anderen sagen, okay?» Er hob das Funkgerät an den Mund, ohne sie aus den Augen zu lassen. «Entwarnung. Ich habe sie gefunden. Sie ist in Ordnung. Kehrt zum Haus zurück und macht Feierabend.»
Nakos, Kyle und Olivia meldeten sich sofort, schossen Salven von Fragen ab.
Nate rieb sich den Nasenrücken. «Olivia, Baby. Sie ist in Sicherheit. Kyle, geh mit Olivia zum Haus. Nakos, gib mir fünf Minuten, dann rufe ich dich auf dem Satellitentelefon an.» Nate lehnte sich gegenüber von Amy an die Wand und streckte die Beine aus. «Das sollte sie für ein paar Minuten ruhigstellen. Wir haben die gesamte Ranch zweimal durchkämmt.»
«Ich wollte niemandem Angst einjagen. Ich … ich musste nur …»
«Weg?» Er nickte. «Das verstehe ich.»
Eher sich verstecken, aber egal. «Wie hast du mich gefunden?»
«Ich habe noch mal auf dieser Seite des Hauses gesucht, da ist mir
das Baumhaus eingefallen.» Als wolle er ihr einen Moment Zeit geben, sah er sich mit einem schiefen Lächeln um. «Olivias geheimer Ort. Sie hat mich einmal hierhergebracht, vor ein paar Monaten. Es war nicht unbedingt eine schlechte Erfahrung.»
Zu ihrer Überraschung musste Amy lächeln. «Wir saßen hier als Teenager immer, haben uns gegenseitig das Herz ausgeschüttet. Deswegen nennt sie es ihren geheimen Ort. Ich vermute, das ist nicht das, was ihr hier getan habt.»
«Oh, es wurden Geheimnisse ausgesprochen. Olivia besitzt die Fähigkeit, alles aus mir herauszulocken.» Er grinste. «Auf die ein oder andere Weise.»
Amy lachte, und ein Teil der Anspannung verließ ihren Körper. «Darauf wette ich.» Sie zitterte und wurde wieder ernst. «Es tut mir wirklich leid.»
«Ich werde das nur einmal sagen, also hör mir genau zu: Du musst dich für nichts entschuldigen. Absolut nichts. Verstanden?» Als sie nickte, entspannte sich seine Miene. «Gut.»
Das Telefon an seinem Gürtel klingelte, was dafür sorgte, dass er den Blick zum Himmel richtete, als bete er um Geduld. «Das ist wahrscheinlich Nakos. Willst du, dass er erfährt, wo du bist?»
Sie wollte niemanden sehen. Konnte es nicht. «Noch nicht.»
Er hob das Handy ans Ohr, lauschte einen Moment. «Ja. Nein.» Nate musterte sie, ließ seinen Blick einmal über ihren ganzen Körper gleiten. «Ich würde dich nicht anlügen. Vertrau mir. Sie ist okay. Sie ist nicht verletzt. Ich werde ihr nicht von der Seite weichen, bis sie hier wegwill. Geh nach Hause. Ich bringe Amy zu dir, wenn sie bereit ist.» Er schloss die Augen, als hätte er Schmerzen. «Ich weiß, Mann. Bye.»
Vorsichtig legte er das Handy zur Seite, starrte es einen Moment an. «Er ist außer sich vor Sorge. Und das nicht nur, weil er nicht weiß, wo du bist.» Nate suchte Amys Blick, hielt ihn fest. «Du hast ihn heute Abend nicht gesehen, Amy, und dafür solltest du dankbar sein. Aber eines musst du wissen: Nakos ist ein Wrack.»
Tränen, heiß und schwer, rannen über ihre Wangen. Sie schlug eine Hand vors Gesicht, als der Druck in ihrer Brust immer weiter zunahm. «Ich konnte ihm nicht erzählen, was passiert ist. Ich habe es so oft versucht, aber … ich konnte nicht. Ich bin so verdammt schwach. Wie soll ich ihm noch unter die Augen treten, jetzt, wo er es weiß?»
«Schwach ist es, ein zwölfjähriges Mädchen zu vergewaltigen, nur weil man es kann.» Nate beugte sich vor. «Stark sein bedeutet, sich wieder auf die Beine zu kämpfen, nachdem ein Arschloch dir etwas unendlich Kostbares gestohlen hat. Stark sein heißt, die Scherben des eigenen Lebens wieder einzusammeln, obwohl jemand dir jedes Gefühl für Sicherheit, jedes Vertrauen genommen hat.» Seine Stimme wurde sanft, und sie entdeckte ein Verständnis in seinen Augen, das sie niemals vermutet hätte, bei einem anderen Menschen zu finden. «Du bist nicht schwach, Amy. Du bist der Inbegriff von Stärke. Zu weinen? Angst zu haben? Hin und wieder weglaufen zu wollen? Das ist nicht schwach. Das zeigt nur, dass du ein Mensch bist.»
«All diese Jahre über ging es mir gut. Wirklich. Bis …»
«Bis dir der Albtraum plötzlich wieder vor Augen geführt wurde.»
Sie atmete zitternd aus. «Ja.» Sie suchte Nates Blick, in der Hoffnung, dass er ihre Zweifel ein für alle Mal tilgen konnte. Sie musste es von einem Mann hören. «Was, wenn …» Sie schluckte schwer, presste eine Hand an den Bauch, um den Aufruhr dort zu
beruhigen. «Ginge es um Olivia, würdest du sie noch mit denselben Augen sehen? Würdest du sie weiterhin … wollen?»
«Ja. Ohne Frage, ohne Zweifel, darüber muss ich überhaupt nicht nachdenken, ja
.» Er richtete sich auf, schob sich neben sie und lehnte sich so gegen die Wand, dass ihre Schultern sich berührten. «Sie wäre immer noch die süße, sture, liebevolle Frau, die ich geheiratet habe und ohne die ich nicht leben kann. So wie du weiterhin dieselbe freche, starke, talentierte und unabhängige Frau bist, in die Nakos sich verliebt hat. Alte Narben werden daran nichts ändern.»
«Wirklich?»
«Ich schwöre es bei Gott.» Er senkte den Kopf. «Doch wenn es um Olivia ginge, würde ich dieses Arschloch aufspüren und ihn zusammenschlagen. Was übrigens das war, was Nakos versucht hat, bis ich ihn zurückgehalten habe.» Er kratzte sich am Kinn. «Was mir inzwischen fast leidtut.»
«Hat er nicht. Nakos?» Andererseits, jetzt, wo sie wieder ein wenig klarer denken konnte … Er hatte, na ja, ziemlich wahnsinnig gewirkt, als er die Scheune verlassen hatte.
«Er ist vollkommen ausgerastet. Hat dem Kerl mehrmals ins Gesicht geschlagen, bevor ich einschreiten konnte.»
«Wow. Er ist doch sonst immer so ruhig und überlegt. Der Mann ist fast zu bedächtig, ehrlich. Macht mich damit manchmal total irre.»
«Lass dir das von einem Kerl sagen: Verliebte Männer? Wir können unseren Arsch nicht vom Ellbogen unterscheiden. Bedroh unsere Frau, und wir ticken aus.» Er drehte den Kopf und sah sie an. Ihre Gesichter waren sich nah genug, dass Amy die Schatten erkennen konnte, die immer noch in seinen Augen lauerten. «Lass
mich dir eine Frage stellen, Amy: Wenn es wirklich Olivia gewesen wäre, würdest du dann denken, dass es ihre Schuld war? Würdest du ihr recht geben, wenn sie sich deswegen Vorwürfe machen würde?»
Okay, schön. Sie verstand, was er sagen wollte. Aber es fiel schwer, sich von einer so lange gehegten Überzeugung zu lösen. «Du weißt, dass ich das nicht tun würde.»
Mitgefühl leuchtete aus Nates Augen. Auch wenn dieser Mann auf den ersten Blick an den großen bösen Wolf erinnerte, zeigte sich immer wieder, dass er ein riesiges Herz unter all den Muskeln besaß. «Die schlichte grausame Wahrheit ist: Du wurdest vergewaltigt. Du wurdest misshandelt. Du hattest keinerlei Anteil daran oder Kontrolle über das, was geschehen ist. Ich denke, es wird Zeit, dir einzugestehen, dass du ein Opfer bist. Und ich denke, es wird auch Zeit, dass du dir ein wenig Kontrolle zurückholst.»
Seine Freundlichkeit trieb ihr erneut die Tränen in die Augen. «Wie?»
«Zum einen musst du darüber reden. Mit Olivia, mit Nakos, mit dem Hund. Mit wem, spielt eigentlich keine Rolle. Vor sechs Monaten hätte ich das nicht geglaubt, aber es hat tatsächlich etwas Befreiendes, die hässlichen Seiten des eigenen Lebens nicht mehr zu verstecken.»
Sie wusste nicht, ob sie je dazu fähig sein würde, doch wenn Nate dachte, das wäre ein guter Anfang, würde sie darüber nachdenken. «Was noch?»
«Zeig ihn an.» Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, doch er schüttelte den Kopf und griff nach ihrer Hand. «Wir haben ihn verhaftet. Jetzt fehlt nur noch deine Aussage. Ich behaupte nicht, dass es einfach wird zu erzählen, was passiert ist. Ganz ehrlich, es
wird wahrscheinlich furchtbar sein. Aber ich werde dir beistehen, zusammen mit Olivia und Nakos, wenn du das möchtest. Der Mistkerl wird wahrscheinlich versuchen, sich zu wehren, und es wird zum Prozess kommen. Auch das wird furchtbar sein. Und es gibt keine Garantie, dass er verurteilt wird. Aber nur so kann er für das, was er dir angetan hat, zur Rechenschaft gezogen werden. Und vielleicht ermöglicht dir der Prozess, mit der Sache abzuschließen.»
Er drückte ihre Finger. «Opfer zu sein heißt nicht, dass du schwach bist. Egal, wie du dich entscheidest, das darfst du nie vergessen. Du bist zehnmal stärker als er, und er wird dich nie wieder anrühren. Darauf gebe ich dir mein Wort.» Nate wirkte ziemlich mitgenommen von der erneuten Flut von Tränen, die über ihre Wangen rann. Seine Augen wurden groß, und er runzelte die Stirn. «Oder ich könnte ihn einfach umbringen. Nakos hat mir mal gesagt, er wüsste, wo man hier eine Leiche verschwinden lassen kann, sodass sie nie gefunden wird. Allerdings hat er damals über mich gesprochen. War schwer genervt von mir.»
Lachend ließ sie den Kopf auf seine Schulter sinken. «Ich werde darüber nachdenken. Über die Anzeige, nicht den Mord.»
«Das Angebot steht.»
Amy lachte wieder, dann seufzte sie, als angenehmes Schweigen sich ausbreitete. Tiere huschten durch die Nacht, und Blätter raschelten. Tief atmete sie die kühle Luft ein, den Duft von feuchtem Gras und fruchtbarer Erde. Sie fühlte sich ruhiger. Der Geruch von Regen hing noch in der Luft. Er schien einen seltsam reinigenden Effekt auf sie auszuüben. Aber vielleicht lag das auch an der Gesellschaft.
«Du bist einer von den Guten, Nate.»
«Früher habe ich das nicht geglaubt, aber ich arbeite daran.» Er tätschelte ihr das Bein. «Alles, was ich dir heute Abend gesagt habe, waren nur Variationen von dem, was Olivia und Nakos mir eingebläut haben. Daher muss es wohl stimmen, oder?»
Lächelnd hob sie den Kopf. «Muss es wohl.»
Er musterte ihr Gesicht. «Da wir hier an dem Ort sind, an dem Geheimnisse geteilt werden, habe ich auch eines für dich. Olivia ist schwanger.»
Keuchend richtete Amy sich auf.
«Ungefähr in der sechsten Woche. Sie will noch eine Weile warten, bevor sie es allen erzählt, also spiel dann bitte die Überraschte.» Er hielt inne, starrte ins Leere. «Wir alle haben hin und wieder Angst, Amy. Im Moment bin ich starr vor Angst.»
«Das musst du nicht sein.» Als er nur brummte, drückte sie seinen Arm. «Das sind phantastische Nachrichten. Es ist ein Neuanfang. Du wirst ein toller Vater werden.»
«Wenn ich es nicht total verbocke.»
«Das wird schon nicht passieren. Wir sind alle da, um dich notfalls in die richtige Richtung zu lenken. Was aber gar nicht nötig sein wird. Denn gerade du weißt, was es bedeutet, nicht geliebt zu werden. Der Drang, Leute zu beschützen, ist quasi Bestandteil deiner DNA
. Außerdem liebst du Liv so sehr. Ein Baby ist nur der Beweis für diese Liebe.»
Ein Lachen, dann rieb er sich über das Gesicht. «Das stimmt.» Er seufzte. Sah sie an. «Was ist mit dir? Wirst du Nakos sagen, dass du ihn liebst? Und ihn von seinem Leid erlösen?»
Sie hätte das längst tun sollen. Nakos war umwerfend. Neben gewissen äußeren Vorzügen (wie zum Beispiel dem sagenhaften
Körper) war er warmherzig, besaß eine enorme Stärke und eine schier endlose Geduld. Niemals hätte sie geglaubt, dass sie so einen Mann je haben würde – geschweige denn halten könnte. Seine Leidenschaft allein würde dafür sorgen, dass ihr nie wieder kalt wurde. Und aus irgendeinem Grund wollte – liebte
– er von allen Frauen ausgerechnet sie.
Ja, beschloss Amy. Sie würde lernen zu glauben, dass sie ihn verdient hatte. Weil Nate nämlich recht hatte. Es wurde Zeit, nicht länger der Scham und der Angst die Zügel zu überlassen.
«Ich liebe ihn wirklich.»
«Ach was.» Er grinste, dann sah er sich um. «Also, soll ich dich nach Hause fahren, oder willst du dauerhaft hier oben einziehen?»
Sie stand ungeschickt auf und reckte sich. «Nach Hause, bitte.»
Nate nahm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und stand auf, wobei er nur vorgab, sich von ihr helfen zu lassen. Sie hätte ihn gar nicht hochziehen können. «Bist du dir sicher? Eine aufblasbare Matratze, einen Stuhl für die Ecke. Du könntest es dir hier wirklich hübsch machen. Bis auf das fehlende Dach. Das könnte sich als Problem entpuppen.»
«Ich werde es bei der Vermieterin ansprechen.»
«Da helfe ich gerne. Ich habe gehört, sie ist ein heißer Rotschopf.»
«Gott.» Sie lachte, bis ihr die Seiten weh taten. «Definitiv einer von den Guten. Komm. Bring mich nach Hause.»
«Gute Wahl.»
Sie kletterten die Leiter nach unten und stampften von Glühwürmchen umschwirrt durch das feuchte Gras zur Einfahrt, wo seine Harley und Olivias Truck standen. Er entschied sich für den Truck, wahrscheinlich, weil das Motorrad nass war vom Regen.
Ein paar Minuten nachdem sie losgefahren waren, brach er das Schweigen. «Tu mir einen Gefallen. Ich werde mit ihnen sprechen, wenn ich zurück bin, aber komm morgen zum Haus und rede mit Olivia und Kyle.»
«Mache ich.» Sie zog ihr Handy aus der hinteren Hosentasche, erleichtert, dass es sich trotz der Feuchtigkeit noch einschalten ließ. Eilig tippte sie eine Nachricht an Liv und kopierte sie, um sie auch an ihren Bruder zu schicken.
Es geht mir gut. Wir sprechen uns morgen. Hab dich lieb.
Sie schob das Handy in dem Moment wieder in die Tasche, als Nate in Nakos’ Einfahrt rumpelte und die Scheinwerfer ausschaltete. Er zog die Handbremse an und betrachtete sie im schwachen Schein der Innenbeleuchtung.
Sorge verkrampfte Amy den Magen und bewirkte, dass sie nur noch flach atmen konnte. «Ist es dämlich, dass ich total nervös bin?»
«Nein.» Nate rieb sich das Kinn. «Liebe hat die Fähigkeit, uns alle in die Knie zu zwingen. Wärst du nicht nervös, würde ich annehmen, dass irgendetwas mit dir nicht stimmt. Aber du wirst das schaffen, Amy.»
Sie nickte, lächelte schwach. Dann starrte sie Nakos’ Haus an. Zwei Stockwerke aus Zedernholz mit einer umlaufenden Veranda. Schnörkellos, nur mit zwei Schaukelstühlen vor der Tür. Trotzdem hatte sie inzwischen das Gefühl, hier zu Hause zu sein. Nirgends sonst hatte sie sich je so wohl gefühlt. Im Haus ihrer Eltern hatte sie nie das Gefühl gehabt, willkommen oder erwünscht zu sein. Und das kleine Haus, das sie mit Chris bewohnt hatte, hatte ihr immer das Gefühl
einer Wartehalle vermittelt.
Nakos hatte ihr nicht nur sein Haus, sondern sein Leben und sein Herz geöffnet. Ohne zu zögern. Er hatte ihr die Sicherheit, Geborgenheit und Liebe geschenkt, die sie stets vermisst hatte. Trotzdem hatte sie dem misstraut. Was, wie ihr jetzt klar wurde, unglaublich falsch gewesen war. Verständlich, aber falsch. Sie hätte an ihn glauben sollen.
Der Beweis lag direkt vor ihren Augen. Jedes Licht im Haus war angeschaltet, als hätte er Kerzen für ihre sichere Rückkehr angezündet. Gefühle schnürten ihr die Kehle zu, trieben Tränen in ihre Augen.
«Das werde ich.» Sie riss den Blick vom Haus los, um Nate anzusehen. «Ich werde das schaffen.»
Er grinste ihr zu. «Verdammt richtig.»
Sie kletterte aus dem Truck, stieg die Verandastufen hinauf und musterte die Tür. Dann atmete sie tief durch und drehte den Knauf.
Nakos saß auf der Couch, die Ellbogen auf die Schenkel gestemmt, das Gesicht in den Händen vergraben. Seine Füße waren nackt, und er trug eine lockere graue Jogginghose mit einem waldgrünen T-Shirt. Die mitternachtsschwarzen Haare hingen offen und unordentlich um seine Schultern, als wäre er immer wieder mit den Händen hindurchgefahren. Sein gesamter Körper war steif vor Anspannung. Amys Herz verkrampfte sich.
Als sie die Tür schloss, riss er den Kopf hoch. Gerötete dunkle Augen suchten ihren Blick. Weit aufgerissen. Voller Panik. Ungläubig.
Oh Gott, er hatte geweint. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er sprang auf die Beine, ließ den Blick über sie gleiten. Einmal. Zweimal.
Dann stieß er ein gepresstes Geräusch aus und kam auf sie zu. Überwand den Abstand zwischen ihnen in Sekundenschnelle. Er umfasste ihr Gesicht, drängte sie gegen die Tür und presste den Mund auf ihren.