Ashers Geschenk ist leider wirklich toll. Als ich später Gelegenheit habe, es mir genauer anzusehen, streiche ich ehrfürchtig über den braunen Schutzumschlag. Er ist trotz seines Alters von über neunzig Jahren bis auf leichte Verfärbungen nahezu makellos. Das Buch darunter hat einen glatten grünen Leineneinband, die Goldprägung auf der Vorderseite zeigt Christopher Robin mit seiner Angel und Winnie Pooh, der die Arme freudig in die Höhe reißt. Es muss ein Vermögen gekostet haben.
«Es ist unglaublich, oder?»
Keine Ahnung, wie lange Sam schon neben mir steht, wahrscheinlich kann er sich gar nicht mehr von diesem Schatz trennen. «Woher wusste Asher es? Ich meine, dass du dich so darüber freuen würdest?»
«Das ist eine lange Geschichte. Ich hatte das Buch als Kind und habe es wirklich überall mit hingeschleppt. Es war natürlich nur eine billige Auflage, aber ich habe es geliebt. Als ich ungefähr sieben war, hat Asher mein Buch in einen Glascontainer geworfen, und ich bin hinterhergeklettert.» Er erschauert in Erinnerung daran. «Da war überall zersplittertes Glas. Außerdem war Hochsommer, und die Getränkereste haben Dutzende von Wespen und Bienen angelockt.»
Mir bleibt der Mund offen stehen. «Ich schätze mal, du hast dir dieses Geschenk redlich verdient.»
Sam lacht. «Ich hatte mehrere Stiche und Schnittwunden. Hier», er hält mir seinen Unterarm hin, wo sich eine blasse Narbe in Form
eines J bis zu seinem Ellbogen zieht. «Weil ich ohne mein Buch nicht wieder rauskommen wollte, aber nicht drankam, ist Asher irgendwann heulend nach Hause gelaufen und hat Hilfe geholt. Sie haben mich aus dem Container gezerrt, und ich habe die ganze Zeit geschrien, weil ich das Buch nicht zurückbekommen habe.»
«Warst du nicht stinksauer auf ihn?»
«Nicht wirklich. Eigentlich hat er mir leidgetan. Asher hat sich wochenlang nicht getraut, mich auch nur schief anzusehen. Er hat sich so geschämt, dass er mich fast überhaupt nicht mehr angeguckt hat. Es hat echt keinen Spaß mehr gemacht, mit ihm zu spielen. Ich war froh, als er es irgendwann vergessen hatte. Zumindest dachte ich, dass er es vergessen hat.» Sam legt das Buch zurück auf die Kommode. «Aber da habe ich mich offensichtlich getäuscht, Asher vergisst wohl nie irgendwas.»
Bei Sams Worten bekomme ich eine Gänsehaut.
«Ich liebe dieses Buch», sagt er. «Die Zeichnungen von Shepard sind grandios, und Winnie Pooh … der Bär ist ein Philosoph.»
Ich muss lächeln, aber das Gänsehautgefühl lässt nicht nach.
Sam atmet einmal tief durch. «Ich werde das alles hier in meinem Auslandssemester echt vermissen.»
«Deshalb gehen wir ja noch zelten», necke ich ihn. «Damit dir der Abschied danach nicht so schwerfällt.»
Sam stöhnt gespielt, dann wischt er sich die dunklen Strähnen aus der Stirn. «Ich find’s übrigens cool, dass du mitkommst. Auch wenn … Also ich find’s cool, echt», wiederholt er.
«Wenn du noch mal sagst, dass du es cool findest, glaube ich dir kein Wort mehr.»
Sam grinst verlegen, dann greifen urplötzlich zwei braune Hände
nach seinem Arm. Die Hände gehören zu einer Frau in einem weißen ärmellosen Top, eng anliegenden Jeans und Cowboystiefeln. Lachend lässt er sich von dem Cowboystiefel-Mädchen zum Tanzen wegziehen.
Irgendwann später lasse ich mich neben Harper auf die Couch fallen. Den ganzen Abend habe ich mich gezwungen, nicht nach Asher Ausschau zu halten. Einmal sind wir beim Tanzen aneinandergestoßen, und Asher ist, eine Entschuldigung murmelnd, sofort zurückgewichen, aber das war unser einziger Kontakt. Jetzt schmerzen meine Füße, und ich habe so viele Mac ’n’ cheese sliders
gegessen, dass ich mir stöhnend den Bauch halte. Die Musik ist leiser, die Anzahl der Gäste hat sich deutlich reduziert, und neben Harper, Sam, Asher und Noah sind nur noch Harpers Bruder Chase, Sams Cousins Roy und Joel, eine Freundin namens Indira, und das Mädchen mit den Cowboystiefeln übrig geblieben. Sie heißt Kiara, trägt einen atemberaubend schönen Afrolook und hat das ansteckendste Lachen, das ich je gehört habe.
Noah kommt aus der Küche, schiebt die benutzten Teller auf dem Tisch beiseite und stellt zwei volle Flaschen Wodka samt Schnapsgläsern vor uns hin. Er zieht sein Smartphone aus der Tasche und schießt ein paar Fotos. «Ihr seid echt lahm. Die hier sind noch nicht mal angebrochen. Ich halte das für Instagram fest, damit ihr euch noch jahrelang angucken könnt, wie unglaublich öde diese Party gewesen ist.»
«Heyheyhey!» Kiara stößt ihm ihren Ellbogen in die Seite. «Pass auf, was du sagst.»
Noah hebt beschwichtigend eine Hand. «Wie unglaublich öde diese Party bis hierhin
gewesen ist», verbessert er sich. «Und damit das nicht so bleibt, vergesst Beer Pong und den Smalltalk: Wir spielen eine Runde ‹Never have I ever›.»
Kiara stöhnt. Sams deutlich lauteren Protest übertönt Noah einfach, was Sam dazu bringt, ins Esszimmer zu verschwinden. «Für diejenigen unter euch, die das Spiel aus unerfindlichen Gründen nicht kennen, erkläre ich kurz die Regeln: Der Reihe nach darf jeder von uns etwas sagen, was er noch nie getan hat. Wem das auch so geht, der muss nichts trinken, aber alle, die das schon mal getan haben, müssen einen Shot runterkippen.» Er schiebt die Schnapsgläser zu einem Kreis zusammen, schraubt die Wodkaflasche auf und gießt die Flüssigkeit bis an den Rand der einzelnen Gläser – und teils darüber hinaus. Auf dem Tisch bildet sich eine kleine Pfütze. «Ein Beispiel: Wenn Joel sagt, ‹Ich bin noch nie in meinem Leben vom Pferd gefallen›, dann muss ich einen Shot trinken, weil ich, na ja, ich bin schon verdammt oft vom Pferd gefallen.» Er greift nach einem Glas, kippt den Inhalt hinunter und verzieht das Gesicht, bevor er breit grinst. «Verstanden?»
Alle nicken.
Sam kommt aus dem Esszimmer und hält einen Karton im Arm. Ich erkenne das Spiel, das seine Mutter für uns gekauft hat, und unterdrücke ein Lachen.
«Gegenvorschlag. Wir können stattdessen auch ‹Mensch ärgere dich nicht› spielen. Ganz ohne Alkohol. Na?» Fast verzweifelt schaut Sam von einem zum anderen – und bekommt von seinem Cousin Roy ein Sofakissen an den Kopf geworfen.
«Vergiss es, Samuel Guinyard!», sagt Harper. «Du wirst uns nicht dieses komische Brettspiel aufdrängen. Und du wirst vor allem nichts
an den Regeln verändern, ist das klar?»
«Es gibt ohnehin nur zwei», wirft Noah ein. «Nein, sagen wir drei. Regel Nummer 1: Jeder darf sich seinen Satz selbst überlegen, und niemand
darf ihn verändern oder irgendwie modifizieren. Regel Nummer 2: Jeder aus der Gruppe muss absolut und hundertprozentig ehrlich sein.»
«Und wenn nicht?», wirft Indira ein. «Weiß doch keiner, ob ich was verheimliche.»
«Das stimmt. Aber wenn du nicht absolut und hundertprozentig ehrlich bist, wird dich die Rache des Trinkspielgottes treffen, und das willst du nicht erleben, glaub mir.»
Indira kichert und zeigt Noah einen Vogel. Ich unterdrücke ein Stöhnen. Vermutlich ist jetzt der Augenblick, in dem ich nach Hause gehen sollte. Jep. Ich sollte ganz dringend hier weg. Ich rapple mich aus dem Sofa hoch und merke, dass Asher gleichzeitig mit mir aufgestanden ist.
Noah stößt ein Zischen aus. «Wagt es ja nicht.»
Unter seinem strengen Blick setzen wir beide uns wieder hin.
«Und was ist die dritte Regel?», fragt Sam resigniert.
«Regel Nummer 3 lautet, dass Sam keine Regeln ändern darf. Punkt.»
Alle lachen, und vor allem Harper sieht mehr als zufrieden aus. «Darf ich anfangen?»
Wenn sie jetzt noch freudig in die Hände klatscht, muss ich ihr leider die Freundschaft kündigen, überlege ich. Aber Harper reißt sich zusammen. Sie schaut in der Runde langsam von einem zum anderen und sagt dann: «Ich habe noch nie eine Frau geküsst.»
Die Jungs aus der Gruppe stöhnen genervt auf. «Okay, okay, ich
verbessere mich», sagt sie hastig. «Ich habe noch nie jemanden geküsst, der dasselbe Geschlecht hat wie ich.»
Chase ist der Einzige, der sich gelangweilt nach vorne beugt und nach einem Schnapsglas greift, bis Noah plötzlich laut «Fuck» ausstößt und sich ebenfalls einen Shot nimmt.
«Ernsthaft?» Asher hat eine Braue angehoben.
«Ist lange her, okay?» Er reibt sich über die tätowierten Unterarme und grinst dann. «Der Junge hat sein Bestes gegeben, aber es war irgendwie nicht so mein Ding.»
«Ich möchte eine vierte Regel hinzufügen», mischt Sam sich ein – und das nächste Kissen fliegt in seine Richtung. «Moment, Leute. Ich finde nur, dass niemand begründen sollte, warum er trinkt oder nicht.»
«Ich finde Sams Vorschlag gut.» Kiara nickt. Sie hat die Beine übereinandergeschlagen und wippt mit einem Fuß. «Niemand sollte seinen privaten Kram auspacken müssen.»
«Okay», gibt Noah nach, während er die Shots auffüllt. «Keine Erklärungen, das ist mir eigentlich ganz recht.»
Harper beugt sich zu mir und fängt an zu flüstern. «Habe ich nicht gesagt, dass Sam immer die Regeln ändern will?»
Ich nicke abgelenkt, weil ich fieberhaft nach einer Aussage suche, die ich treffen kann. Verdammt, wieso muss ich neben Harper sitzen und gleich am Anfang an die Reihe kommen. Es wäre viel leichter, wenn ich erst einmal abwarten könnte, was die anderen sagen.
«Ivy?»
«Ich, äh …» weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe keine einzige Folge von Game of Thrones
gesehen? Ich habe noch nie Karaoke gesungen? Ich war nie in einen Lehrer von mir verliebt? Gott, ist das
lahm. Ich … ich …
«Ich hatte noch nie Sex im Flugzeug», platze ich heraus und senke schnell den Kopf, um eingehend meine Schuhspitzen zu inspizieren. Als ich aufblicke, starrt Asher mich über den Rand seines Schnapsglases hinweg an. Mein Gesicht läuft heiß an, weil es das erste Mal an diesem Abend ist, dass er mich überhaupt beachtet. Seine Augenbrauen ziehen sich fragend in die Höhe, bevor er den Alkohol mit einem Grinsen runterkippt.
«Harper?», höre ich Sams verwunderte Stimme, und erst jetzt bemerke ich, dass sie ebenfalls nach einem Glas gegriffen hat. «Hast du die Regeln nicht verstanden?»
Sie wird schlagartig rot. «Doch.» Sie trinkt und stellt das Glas zurück auf den Tisch. «Keine Erklärungen, okay?»
Jetzt sieht Sam von seiner vierten Regel gar nicht mehr so begeistert aus.
Ich wappne mich innerlich für die nächste Aussage. Aber Sam ist von Harpers Reaktion anscheinend immer noch nachhaltig geschockt. «Ich habe mir noch nie was gebrochen», murmelt er.
Okay, das ist unverfänglich. Beruhigt lehne ich mich zurück, doch neben Indira und Chase muss auch Asher schon wieder einen Wodka trinken, und das lässt es in meinem Bauch verräterisch kribbeln.
Roy ist an der Reihe und grinst diabolisch. «Okay, Leute, jetzt kommt’s! Ich hatte noch nie eine Pilzinfektion.» Neugierig beugt er sich nach vorn, aber keiner von uns rührt sich. «Ach kommt schon, euer Ernst? Ihr lügt mich doch an!»
Wir fangen alle an zu lachen, aber niemand greift nach einem Glas. «Shit, beim nächsten Mal überlege ich mir was Besseres.»
Indira sagt, dass sie noch nie in ihrem Leben eine Spinne getötet
hat, und fast alle von uns müssen ein Glas leeren. Chase macht eine Feststellung, bei der klar ist, dass er nur seinen Beinahe-Schwager ärgern will. Er gibt zu, noch nie ein Buch von Ernest Hemingway gelesen zu haben, was Sam dazu bringt, hektisch zu atmen, weil nur die Hälfte von uns trinkt. Dann ist Joel dran und kann mit seinem Grinsen nicht verbergen, dass er den Fehler seines Bruders Roy wieder ausbügeln will. Er verschränkt die Arme vor der Brust. «Ich habe noch keinem aus dieser Runde einen Kuss gegeben. Mit Zunge», fügt er schnell noch hinzu, und ich spüre, wie mein ganzer Körper in eine Art Schockstarre verfällt.
Mit Zunge. Ashers Zunge.
Heilige Mutter Gottes. Ich kann seine Lippen immer noch auf meinen spüren, und das jagt mir sofort Strom durch den Körper.
Verdammt, verdammt, verdammt. Okay, überlege ich panisch, ich könnte meinen Brüdern einen Gutenachtkuss gegeben haben. Früher. Aber mit Zunge? Ob sich jemand vorstellen kann, dass ich Harper einen Zungenkuss gegeben habe? Wahrscheinlich nicht. In dem Moment lachen Sam und Harper auf und trinken beide je ein Glas in einem Zug leer. Ich sollte Asher jetzt nicht ansehen, aber, bei Gott, ich kann nicht verhindern, dass mein Blick zu ihm schweift. Wird er lügen? Wenn er lügt, dann lüge ich auch. Mir bricht der Schweiß aus, als ich sehe, wie er mit halbgeschlossenen Lidern langsam seinen Arm ausstreckt. Er könnte Harper geküsst haben. Irgendwann. Niemand weiß, dass ich es war.
«Oookay», zieht Noah das Wort in die Länge, als Asher seinen Shot hinunterkippt. «Das ist eine ungerade Zahl, oder Leute? Bahnt sich hier eine Dreiecksgeschichte an? Ein Drama?» Er fängt an zu lachen.
Sam rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. «Hast du mir irgendwas zu beichten, Harp?»
«Nein! Du etwa?», faucht sie, und ihr Blick schießt sofort zu mir. Ich schüttele leicht den Kopf, und ungläubig stiert sie von Indira zu Kiara und dann wieder zu mir. Erneut. Indira, Kiara, ich. Indira, Kiara, ich. Hier bleibt sie endgültig hängen, und ich versuche, meine Panik hinunterzuschlucken. Das wäre alles nicht so schlimm, wenn ich nicht so ein Theater darum machen würde. Ich sollte es einfach hinter mich bringen. Bei der nächsten Aussage ist das doch sofort wieder vergessen.
Asher hat die Beine übereinandergeschlagen und spielt mit dem leeren Glas in seiner Hand. Seine Krawatte hat er im Laufe des Abends abgelegt und die obersten Knöpfe seines Hemdes geöffnet. Er wirkt fast unbeteiligt, aber an der Bewegung seiner Finger kann ich sehen, dass er wartet. Ich schlucke, dann beuge ich mich nach vorne und schmecke in der nächsten Sekunde brennenden Alkohol auf meiner Zunge. Als ich das Glas wieder abstelle, ist es im ganzen Haus so still, dass man Staubflusen fallen hören könnte. Seit wann ist eigentlich die Musik aus?
«Nächster», krächze ich.