D ie roten Rücklichter von Mutters Wagen leuchteten wie das Tor zur Hölle, als ich auf der Hauptstraße von Dunkelsteig stand und ihr hinterherblickte. Noch immer aufgewühlt von Erikas intensiver und ehrlicher Erzählung konnte ich unmöglich nach Hause gehen und mich schlafen legen. Zu viele wirre Gedanken spukten in meinem Kopf herum, und ich hatte das Gefühl, als befände ich mich im freien Fall, ohne zu wissen, wann ich auf dem Boden der Realität aufschlagen würde. Zum Glück brannte im Hirschen-Wirt noch Licht, und ich beschloss, diesen sicheren Hafen für einen Drink aufzusuchen. Vielleicht bestand auch die Möglichkeit, mit Christoph alleine zu reden.
Als ich eintrat, war die Wirtsstube ziemlich leer, nur die gewohnten alten Männer hockten wie immer am Stammtisch, stierten schweigend in ihre Bierkrüge. Manchmal ließ einer von ihnen eine Bemerkung fallen, zu der die anderen zustimmend nickten. Ich setzte mich an den Tresen und wartete. Ab und zu drehte sich vom Stammtisch eines der verwitterten Gesichter in meine Richtung, beäugte mich misstrauisch, um sich dann wieder abzuwenden und in dumpfes Brüten zu versinken.
»Was willst du trinken?« Christoph tauchte hinter der Theke auf, er wirkte abgekämpft, hatte Ringe unter den Augen und seine hellblonden Haare standen wirr vom Kopf ab.
»Gib mir ein prickelndes Wasser bitte«, sagte ich, denn ich wollte unbedingt einen klaren Kopf behalten. Das Erlebnis mit meiner Mutter schob ich weit nach hinten, dachte stattdessen an das mysteriöse Jagdhaus in der Tannschlucht, den Hirschkult und natürlich an Traudi.
»Sorry, aber der Sprudel ist alle. Um diese Zeit gibt’s nur noch Bier. Also, was ist?«, fragte Christoph etwas genervt, als ich nicht sofort antwortete.
»Na gut, Bier ist auch in Ordnung.« Ich nickte. Christoph drückte den Zapfhahn und knallte dann ein Bierglas vor mich auf den Tresen.
»Organisierst du eigentlich eine Trauerfeier für Traudi?«, fragte ich nach dem ersten Schluck, während Christoph mit finsterer Miene hinter der Theke stand und die Gläser polierte.
»Wir haben im Separee bereits eine kleine Gedenkstätte eingerichtet, da können ihre Freunde von Traudi Abschied nehmen.«
»Ach, davon wusste ich gar nichts«, meinte ich überrascht. Auch auf Hannahs Geburtstag war von einem derartigen Andachtsraum im Hirschen-Wirt keine Rede gewesen.
»Wir haben es dir nicht erzählt.«
»Und warum nicht?« ›Bin ich tatsächlich so eine Außenseiterin hier in Dunkelsteig?‹, dachte ich betroffen, während ich an meinem Bier nippte. »Ich war doch auch eine Freundin von Traudi.«
»Manuela war eine Freundin, du nicht«, erwiderte Christoph kurz angebunden. Als er meine betretene Miene bemerkte, überlegte er kurz und klopfte dann mit der Hand auf den Tresen. »Aber wenn du schon mal hier bist, kannst du dich natürlich auch von Traudi verabschieden. Dort drüben ist der Eingang.«
»Danke, das werde ich machen«, antwortete ich. Ich rutschte von meinem Barhocker, schob mich am Tresen vorbei zu dem kleinen Separee, das früher immer von Liebespärchen zum unauffälligen Knutschen genutzt worden war. Momentan war der Raum nicht mehr wiederzuerkennen. Das Zimmer war leer geräumt, nur der aus einem Hirschgeweih gefertigte Lüster hing noch von der Decke. Auf dem Boden standen Dutzende flackernde Grablichter und warfen unheimliche Schatten an die holzgetäfelten Wände. In der Mitte des Raums thronte auf einer Staffelei das gerahmte Porträtfoto von Traudi. Anstelle von Blumen bildeten sieben ausgestopfte Hirschköpfe einen Halbkreis um das Porträt. Es gab keine Sitzgelegenheit, nur einen mit rotem Samt bezogenen Betschemel, auf dem man knien konnte. Christoph betrat hinter mir den Raum und musterte mich aufmerksam.
»Was ist das für ein seltsamer Gedenkraum?«, fragte ich irritiert. »Der Schrein für einen Hirschgott?«
»Versündige dich nicht, Felicitas.« Christoph trat vor, kniete sich auf den Betschemel und sprach leise weiter, während er Traudis Foto andächtig betrachtete. »Du findest diese ländliche Andacht wohl lächerlich, bloß weil du so lange in der Großstadt gelebt hast.«
»Nein, so habe ich das nicht gemeint. Diese ausgestopften Hirschschädel wirken nur etwas bizarr«, entschuldige ich mich.
»Das sind unsere alten Rituale, die in Dunkelsteig von Generation zu Generation weitergegeben werden.«
»Du meinst damit den Hirschkult.« Würde Christoph mir jetzt mehr darüber erzählen? Elektrisiert horchte ich auf.
»Ja. Früher existierte hier ein Hirschkult, dabei wurde der König der Wälder geehrt. Vor mehr als dreihundert Jahren war Dunkelsteig fast völlig von der Außenwelt abgeschnitten und nur über den Steig am Fluss erreichbar. Während dieser Zeit wütete eine Epidemie und raffte Dutzende Einwohner hinweg. Die Bader waren ratlos und wussten nicht mehr ein noch aus. Schließlich verfiel ein Wilderer auf die Idee, ein Getränk aus Hirschblut und Kräutern zu mischen. Diesen Trank flößte man den Kranken ein. Die Kraft der Hirsche übertrug sich auf die Menschen. Kranke wurden wieder fit und die Gesunden energiegeladen. Deshalb werden bei uns auch heute noch die Hirsche verehrt.«
»Das ist also der Ursprung des Dunkelsteiger Hirschkults«, resümierte ich und beschloss später nach Aufzeichnungen aus dieser Zeit im Netz zu recherchieren.
»Genauso ist es.« Christoph erhob sich vom Betschemel und stellte sich wieder hinter mich.
Nachdenklich betrachtete ich das Porträt seiner Schwester, es war eine Studioaufnahme. Traudi lächelte gequält, so als würde sie sich bei diesem Fotoshooting nicht sonderlich wohlfühlen. Ich wandte mich zur Seite und betrachtete die Hirschschädel, die rund um die Staffelei platziert waren. Die Augen der Tiere bestanden aus geschliffenem Glas, und ich hatte den Eindruck, die Tiere beobachteten mich. Plötzlich bewegten sich die Nüstern und Mäuler der Schädel, so als würden die Tiere Stroh wiederkäuen, dann verharrten sie wieder regungslos und blickten mich mit ihren toten Augen unendlich traurig an.
»Ihr armen Tiere«, flüsterte ich, strich sanft mit der Hand über das Geweih eines Hirschs und entdeckte dabei einen gravierten Satz: ›Sanguis meus pro omnibus – Mein Blut für alle.‹
»Was bedeutet diese Inschrift? Klingt wie der Wahlspruch einer Gruppe«, fragte ich.
»Nein, das hat eine spezielle Bedeutung.« Christoph verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte mich mit einem finsteren Blick. »Damit sind die Wildtiere gemeint. Diesen Spruch sprechen die Waidmänner nach erfolgreicher Jagd.«
»Ah, ich verstehe«, erwiderte ich, denn ich wollte nicht weiterfragen. Doch mein Bauchgefühl sagte mir, dass Christoph mir etwas verheimlichte. Die Legende von der wunderbaren Heilung durch Hirschblut war sicher nur ein Teil der ganzen Wahrheit. Denn dieser bizarre Raum wirkte wie der Schrein eines dunklen Kults.
Ich kehrte zurück in den Schankraum und setzte mich wieder an den Tresen. Mein Bier war inzwischen lauwarm geworden, doch die Bitte um ein frisches war sinnlos, denn Christoph hatte den Zapfhahn bereits abgesperrt.
»War Markus eigentlich der einzige Mann, mit dem Traudi eine Beziehung hatte?«
»Ja, leider. Traudi hatte eine On-Off-Beziehung mit Markus. Sie hat es lange Zeit vor mir und den Eltern geheim gehalten. Vor zwanzig Jahren hatte Markus immer nur Augen für Manuela, doch nach ihrem mysteriösen Verschwinden ließ er sich von Traudi trösten. Ich wette, wenn sie zusammen ins Bett gingen, hatte er dabei immer Manuela vor Augen. Deshalb hasse ich diesen Kerl, er ist schuld, dass meine Schwester immer so unglücklich war.«
»Da kannst du recht haben.« Mit einem Mal verspürte ich eine bleierne Müdigkeit, die sich langsam wie Watte über mich legte. Nur mit Mühe konnte ich ein Gähnen unterdrücken.
»Noch etwas: Manu und Traudi haben eine böse Entdeckung gemacht. Weißt du, was das gewesen sein könnte?«
»Ach was«, meinte Christoph gedehnt. »Die beiden Mädchen haben uns einmal beim Jagen beobachtet. Manuela hat uns gefilmt, wie wir ein paar Tiere ausgeweidet haben. Dieses Video haben sich die Mädchen immer wieder angesehen und waren jedes Mal aufs Neue schockiert. Mehr war da nicht.«
»Tja, die Jagd kann schon grausam sein«, gab ich gedrückt zurück. »Bis bald.« Ich trank mein schales Bier aus und legte ein paar Münzen auf den Tresen.
»Geht aufs Haus.« Christoph schob die Münzen zurück.
»Eine allerletzte Frage habe ich noch: Jagst du oft zusammen mit Johannes?«
»Ja, wir treffen uns einmal die Woche, aber Johannes ist kein passionierter Jäger«, antwortete Christoph.
Ich nickte ihm zu und verließ nachdenklich das Gasthaus.
Als ich auf der menschenleeren Straße stand, bemerkte ich den flackernden Schein der Grablichter hinter dem Fenster des Separees. Ich warf einen Blick hinein und hatte das Gefühl, als würden sich die Hirschköpfe zu mir drehen. In ihren traurigen Augen erblickte ich den Widerschein der Flammen, und ich hörte ihre flüsternden Laute wie menschliche Worte: »Erlöse uns.«