F luchtartig verließ ich Karls Haus. ›Das Heim meiner Mutter ist kein sicherer Hafen‹, dachte ich verbittert, als ich meine Haustür aufsperrte und mich die unwirtliche Kälte sofort wie ein Eisblock umschloss. Mutter verdächtigte mich doch tatsächlich, dass ich etwas mit Manuelas Verschwinden zu tun haben könnte. Die Videoaufnahme war nur als Scherz entstanden, da war ich sicher, obwohl ich mich an keine derartige Situation erinnern konnte.
Während ich darüber nachgrübelte und mich immer stärker in die Vergangenheit und in Schuldgefühle verstrickte, klingelte mein Handy und ich zuckte erschrocken zusammen.
»Du musst sofort kommen. Ich habe etwas Interessantes herausgefunden«, hörte ich Grafingers aufgeregte Stimme.
»Bin schon zu dir unterwegs«, antwortete ich. Ich schlüpfte in die Joppe meines Vaters und war froh, das ungemütliche Haus wieder verlassen zu können. Je weiter ich mich von zu Haus entfernte, desto schneller verlor die Vergangenheit an Bedeutung und ich konzentrierte mich wieder auf die Gegenwart. Vielleicht würde ich von Grafinger erfahren, was Manuela und Traudi Schreckliches entdeckt hatten.
Grafingers Haus war ein schmales zweistöckiges Gebäude, das direkt gegenüber der Kirche lag, deren Schatten sich über die Vorderfront legte und es in ständige Dunkelheit hüllte. Ich betätigte die altmodische Glocke und als ich niemanden hörte, drückte ich die rostige Klinke. Zum Glück war die Tür unverschlossen und ich konnte eintreten. Ich stieg die ausgetretenen Stufen in dem engen Treppenhaus nach oben, das durch Schaukästen, die an den Wänden hingen, noch schmaler wirkte und ein Gefühl von Klaustrophobie bei mir erzeugte. Grafinger war ein leidenschaftlicher Hobby-Koleopterologe, ein Käfersammler. In diesen gläsernen Kästen bewahrte er Hunderte seiner aufgespießten Käfer auf.
»Grafinger, wo bist du?«, rief ich, als ich den ersten Stock betrat, wo sich das Wohnzimmer befand.
»Ich bin oben«, hallte seine Stimme durch die düsteren Räume.
Grafingers Dachkammer war ebenfalls mit Schaukästen zugestellt, und er saß zwischen Stößen von Akten und Papieren an seinem Schreibtisch. Die Wände waren mit Fotos beklebt, es waren Porträts der Personen, die im Teufelsspalt verschwunden waren. Alle diese Bilder waren in einem Kreis angeordnet, in dessen Zentrum das Foto von Manuela hing, die vor langer Zeit einmal Grafingers Geliebte gewesen war.
»Schön, dich zu sehen«, begrüßte mich Grafinger. »Stimmt es, dass dich die neue Inspektorin vorgeladen hat?«
»Ach ja, die Buschtrommeln«, meinte ich und erzählte Grafinger, was vorgefallen war.
»Mach dir keine Sorgen, das löst sich bald«, beruhigte er mich und wies auf eine Reihe von Akten, die er auf dem Boden ausgebreitet hatte. »Es gibt eine interessante Gemeinsamkeit. Es sind immer wieder junge Mädchen verschwunden«, sagte er triumphierend. »Soweit Aufzeichnungen existieren, hatten die vermissten jungen Mädchen im weitesten Sinn mit dem Jagdverein zu tun«, erläuterte Grafinger. »Reich mir einmal die Papiere.« Er deutete auf den Aktenstapel auf dem Boden.
Ich sammelte die Blätter zusammen und gab sie Grafinger, der sie auf seinen Insektenschaukästen ausbreitete.
»Sieh dir das an«, sagte er und markierte verschiedene Sätze mit einem Leuchtstift. »Die Mädchen wurden alle zuletzt am Teufelsspalt gesehen und zuvor haben sie laut der Angaben ihrer Eltern immer in einem bestimmten Jagdhaus ausgeholfen, serviert und dergleichen.« Grafinger zeigte auf die unterstrichenen Stellen in den Protokollen.
»Das Jagdhaus in der Tannschlucht«, ergänzte ich angespannt. »Wem gehört es eigentlich?«
»Das Jagdhaus befand sich früher im Besitz des Salzburger Erzbistums. Doch jetzt ist es schon seit zwei Jahrhunderten Eigentum der Familie Rohringer.«
»Das ist Johannes’ Familie«, ergänzte ich.
»Genau. Albin Rohringer ist übrigens vor Kurzem im Altersheim in Schwarzach verstorben«, klärte mich Grafinger auf.
»Und du bist sicher, dass es dieses bestimmte Jagdhaus ist? Es gibt wahrscheinlich noch andere in der Gegend«, bohrte ich weiter und spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte.
»Natürlich. Es befindest sich in der Tannschlucht. Wenn du zum Teufelsspalt wanderst, gibt es dort eine Weggabelung. Links führt der Pfad hinauf zum Teufelsspalt und rechts zur Tannschlucht.«
»Du hast recht. Doch Karl meinte, dass es schon seit einiger Zeit unbenutzt ist«, sagte ich. »Wer kann noch etwas über dieses Jagdhaus wissen?«
»Vielleicht solltest du Sepp von der Vorderalm einmal dazu befragen. Wenn jemand etwas weiß, dann er.«
»Den Rockertypen?« Ich erinnerte mich vage an Sepp, einen vierschrötigen Mann mit dunklem Vollbart, der immer eine schwarze Lederweste trug, an der Ketten befestigt waren, und den wir hinter vorgehaltener Hand den ›Rocker von Dunkelsteig‹ nannten. »Wieso erwähnst du ihn?«
»Sepp fertigt ganz spezielle Perchtenmasken an und er betreibt ein Taxidermie-Gewerbe.«
»Taxidermie? Was soll denn das sein?«
»So bezeichnet man das Ausstopfen von Tieren«, erklärte Grafinger. »Sepp arbeitet in seiner großen Scheune oben auf der Vorderalm.«
»Und was hat Sepp mit dem Jagdhaus zu tun?«, fragte ich skeptisch.
»Sepp hat früher die Hirschmasken für die heimlichen Feste im Jagdhaus angefertigt.« Grafinger griff nach seiner Pfeife, stopfte sie mit Tabak und riss ein Streichholz an. Doch als er meinen warnenden Blick bemerkte, blies er die Flamme wieder aus. »Ich weiß, Rauchen ist schlecht für mein Herz.«
»Vor über zwanzig Jahren stürzte Kathrin Langegger in den Teufelsspalt. Das passt doch zeitlich gut zusammen«, kombinierte ich und deutete auf das Porträt eines verträumten Mädchens. »Außerdem habe ich in ihrem Zimmer eine interessante Entdeckung gemacht.« Ich berichtete von meinem Besuch bei Kathrins Eltern und dem bizarren Schrein, den Kathrin Manuela gewidmet hatte. »Wurden eigentlich Kathrins Eltern damals befragt? Gibt es ein Protokoll davon?«
Grafinger suchte eine Weile, reichte mir dann ein Blatt und ich las die markierte Stelle: ›Kathrin war laut ihrer Mutter plötzlich sehr in sich gekehrt und schrieb öfter den lateinischen Satz ›Sanguis meus pro omnibus – Mein Blut für alle‹ auf Zettel, obwohl sie diese Sprache nicht beherrschte. Diese Notizen klebte sie dann an die Wand. Kathrins Mutter wollte mit ihrer Tochter zum Psychiater, aber dann hatte Kathrin den tragischen Unfall.‹
»Ich habe in Kathrins Zimmer keine Notizen gefunden. Obwohl die Mutter angeblich alles so belassen hat, wie es vor zwanzig Jahren war. Aber das Schrankinnere war übersät mit Fotos von Manuela«, sagte ich. Ich ließ das Papier sinken und blickte zu Grafinger. »Gab es bei den anderen Mädchen Parallelen?«
»Ja, mehr oder weniger. Auch da ist in den Protokollen sinngemäß von diesem merkwürdigen Spruch die Rede. Aber viel wichtiger ist, dass wir jetzt eine direkte Verbindung von Kathrin zu Manuela haben. Ist dir damals etwas bei Manuela aufgefallen? War sie verändert, schweigsam?«
»Jetzt, wo du es erwähnst, erinnere ich mich an eine starke Wesensänderung bei Manu. Einige Wochen vor ihrem Verschwinden war sie nicht mehr bei der Sache, war nervös, blickte sich ständig um, als würde sie sich beobachtet fühlen. Und ganz entgegen ihrer sonstigen Art war Manu auch mürrisch und wirkte depressiv, sie schien eine schwere Last mit sich herumzutragen. Dieses Gefühl hatte ich damals jedenfalls.«
»Na bitte, da siehst du es. Und auch diese Mädchen hatten laut ihren Eltern ähnliche Symptome.« Grafinger deutete auf die Fotos. »Diese jungen Mädchen sind bis vor zwanzig Jahren zu unterschiedlichen Zeiten in den Teufelsspalt gestürzt. Dann war plötzlich Schluss.«
»Gibt es sonst noch Gemeinsamkeiten?«, fragte ich und konnte meinen Blick nicht von den Gesichtern losreißen, die so jung und unschuldig aussahen. ›Was ist euch bloß in diesem Jagdhaus widerfahren?‹, dachte ich.
»Es besteht eine weitere Verbindung«, hörte ich Grafingers Stimme. »Alle Mädchen waren zwischen vierzehn und fünfzehn Jahre alt. Auffällig ist auch, dass es immer Augenzeugen gab, die sahen, wie die Mädchen ausrutschten und in den Teufelsspalt stürzten.«
»Das ist ja unglaublich«, meinte ich fassungslos, sammelte mich aber schnell wieder. »Und niemandem sind diese Parallelen aufgefallen?«
»Natürlich nicht, denn es waren wie gesagt alles Unfälle. Die Dorfbewohner haben zwar immer wieder nach den Verschwundenen gesucht, aber nie wurde eine Leiche gefunden. Auch Wissenschaftler und Forscher haben sich mit diesem Phänomen befasst, jedoch ohne Ergebnis. Das hat den Mythos vom Teufelsspalt und dem Fluch der Heiligen Cäcilia natürlich befeuert.«
»Glaubst du an diesen Fluch, Grafinger?«
»Niemals. Der wird nur geschickt genutzt, um Verbrechen zu verschleiern.«