KAPITEL SECHS­UND­DREISSIG

Damals – Manuela

D as Atelier von Liesl Köstlinger war ein ebener Betonbau, den die Künstlerin ein wenig außerhalb von Dunkelsteig errichtet hatte. Mit seiner glatten Fassade, den großen Glastüren zum Garten und den schmalen länglichen Fenstern zur Straße war das Gebäude ein Fremdkörper in der konservativen Architektur des Ortes. Da Manuelas Mutter Liesl jedoch eine bekannte Malerin und Objektkünstlerin war, drückten die verantwortlichen Stellen beim Bau alle Augen zu.

Manuela beobachtete ihre Mutter, die konzentriert vor der Leinwand-Staffelei stand und wild mit einem Pinsel eine Skizze übermalte, auf der ein Gebirgsmassiv mit einer Hochfläche und der Teufelsspalt zu sehen waren. Das Atelier war ungeheizt, da Liesl es liebte, in frostiger Atmosphäre zu arbeiten. Manuela schlang die Arme um ihren Oberkörper, denn in dem dünnen weißen Nachthemd fror es sie. Doch es war nicht alleine die kühle Temperatur, die sie frösteln ließ, sondern auch die Person, die ebenfalls im Atelier anwesend war.

»Platzierst du bitte deine Objekte auf die markierten Stellen am Boden«, befahl Liesl dem untersetzten Mann in einer schwarzen Lederweste. Er stand ein wenig abseits und starrte Manuela unentwegt mit seinen dunklen Augen an. Sie registrierte das sehr wohl, tat aber so, als würde sie nichts bemerken.

»Ich sollte doch bloß die Tiere abliefern«, erwiderte Sepp mürrisch, schob dann aber doch einen ausgestopften Hirsch in die Richtung, die ihm Liesl wies.

»Du machst das wie ein professioneller Set-Designer«, sagte Liesl charmant zu Sepp, der sie aber nur verständnislos anstarrte. Liesl schüttelte mitleidig den Kopf und drehte sich zu ihrer Tochter. »Manu, nimm deine Position zwischen den Tieren ein.«

»Mir tun diese Hirsche leid«, seufzte Manuela.

»Das sind keine Tiere, sondern nur noch Objekte«, verbesserte Liesl sie.

»Für mich bleiben das ermordete Lebewesen, deren Seelen um Rettung flehen.« Manuela schlenderte aufreizend langsam auf bloßen Füßen zu den präparierten Tieren, die nach Mottenpulver rochen, sie aus toten Augen anstierten, und warf sich in Pose. »Findest du das nicht gruselig, dich ständig mit Leichen zu umgeben?«, fragte sie Sepp.

»Tiere haben keine Seele«, murmelte Sepp.

»Was bist du nur für ein roher Mensch.« Manuela schüttelte verständnislos den Kopf.

»Könnt ihr endlich damit aufhören? Manu, bleib jetzt so. Ja, das gefällt mir schon ganz gut«, kommandierte Liesl. Ihre Mutter begutachtete die Szene kurz und skizzierte mit schnellen Strichen Manuelas Umrisse und die der Tiere auf die Leinwand. Konzentriert tauchte Liesl dann den Pinsel in die Farbtöpfe und hielt plötzlich inne.

»Oh, jetzt ist die graue Farbe alle«, meinte sie und legte das Malgerät zur Seite. »Ausgerechnet in dem Moment, wo ich in Fahrt komme. Rühr dich nicht von der Stelle, ich bin gleich wieder zurück«, sagte sie zu ihrer Tochter. Hastig ging Liesl durch das Atelier und verschwand hinter einer hohen Holztür.

Manuela wartete, bis die Schritte ihrer Mutter draußen auf dem Betonboden verklungen waren, dann drehte sie sich zu Sepp.

»Wieso glotzt du mich die ganze Zeit so an?«, fragte sie provokant.

»Mache ich doch gar nicht«, brummte Sepp. Er spielte verlegen mit den Eisenketten an seiner Weste. »Ich achte nur darauf, dass meinen präparierten Objekten nichts passiert. Das Fell ist so empfindlich.«

»Als sie noch lebten, glänzte es viel schöner«, erwiderte Manuela. »Das hier ist nur tote Materie.« Plötzlich stutzte sie. »Was ist das für ein Brandzeichen?« Manuela deutete auf die Flanke des ausgestopften Tiers.

»Das gleiche wie dieses hier, mein Logo«, antwortete Sepp stolz. Er rollte den Ärmel seines Hemds hoch und tippte auf die rot entzündeten Umrisse eines frischen Brandzeichens.

»Oh, das muss schmerzhaft gewesen sein.« Manuela erhob sich und trat an Sepp heran. »Darf ich einmal darüberstreichen?«

»Natürlich.«

Vorsichtig tastete Manuela mit ihren Fingern über die wulstige Brandwunde, schloss die Augen, spürte die Konturen, versuchte den Schmerz einzufangen. Sie wollte eine Vorstellung davon bekommen, wie es sich anfühlte, wenn sich ein rot glühendes Eisen auf die Haut senkte. Wenn die Glut mit einem Zischen Haut und Fleisch verbrannte. Wenn das Eisen einen tiefen Schmerz auslöste und ein unauslöschliches Zeichen zurückließ.

Vielleicht sollte sie sich auch so ein Zeichen einbrennen lassen, und all ihr Schmerz würde sich dann darin sammeln und sie nicht mehr blockieren.

Mit einem lauten Seufzen trat Manuela zurück, streckte ihre Arme in die Luft, reckte sich, bis die Gelenke knackten, und blickte unschlüssig umher.

»Ich möchte auch so ein Branding. Und zwar genau hier«, meinte sie dann und tippte auf ihren Hintern.

Sie spürte Sepps begehrliche Blicke über ihren Körper wandern und lächelte insgeheim. Spontan griff Manuela nach einem Hirschgeweih, das am Boden lag. Mit beiden Händen hob sie das verästelte Geweih auf ihren Kopf, drehte sich blitzschnell im Kreis, ihr dünnes Nachthemd flatterte hoch bis zum Slip.

»Mach mir bitte ein Brandzeichen«, hauchte sie, schritt auf Zehenspitzen zu Sepp, berührte mit den Enden des Geweihs seine Stirn, fuhr langsam an der Schläfe entlang nach unten. ›Ein Brandmal verschwindet nicht, bleibt für ewig bestehen. Man erinnert sich immer an den Schmerz.‹

»Das ist nichts für kleine Mädchen«, durchbrach Sepps dumpfe Stimme ihre Gedanken.

»Ich bin schon lange kein kleines Mädchen mehr.«

Tänzelnd umkreiste Manuela den Tierpräparator, ließ dabei lasziv die Hüften kreisen, verharrte dann kurz vor dem Atelierfenster, damit das einfallende Licht die Konturen ihres Körpers unter dem dünnen Nachthemd hervorhob. Doch mit einem Mal langweilte sie diese Vorführung. Manuela warf das Hirschgeweih zu Boden, schlenderte zu dem kleinen Tisch, auf dem ihre Videokamera lag, schaltete das Gerät ein und richtete das Objektiv auf Sepp.

»Welche bösen Dinge passieren im Jagdhaus in der Tannschlucht?«, fragte sie plötzlich mit einer gekünstelten Reporterstimme.

»Lass das bleiben.« Sepp versuchte, seine Hand vor die Linse zu halten, doch Manuela wich geschickt aus.

»Das ist keine Antwort.« Wieder hielt Manuela die Kamera direkt vor Sepps Gesicht. »Werden dort vielleicht Orgien gefeiert?«

»Natürlich nicht«, empörte sich Sepp. »Im Jagdhaus wird nur altes überliefertes Brauchtum gepflegt. Die Männer tragen Hirschmasken und trinken Met. Das ist ein Honigwein, wie ihn die Männer des Nordens in der Vorzeit genossen haben.«

»Das klingt alles sehr aufregend. Nimmst du mich mit zu einem dieser Feste?« Provokant schwenkte sie die Kamera vor Sepp hin und her, schaltete sie dann aus. »Dann tanze ich für dich ganz allein.«

»Hör auf mit diesem Unsinn«, blockte Sepp sofort ab und blickte verunsichert zur Tür, hinter der Liesl verschwunden war. »Du bist jedenfalls ein richtiges kleines Biest.«

»Und was bist du?«, konterte Manuela. »Ich merke doch, wie ich dich reize.«

»Ich werde darüber nachdenken«, erwiderte Sepp und leckte sich dabei über die Lippen.

»Denk aber nicht zu lange nach. Mein Angebot gilt nur befristet.«

»Okay, ich überlege es mir«, erwiderte Sepp und kratzte den Schorf von seinem Brandzeichen.

»Ich will einmal ganz hautnah erleben, wie es dort zugeht. Und du wirst mich hinbringen.«

»Das ist nicht so einfach«, brummte Sepp. »Kein Fremder darf ohne Genehmigung das Jagdhaus betreten.«

»Dann verstecke ich mich einfach und niemand wird etwas davon bemerken. Denke daran, ich tanze dann nur für dich.«

»Na gut. Aber du darfst das Versteck nicht verlassen, in das ich dich bringe«, flüsterte Sepp und fasste Manuela so fest am Arm, dass sie aufschrie. Sein bärtiges Gesicht näherte sich dem ihren, und sie spürte seinen Atem, der nach toten Tieren roch. Mit seinem schwieligen Zeigefinger strich er über Manuelas Lippen. »Sonst nimmt es ein schlimmes Ende mit dir.«