KAPITEL EIN­UND­VIERZIG

Damals – Karl

A m späten Nachmittag schloss der Gemeindearzt Karl Gmeiner wie immer seine Praxis ab. Der Tag war anstrengend gewesen, denn eine Grippewelle suchte Dunkelsteig heim, und Karl musste eine Menge Rezepte ausstellen, die in der Apotheke in Schwarzach eingelöst werden konnten. Doch bevor er in seine Wohnung ging, machte Karl noch einen Abstecher in den Supermarkt der Genossenschaft. Heute wollte er sich endlich wieder mal eine Flasche Wein gönnen, um sich zu entspannen. Als er hinaus auf die Straße trat, hatte er mit einem Mal den Eindruck, als würde ihn jemand beobachten. Hastig blickte er umher, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Trotzdem wurde er das merkwürdige Gefühl nicht los und drehte sich auf dem Weg zum Supermarkt mehrmals um, aber niemand folgte ihm.

»Wie schön, dich zu sehen«, begrüßte ihn die Filialleiterin, als er das Geschäft betrat.

Karl grüßte zurück, war aber nicht in der Stimmung für Small Talk, sondern griff hastig nach einem Einkaufskorb und verschwand zwischen den Regalen. Immer wieder warf er einen Blick durch das Schaufenster nach draußen, suchte die düsteren Häuserfassaden nach einer verdächtigen Person ab, doch im Licht der Dämmerung konnte er nicht allzu viel erkennen.

Zurück an der Kassa hörte er nur mit halbem Ohr zu, was ihm die Frau über ihre Krankheiten schilderte. Sein Interesse galt einer schattenhaften Gestalt, die er in einem engen Durchlass zwischen zwei Häusern zu sehen glaubte.

»Komm am besten morgen in meine Praxis«, sagte er zu der Kassiererin, strich sein Wechselgeld ein und trat hinaus in die Dunkelheit.

Unauffällig beäugte Karl die Häuserfassaden gegenüber, konzentrierte sich auf den engen Durchlass. In einer Wohnung wurde das Licht eingeschaltet und in dem hellen Schein sah er mit einem Mal jemanden, der einen Gegenstand in der Hand hielt, der rot aufleuchtete.

»Na warte, du Früchtchen!« Karl stellte seine Einkaufstüte auf den Boden und lief über die Straße hinein in die schmale Gasse. Er entdeckte eine schmale Gestalt, die eine Videokamera in der Hand hielt und ihn filmte. Ehe die Person reagieren konnte, war Karl auch schon bei ihr, packte sie am Arm und zog ihr die Kapuze vom Kopf. Als die langen blonden Haare über die Schultern des Mädchens fielen, nickte er zufrieden. Er hatte sich also nicht getäuscht.

»Warum verfolgst du mich mit deiner Kamera?«, fragte Karl und hielt die Hand vor das Objektiv.

»Stört es dich? Hast du etwas zu verbergen?« Manuela hielt Karls Blick frech stand und hörte nicht auf zu filmen.

»Was soll das? Beobachtest du mich schon länger? Lass es gefälligst bleiben, sonst …«, schnaubte Karl und hob drohend die Hand.

„Wer weiß, was ich schon alles gesehen habe. Jeder Mensch hat doch ein Geheimnis, und welches verbirgt wohl unser Gemeindearzt Karl?«, fragte Manuela, duckte sich unter seinem Arm hindurch und verschwand in der Dunkelheit.

»Ich habe kein Geheimnis!«, rief Karl. Dann schaute er sich nervös um, ob ihn jemand beobachtete, doch die Straße war menschenleer. Mit einem erleichterten Seufzer packte Karl seine Einkaufstüte und ging nach Hause.

Nachdem er seine Einkäufe in der Küche verstaut hatte, schritt er unruhig in seiner Wohnung auf und ab. Schließlich hielt er es nicht länger aus und ging durch die Hintertür hinaus ins Freie. Von Gewissensbissen gepeinigt stapfte er zu einem gemauerten Anbau, der sich an der Rückseite seines Hauses befand und dessen Tür mit einer schweren Eisenkette gesichert war.

Mit ihrer Frage hatte Manuela unbewusst ins Schwarze getroffen. Karls Geheimnis befand sich in einem unauffälligen Werkzeugschuppen.

Konzentriert öffnete der Gemeindearzt das Schloss, trat ein und verriegelte die Tür hinter sich. Nach einer Sekunde des Zauderns knipste er die Glühbirne an, die von der Decke hing. In dem gelblichen Schein der Lampe wirkte der kleine Altar an der rückwärtigen Wand wie aus Gold. Es war ein schmaler Tisch mit drei aufklappbaren Stellwänden, auf die normalerweise Heiligenbilder gemalt waren. Doch Karl hatte ihn zu seinem ganz persönlichen Altar gemacht, und anstelle der Heiligen waren Dutzende von Kinderfotos auf die Stellwände geklebt. Sie alle zeigten dasselbe blonde Mädchen in unterschiedlichem Alter.

»Ich darf nicht die Hand gegen dieses Mädchen erheben«, schluchzte Karl und kniete sich auf den Betschemel, der vor diesem Altar stand. Mit zitternden Fingern knöpfte er sein Hemd auf, warf es hinter sich, zog das Unterhemd über seinen Kopf und ließ es ebenfalls zu Boden sinken. Ohne seinen Blick von den Kinderfotos abzuwenden, tastete er über die Steinfliesen und spürte den ledernen Griff einer neunschwänzigen Katze.

»Ja, ich habe gesündigt«, murmelte Karl und packte den Knauf der Peitsche fester. »Ich habe gesündigt«, wiederholte er und hob den Arm. Die ledernen Peitschenschnüre trafen seinen Rücken, er spürte, wie die harten Knoten der neun Lederriemen die Haut aufrissen, und der Schmerz fuhr ihm durch Mark und Bein. Immer wieder holte Karl aus, obwohl die Qualen grell wie Blitze durch seinen Schädel rasten, doch er kannte keinen Pardon, denn er war ein Sünder.

Als er schließlich keinen Schmerz mehr spürte, sondern nur noch ein dumpfes Pochen in jeder Faser seines Körpers, ließ er die Peitsche sinken. Karl versuchte, sich vom Betschemel zu erheben, doch er schaffte es nicht und rutschte seitlich auf den kalten Steinboden. Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte kroch er auf allen vieren zu dem improvisierten Altar und flüsterte mit erstickter Stimme dem Mädchen auf den Fotos zu: »Es tut mir leid.«