2. Kapitel
«I
ch weiß nicht, was Kunst ist», sagte Florence.
In der nächsten Sekunde flog etwas durch die Luft und traf sie am Kopf. Es tat nicht sonderlich weh. Sie schaute nach unten auf ihre nackten Füße, um zu sehen, was sie getroffen hatte: Es waren die Reste des Bug Mac, den Aaron gerade noch gegessen hatte. Sie wusste genau, dass es seiner war, denn niemand sonst hätte seinen Bug Mac einfach geworfen. Aaron mochte ihn so wenig wie alle anderen Burger, die aus Mehlwurmfleisch bestanden. Er meinte, es hätte nichts damit zu tun, dass ihm die Dinger nicht schmeckten, sondern nur damit, dass er es für moralisch verwerflich hielt, Mehlwurmfleisch zu essen. Er fand, dass auch Mehlwürmer Gefühle hätten und dass es grausam wäre, sie extra dafür so zu züchten. Aaron war einer von den sensibleren Jungen, und Florence fragte sich, wieso man ausgerechnet ihn zum Anführer einer Gruppe von Ruhestands-Vollstreckern gemacht hatte. All das ging ihr in Sekundenschnelle durch den Kopf, nachdem sie der Bug Mac getroffen hatte.
«Kunst», sagte Aaron. «Das Wort steht für etwas Albernes, Unnützes und Sinnloses, etwas, das niemand versteht. Und das schließt dich offenkundig mit ein, du verschlafener kleiner Dummkopf.»
«Katzenkacke?», rief der Ansager.
«Katakonischer Sumpf», antwortete Florence. «Möglicher geistiger Zustand eines alten Menschen.»
«Kev?»
«Jemand, der so hart ist wie Kevlar. Benannt nach der Kevlarjacke.»
«Rolex?»
«Etwas, das Mist ist, Fake. Alles, was nicht funktioniert.»
«Bananensplit?»
Florence zögerte.
Der Ansager wiederholte. «Bananensplit?»
«Äh –»
Ein Stück Käse traf sie am Ohr. Es tat weh – so sehr, dass sie am liebsten angefangen hätte zu heulen. Doch das hätte ihre automatische Disqualifizierung von der Prüfung bedeutet.
Viva: Das war Jargon für den persönlichen Jubeltag, also den Tag, an dem man in der Burg seinen Abschluss machte – wobei Burg für das stand, was man normalerweise Internat nannte und was in den letzten sechs Monaten Florence’ Zuhause gewesen war. An seinem sechzehnten Geburtstag – oder zumindest um diesen Dreh herum, so wie es gerade passte – musste man sich mit einem zweiten RUV
-Azubi vor dem Rest der Truppe auf eine Kiste stellen und wurde im Kreuzverhör auf sein Jar-Wissen geprüft – den speziellen Jargon, den die Leute im Senioren-Service zu kennen hatten. Der eigentliche Zweck des Jubeltags war, sein Jar-Wissen unter erhöhtem Druck zu testen, denn wie man Florence immer wieder eingebläut hatte, konnte das Leben davon abhängen, dass man wusste, was
irgendein Jar-Ausdruck bedeutet. Also hielt Florence die Tränen zurück und zeigte sogar ein tapferes Lächeln, während sie darauf wartete, dass der Chef-RUV
die Antwort gab.
«Bananensplit bedeutet Gnadenschuss», sagte Gabriel müde. «Das, was du jemandem gewährst, mit dem du zu sorglos umgegangen bist, um ihn gleich mit dem ersten Schuss zu erledigen. Gewöhnlich richtet man den Gnadenschuss auf den Kopf, und zwar aus kurzer Distanz, was zur Folge hat, dass jede Menge TK
aus dem Loch spritzt, so wie ein Schwall … na ja … wie Tomatenketchup eben.»
Aaron stöhnte. «Deshalb heißt Blut ja überhaupt TK
, du vertrantes Stück Kunst.»
«Ja, klar», sagte Florence. «Tut mir leid, Gabriel.»
Und es tat ihr wirklich leid. Denn mehr als alles auf der Welt wollte sie ihre Prüfung schaffen, um ihre Lizenz zu bekommen. Tatsächlich genoss sie ihre Tage in der Burg in vollen Zügen. Die letzten sechs Monate waren die beste Zeit ihres noch jungen Lebens gewesen. Essen, so viel man wollte, Fernsehen ohne Ende, Training, eine coole schwarze Uniform und die Kameradschaft der besten Freunde, die sie je gehabt hatte. Die Burg war einfach phantastisch. Viel besser als das Leben mit ihren Eltern. «Sei glücklich in deiner Arbeit», hatten ihr die Ausbilder zu Beginn und Ende eines jeden Tages in der Burg gesagt. Und das war sie. Oder würde sie sein, wenn sie ihren Jubeltag schaffte und ihre Lizenz bekam.
«Spielzeit?»
«Entspannung.»
«Grab?»
«Etwas, das alt und grau und bereit für die Abdeckerei ist.»
«Diese Jars sind zu einfach», beklagte sich Gabriel. «An meinem Jubeltag waren die Fragen deutlich schwerer.»
«Das ist doch ewig her», antwortete jemand. «War bestimmt in der Zeit vor den Religionskriegen. Wundert mich, dass du dich daran überhaupt noch erinnerst.»
«Dann mach du doch den Ansager», sagte Aaron. «Von mir aus gern.»
«Okay», antwortete Gabriel. «Einverstanden.»
Während er einen Moment nachdachte, nahm Florence das Stück Käse von ihrer Stiefelspitze und aß es auf. Edamer, ihre Lieblingssorte.
«Wär doch schade, so was verkommen zu lassen», sagte sie. «Außerdem liebe ich Käse.»
Die anderen aus der Truppe johlten. Ihre Worte bewiesen, dass Florence nicht pingelig war. Denn das konnte draußen auf der Straße den Tod bedeuten.
«Seni?», sagte Gabriel.
«Altenheim», antwortete Florence. «Nur dass das nicht mehr so heißt. Altenheime heißen jetzt Ruzis. Ruhestandszentren. Niemand sagt heute noch Seni dazu.»
«Sie hat recht», fuhr Aaron dazwischen. «Macht dreizehn Punkte. Was ihr Leistungssoll ist, und das bedeutet, jetzt ist Tony dran.»
Florence setzte sich dankbar und untersuchte die Schäden an ihrer Kleidung. Nicht dass die Flecken von Bedeutung waren. Für seinen Jubeltag wurde man dazu ermutigt, die umfangreiche Kleiderkammer und Make-up-Abteilung der Burg zu nutzen und als eine Gestalt aus der Literatur
zu erscheinen. Das Problem war nur, dass kein Mensch mehr Literatur kannte – Literatur war etwas für traurige alte Schachteln –, aber in der Kostümabteilung hatte Florence, versteckt zwischen Theaterrequisiten, ein paar echte Bücher gefunden, die den Flammen entkommen waren. Und eines davon enthielt ein Foto von einem Mann namens Gandhi. Niemand sei je zuvor als Gandhi verkleidet zum Jubeltag gekommen, meinte Major McKendrick.
Florence wusste nicht viel über Gandhi, doch anhand dessen, was man auf dem Bild sah, war sie in der Lage gewesen, ein überzeugendes Kostüm zusammenzustellen, von dem alle behaupteten, dass es zum Besten gehöre, was sie jemals gesehen hätten. Es stimmte, niemand hatte eine Ahnung, wer Gandhi war, außer dass er Politiker gewesen sein musste, was ihn automatisch zu einer verachtenswerten Figur machte, doch das spielte keine Rolle. Wichtig war nur, dass es ein äußerst auffälliges Kostüm darstellte, und darum ging es beim Jubeltag. Sie hatte natürlich Hilfe bekommen. Major McKendrick mochte Florence und hatte wirklich keine Mühe gescheut, um das Kostüm zu perfektionieren. Florence war gertenschlank, was dem Ganzen sehr entgegenkam. Doch mit dieser albernen kleinen grauen Schneckenspur von einem Bart (genau wie die Dinger, die die TAS
über der Oberlippe trugen), der Glatzkopf-Attrappe, dem schlichten handgenähten Umhang, der kleinen TAS
-Brille und natürlich dem braunen Körper-Make-up kam sie dem Foto von Gandhi wirklich sehr nahe.
Florence hatte versucht, mehr über ihn rauszufinden, für den Fall, dass man ihr wegen des Kostüms Fragen stellte. Aber sie fand nicht viel mehr, als dass Gandhi ein indischer
Freiheitskämpfer gewesen sein musste. Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, dass er ein großer Kämpfer hatte sein können – nicht mit der Brille und dieser schmächtigen Gestalt.
«Du warst bei der Prüfung echt protz», sagte Vic gerade – er war einer von den Chefs, die sie während der Fragen schikaniert hatten.
«Danke.»
«Übrigens, was war eigentlich mit diesem Gandhi?»
«Er wurde erschossen.»
«Passt.»
Er zeigte ihr das Video, das er bereits auf seinen Me Channel hochgeladen hatte, doch Florence wollte sich den Film jetzt nicht anschauen, denn nun stand Tony auf der Kiste.
Florence war sich ganz und gar nicht sicher, wen er darzustellen versuchte. Er trug Ballerinas, rosa Strümpfe, ein weißes Hemd, eine schmale schwarze Krawatte, eine sehr enge gelbe Seidenhose und dazu eine passende gelbseidene Halbjacke. Über der Schulter lag etwas aus einem roten Material, das offenbar einen Umhang darstellen sollte.
«Seife?», sagte der Fragesteller.
«Ein Politiker», antwortete Tony.
«Moment», unterbrach Aaron die beiden. «Du hast noch gar nicht gesagt, wen du darstellst.»
«Ich bin ein Stierkämpfer.»
«Ein was?»
«Ein Stierkämpfer. Jemand, der früher gegen Stiere kämpfte.»
«Aber nicht in den Klamotten, niemals.»
«Ich schwöre, es stimmt. Hab ein altes Video gesehen.»
«Und wo ist seine Ticktock?»
«Ja, genau, wo ist seine Glock?»
«Ein Stierkämpfer hatte keine Ticktock. Er benutzte einen Umhang, so wie den hier.»
«Wie kann man mit einem Umhang gegen einen Stier kämpfen?»
«Weiß ich auch nicht genau», gab Tony zu.
«Kann kein richtiger Kampf gewesen sein», sagte Aaron. «Jeder Stier, der etwas auf sich hält, würde dich zum Frühstück verspeisen. Selbst mit einer Ticktock würde ich es mir zweimal überlegen, gegen einen Stier zu kämpfen.»
«Ich glaube, du erzählst uns Märchen», meinte Gabriel.
«Es stimmt, ehrlich. Ich hab das Video gesehen.»
«Und wo soll der gewesen sein, dieser Stierkampf?»
«Auf der West-Halbinsel 5», sagte Tony. «Glaube ich.»
Alle stöhnten. «Dann ist ja klar», meinte jemand.
Die West-Halbinsel 5 war die ehemalige Region Spanien, wo man, wie es hieß, vieles anders machte als auf der Westhalbinsel 1 – der Region, die früher England und Wales genannt wurde.
«Okay», sagte der Fragesteller und brachte sie wieder zur Ruhe. «Lasst uns jetzt mit dem Jubeltag weitermachen. Aber genau genommen ist ein Stierkämpfer – immer vorausgesetzt, dass es so etwas je gab –»
«Ich hab das Video gesehen», wiederholte Tony.
«Genau genommen ist das keine Figur aus der Literatur. Um eine Figur zu sein, muss man einen Namen haben.»
«Ich hab einen Namen», beharrte Tony. «Ich bin Sancho Pansa, der Stierkämpfer.»
«Na gut», sagte der Ansager und schleuderte einen Kuchen auf Tony, einfach bloß so, weil es ihm zustand.
«Zuschlagen?», rief er.
Florence zuckte zusammen, als der Kuchen Tonys Auge traf.
«Etwas stehlen», antwortete Tony unbeirrt.
«Große Taschen haben?»
«Reich sein.»
Und so ging es immer weiter.
Es kam Florence gar nicht so vor, als ob es schon sechs Monate her war, seit sie sich dem Senioren-Service angeschlossen hatte. Florence fand jedenfalls, dass es die besten sechs Monate ihres Lebens waren.