21. Kapitel
V
om Bleeding Heart Yard ging Florence nach Südosten, durch schmuddelige Straßen, in denen es von Drohnen und finster dreinschauenden Leuten nur so wimmelte, in Richtung Covent Garden. Die Leute warfen ihr beunruhigte Blicke zu, als sie eilig über den Gehweg lief, wie wenn sie erwarteten, Florence würde jeden Moment den Arm heben und auf einen flüchtigen Altersschwachen schießen. Ein paar wechselten aus Angst sogar die Straßenseite, denn wegen Leuten wie Clive war es keineswegs ungewöhnlich, dass bei Verfolgungen auch UP
s getroffen wurden.
Normalerweise hätte Florence vielleicht die U-Bahn genommen, doch auch wenn Wristpads in den U-Bahntunneln nicht funktionierten, konnten die Ticket-Barrieren durchaus ihren Weg nachverfolgen. Die Chance, weiterhin unentdeckt zu bleiben, war eindeutig größer, wenn sie zwischen der Ecke Chancery Lane und der U-Bahn-Station Aldwych – in der es keinen Senderempfang und auch keine Ticket-Barrieren gab – die mit Stahl ausgekleidete Holborn-Unterführung benutzte. Und wenn das Signal des ATC
erst einmal unterbrochen war, dauerte es normalerweise ein paar Minuten, ehe das Wristpad es wiederfand. In dieser Zeit hoffte Florence, es sicher ins Obergeschoss des Antiquitätenladens geschafft zu haben, wo Mr. Charrington
vielleicht wie beim letzten Mal das Radio anstellte und auf diese Weise das Signal blockierte, solange sie und Eric ihre Privatsphäre genießen wollten.
Privatsphäre
– allein das Wort kam Florence schon wie ein ungewohnter Luxus vor. Sie konnte sich überhaupt nicht erinnern, wann sie das letzte Mal versucht hatte, irgendetwas unüberwacht zu tun. Privatsphäre gehörte wahrscheinlich genau zu den Dingen, die O’Brien und die Regierung um jeden Preis abschaffen wollten, so wie Individualismus und Widerspruch, eigene Ansichten und Gefühle. Und sicherlich auch Liebe – vor allem die verbotene Liebe zwischen jemandem aus dem Volk und einem BMW
von der Unterhaltungsgesellschaft. Aus einer Beziehung mit Eric konnte nach Ansicht der Regierung nichts Nützliches erwachsen. Vielleicht war es ja gerade das, was das Ganze so reizvoll machte. Ihre Liebe diente keinem Zweck. Sie war nur eine Verrücktheit, die reine Verrücktheit. Einen Moment lang hatte Florence das Bild eines Stiefels der Geheimpolizei vor Augen, der ihren Geliebten ins Gesicht trat, um sein schönes Aussehen für immer zunichtezumachen. Schnell verscheuchte sie dieses Bild aus ihrem Kopf. Den Gedanken an eigene Schmerzen konnte sie ertragen, aber nicht den an Schmerzen ihres Geliebten. Sie würde lieber die Pistole gegen sich selbst richten, ehe sie zuließe, dass ihm etwas geschah.
Als Florence den alten Laden erreichte, lief sie gleich nach oben und schaltete, ohne Mr. Charrington zu fragen, das Radio an, um das Signal zu blockieren. Als der blaue Bildschirm an ihrem Handgelenk dunkler wurde, stieß sie einen erleichterten Seufzer aus. Danach blätterte sie
nervös in dem medizinischen Lexikon, um vielleicht etwas mehr über Early-Onset-Demenz zu erfahren.
Zwei Minuten später erschien Mr. Charrington am oberen Ende der Wendeltreppe.
«Ach, du bist es», sagte er. «Da bin ich erleichtert. Ich habe mich schon gefragt, wer das sein könnte. Für einen Moment dachte ich, jemand versucht, vor der Kriminalpolizei zu fliehen.»
«Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, aber ich bin den ganzen Weg durch die Holborn-Unterführung gerannt, um hierherzukommen und Ihr Radio einzuschalten, bevor das verdammte Ding an meinem Arm wieder ein Signal kriegt.»
«Ich habe absolut nichts dagegen», antwortete Mr. Charrington. «Im Gegenteil, ich freue mich, dich wiederzusehen. Ist selten, dass Kunden noch ein zweites Mal kommen.»
Er ging zu dem Radio hinüber und drehte an einem großen Knopf, bis ihr Wristpad komplett dunkel wurde. «So», sagte er. «Das ist das Zeichen, dass dein Gerät vollständig blockiert ist. Solange du hier im Raum bleibst, weiß niemand, dass du da bist.»
«Genau genommen stimmt das nicht ganz», gestand Florence. «Wissen Sie, ich habe einen guten Freund gebeten, mich hier im Laden zu treffen. Mir ist klar, dass ich mir da eine große Freiheit herausgenommen habe … aber nachdem Sie beim letzten Mal so freundlich waren, dachte ich, vielleicht haben Sie nichts dagegen.»
«Eine Freiheit», sagte Mr. Charrington. «Ganz genau, du sagst es. Nur dass ich darüber sehr froh bin. Denn genau
darum geht es bei Alice. Um das Schaffen von Freiheiten, die vorher nicht existierten. Oder verboten wurden. Oder erodiert sind.»
«Alice? Wer ist das?»
«So nenne ich es. Alice steht für Allouis und Issodoun, zwei französische Städte, in denen das System vor vielen Jahren erfunden wurde. Einfach gesagt ist es ein kompaktes, in alle Richtungen schwenkbares Antennensystem für leistungsstarke Kurzwellen-Radioübertragung – und zur Funkwellen-Blockierung. Genau über dem Raum hier, in dem wir stehen, befindet sich ein großes quadratisches Dach, das die eigentliche Antenne darstellt; was auch bedeutet, dass sie von keiner Regierungsdrohne entdeckt werden kann. Andernfalls würden sie sicher bald hier sein und die Antenne vernichten – und mich wahrscheinlich mit. Wegen ihrer Bandbreite und der Dipol-Anordnung kann bei Alice nichts durchdringen. Nicht mal der ATC
. Also, entspann dich. Atme durch. Und dann erzähl mir von deinem Freund.»
«Oh, er wird Ihnen gefallen, Mr. Charrington. Er ist sehr klug. Ich glaube, er hat jede Menge Bücher gelesen, und er weiß ganz viel über Geschichte und Videos. Bloß dass er die Videos immer Filme nennt. Ich hab ihn in dem Kino getroffen, von dem Sie sprachen. Dem Electric in Notting Hill. Um ehrlich zu sein, er erinnert mich an Sie, wirklich.»
«Nur jünger und schöner, nehme ich an.»
Florence wurde wieder rot. «Ja», sagte sie. «Er heißt –»
«Nein», sagte Mr. Charrington entschieden. «Bitte. Es ist besser, wenn ich seinen Namen nicht kenne. Oder auch deinen. Aus einleuchtenden Gründen. Wenn ich seinen
Namen nicht weiß – oder deinen, denn den hast du mir ja noch nicht genannt –, dann kann ich euch auch nicht verraten, oder?»
«Nein, das stimmt.»
«Liebst du ihn?»
«Ich liebe ihn, und ich vertraue ihm.»
«Gut.»
«Aber ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn er meine Nachricht nicht erhalten hat. Wenn er nicht kommt. Immerhin ist es ja ziemlich gefährlich. Wir dürften eigentlich keine Beziehung führen. Und gut möglich, dass er die Nerven verliert. Uns hier zu treffen – das war nämlich meine Idee.»
«Glaub mir, wenn er dich liebt, dann kommt er. ‹Die Liebe wagt, wo selbst der Wolf zu rauben zagt.›»
«Das sagt er auch.»
«Dann mag ich ihn schon jetzt.»
«Zumindest den ersten Teil. Von Wölfen hat er nicht gesprochen.»
«Nein, das war Lord Byron», erklärte Mr. Charrington. «Ein berühmter Dichter. Jedenfalls früher.»
«Was ist denn ein Dichter?»
Mr. Charrington seufzte und schüttelte den Kopf, als ob er wegen irgendwas traurig wäre.
«Ein Dichter», erklärte er geduldig, «ist jemand, der Poesie in Form eines Gedichts schreibt. Heutzutage gibt es keine große Nachfrage für so etwas, aber Dichter und Gedichte sind enorm hilfreich, wenn man liebt. Sie scheinen in der Lage, etwas in eine wohlklingende Wortfolge zu bringen, das wir anderen vielleicht fühlen und verstehen,
aber nur vage zum Ausdruck bringen könnten. Ich fürchte, ich habe nichts von Lord Byron da. Alle seine Werke sind verloren, was ich sehr bedaure. Besonders wegen des Don Juan
. Aber ich habe eventuell ein paar Gedichte von jemand anderem. Einem weitaus schlechteren Dichter, daran lässt sich jedoch im Moment nichts ändern. Ja, ich glaube, ein Gedicht habe ich irgendwo hier in einer Schublade.»
Mr. Charrington ging zu einem alten Sekretär und zog mehrere Schubladen auf, ehe er fand, was er suchte – versteckt zwischen einem Durcheinander aus allem möglichen Plunder.
«Ah, da ist es», sagte er und schwenkte ein lilafarbenes Blatt Papier. «Ich fürchte, ich kann dir nicht sagen, von wem es geschrieben wurde, doch es ist ein Gedicht, und es geht darin um Liebe, was natürlich entscheidend ist.»
Er reichte Florence das Blatt, und sie las das handgeschriebene Gedicht mehrere Male, ehe sie ein wenig davon verstand.
Ich sah dich im Schlaf,
und ich sah dich bei Tag.
Ich studierte dein Lächeln
wie ein Gelehrter ein Buch.
Für einen liebenden Blick von dir
liefe ich meilenweit
auf meinen Knien,
watete in den tiefsten Tiefen
deiner braunen Augen
und wollte nie mehr zurückkehren.
Ich sah dich lachen,
und ich sah dich weinen.
Ich bewunderte deinen Körper
wie ein Maler seine perfekte Muse.
Um noch einmal dein Seufzen zu hören,
als du mich lehrtest,
dein ergebener Liebhaber zu sein,
würde ich mich deiner Sekte verschreiben
und abschwören allen anderen Göttern,
nur dir nicht, Geliebte,
und niemals zaudern.
Ich habe deine Lippen geküsst.
Ich habe jeden Bann
von dir eingesogen.
Ich habe gebetet,
in kalten, einsamen Räumen,
aus Angst, dich nie wiederzusehen.
Ich habe gebetet,
dass du in meiner Nähe wärst,
auch wenn ich wusste,
du warst es nicht.
Und wenn ich tatsächlich glaubte,
dass dein Geschmack für mich
auf immer verloren wäre:
Ich würde meine Zunge verschlucken
und nie wieder atmen.
Florence sah sich in dem schäbigen kleinen Zimmer über Mr. Charringtons Laden um und stieß die Luft aus, die sie beim Lesen zurückgehalten hatte. Alles in dem Raum wirkte alt, abgewetzt und verstaubt, und es war schwer zu
glauben, dass etwas so Schönes wie dieses Gedicht in der Schublade eines uralten Sekretärs verborgen gelegen hatte.
«Oh, ich finde es wunderschön», sagte sie und drückte das Gedicht an sich. «Einfach perfekt, wirklich. Es ist genau, wie Sie gesagt haben. Genau das fühle ich bei meinem Freund, nur dass ich es niemals so ausdrücken könnte.»
«Dann behalte es», antwortete Mr. Charrington. «Ich glaube, ich kann es immer noch recht gut auswendig, selbst nach so vielen Jahren.
«Aber wie das? Es sind so viele Worte.»
«Ach, weißt du, früher waren Menschen in der Lage, ganze Shakespeare-Stücke aufzusagen. Aber wir haben es uns abgewöhnt, Gedichte und Romane auswendig zu lernen, weil wir es nicht mussten. Computer haben das alles für uns erledigt. Und dann, als die Große Auslöschung passierte und die Computer alle Gedichte und Romane vernichteten, tja, da war es natürlich zu spät. Doch der Hauptgrund, wieso ich dieses Gedicht auswendig kann, ist wohl, dass ich
die Zeilen geschrieben habe, als ich selbst sehr in ein Mädchen verliebt war. Ich hatte einfach vergessen, wie sehr ich sie geliebt habe, bis ich es gerade eben zum ersten Mal wieder anschaute.»
«Sie
haben das Gedicht geschrieben? Wieso haben Sie das nicht gesagt?»
«Ich wollte erst sehen, ob es dir gefällt. Wenn nicht, hätte ich seine Herkunft für mich behalten. Wir Dichter haben empfindsame Seelen.»
«Ja. Ja, das verstehe ich.»
«Es ist kein Byron», sagte Mr. Charrington. «Nicht mal ein Larkin oder Lowell. Aber es ist ein echtes Gedicht. Und
geschrieben aus dem besten Grund, den es gibt, Poesie zu verfassen: dem der Liebe.»
«Das verstehe ich. Ihre Handschrift ist wunderschön. Viel schöner als meine.»
«Ich hatte mehr Übung.»
«Und mir gefällt die Farbe des Papiers, auf dem es geschrieben ist. Sie ist so sanft und schön.»
«Ich mochte das Papier auch sehr. Ich habe es in Venedig gekauft, in einem Laden namens Paparesse
, wo sie alle möglichen Arten von wunderschönem Papier machten. Ich war dort in Urlaub mit einem Mädchen, das Sofia hieß. Und ich wollte etwas schreiben, um meine Gefühle für sie zum Ausdruck zu bringen. Deshalb ging ich in das Hotel zurück, wo wir wohnten, und brachte den Rest des Nachmittags damit zu, das Gedicht zu schreiben. Bevor ich es sauber abschrieb und ihr am Abend im Restaurant überreichte.»
«Hat es ihr gefallen?»
«Ja. Zumindest hat sie das gesagt.»
«Was ist aus ihr geworden?»
Mr. Charrington antwortete nicht.
«Wenn du willst, kann ich dir ein Foto zeigen.»
Doch statt einen Bildschirm zu suchen und ihr ein elektronisches Foto zu zeigen, ging Mr. Charrington wieder an die Schublade, zog ein kleines Papierbild heraus und reichte es ihr.
«Sie ist wunderschön», sagte Florence.
«Nicht wahr?»
Florence gab ihm das Foto zurück und schob das Gedicht vorsichtig in die Tasche ihrer Uniformjacke.
«Danke», sagte Florence. «Ich werde es gut hüten. Es kommt in mein Tagebuch.»
«Du schreibst wirklich Tagebuch? Das ist ja großartig. Ich freue mich sehr. Es ist nicht nur die Vergangenheit, die allen Tagebuch schreibenden Menschen gehört, sondern auch die Zukunft.»
Beide drehten sich um, als sie plötzlich die kleine Glocke am Eingang hörten.
«Ich denke, das wird dein Freund sein», sagte Mr. Charrington. «Bleib du hier oben. Ich schaue mal nach. Und wenn er es ist, dann schicke ich ihn zu dir rauf.»
«Vielleicht ist es ja nur ein weiterer Kunde», meinte Florence.
«Vielleicht.»
«Woran werden Sie es erkennen?»
«Glaub mir, ich kenne den Unterschied. Ich bin schon sehr lange in diesem Geschäft, und ich sehe sofort, wer sich bloß für ein paar alte Sachen interessiert und wer verliebt ist.» Er lachte. «Soll ich euch beiden Kaffee bringen? Richtigen Kaffee? Aus richtigen Bohnen gekocht, nicht mit dem Zeug von der West-Halbinsel, das es abgepackt gibt.»
«Ich glaube, richtiger Kaffee wäre wunderbar.»
«Gut.»
«Hallo?», sagte unten eine Stimme.
Florence’ Herz hüpfte wie ein Hase in ihrer Brust, dann hielt sie sich die Hand vor den Mund. Es war Eric.
«Komme!», rief Mr. Charrington.