28. Kapitel
A ls Florence abends zurück in der Burg war, lag etwas Bedrohliches und Spannungsgeladenes in der Luft. Vielleicht kündigte sich nach der Hitzewelle ein Gewitter an, über das sich jeder in London gefreut hätte. Alle waren sich einig, dass die Stadt dringend Regen brauchte, um die Luft zu reinigen und die Straßen sauber zu spülen. Doch es war weit und breit keine Wolke an dem sich rötenden Abendhimmel zu sehen, und Florence begriff schnell: Das Bedrohliche ging eher von einem Gerücht aus, das in der Burg umging. Angeblich sollte es noch in dieser Nacht eine öffentliche Verhaftung oder Denunzierung geben. Angeblich stand jemand im Senioren-Service auf der Abschussliste. Aber wer? Und wieso? Niemand schien etwas zu wissen.
Kurze Zeit später wurden sie alle im Hauptsaal zusammengerufen, um eine außerordentliche Bekanntmachung von Brigadeführer North zu hören. Florence hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Doch auf ihrem Weg in den Saal nahm Victor Goldstein aus ihrer Gruppe sie beiseite und sagte etwas Seltsames.
«Ich hasse dich, Florence.»
«Wieso sagst du das, Vic?»
Er war auf eine schlichte Weise gut aussehend mit seiner Lücke zwischen den beiden Vorderzähnen und den blauen Augen, die wegen seiner übel gebrochenen Nase ein kleines bisschen zu weit auseinanderstanden. Er war nicht der hellste Kopf der Gruppe, aber solide und zuverlässig. Florence hatte ihn immer ganz gern gemocht, weshalb sie das Gesagte besonders schockierte. Nach Clive hatte sie sich sehr darum bemüht, unter den Genossen ein bisschen beliebter zu sein.
«Ich hätte Gruppenführer werden sollen, nicht du», sagte er laut. «Ich bin der Ältere. Nachdem Clive starb, wäre eigentlich ich als Nachfolger dran gewesen. Deshalb hasse ich dich. Und ich habe alles getan, um dich zu vernichten.»
«Es war doch nicht meine Entscheidung, wer die Gruppe übernimmt, das weißt du genau. Das haben die Anführer entschieden.»
Doch dann beugte sich Vic vor und flüsterte ihr ins Ohr: «Ich hasse dich nicht wirklich, Florence. Ich sage das nur wegen dem Wristpad. Hör zu, sag jetzt nichts. Versprich mir nur, dass das, was du tust, einem guten Zweck dient. Dass du einen fertigen Plan im Kopf hast. Dann wird alles die Mühe wert sein.»
Florence schaute auf ihr Wristpad und fragte sich, ob der ATC etwas von dem Gespräch mitbekommen hatte. Ihr war völlig unklar, wovon Vic sprach, doch wenigstens konnte das Wristpad nichts gehört haben, da war sie sich sicher.
«Dann wird was die Mühe wert sein? Ich verstehe kein Wort. Wovon redest du, Vic?»
«Major McKendrick hat dein Tagebuch gefunden», flüsterte er.
Florence erstarrte. «Was?»
«Hat eine plötzliche Durchsuchung sämtlicher Studierzimmer gegeben – ist lange her, dass sie das gemacht haben –, und Major McKendrick hat dabei dein Tagebuch entdeckt. Unter deiner Matratze. Tut mir leid, ist ja eigentlich privat, aber ich hab es gelesen, als sie los ist, um es dem Brigadeführer zu melden. Sie hat gesagt, ich solle drauf aufpassen. Doch stattdessen hab ich’s gelesen. Und weißt du was? Es ist wunderbar. Wirklich wunderbar. Ehrlich, Florence, auch ich hasse Winston. Bitte versprich mir, dass du etwas unternimmst. Dass du etwas von deinem Hass in die Tat umsetzt.»
«Ich wüsste nicht, wie das jetzt noch gehen soll», flüsterte sie mit schwacher Stimme. «Ich bin erledigt. Die schicken mich in ein Arbeitslager. Oder machen noch Schlimmeres mit mir.»
Erstaunlich war nur, dass man ihr bisher keine Handschellen angelegt hatte. Doch der Grund für die außerordentliche Bekanntmachung war jetzt auf jeden Fall klar: Sie würden sie festnehmen, vielleicht sogar vor der ganzen Burg einem Standgericht unterziehen. So viel zu ihren großen Plänen in Sachen Revolution. Ein albernes Tagebuch hatte sie zur Strecke gebracht. Das war das Ende für sie alle: Eric, seine Eltern, ihre Mutter. Thomas Blair hatte recht gehabt. Bestimmt würden sie sie foltern, und Florence würde die ganzen Pläne von Erics Großeltern verraten. Ihre einzige Hoffnung war jetzt, dass sie sterben würde, bevor sie ihr Schweigen brach. Sie überlegte bereits, sich selbst zu erschießen.
«Mach dir keine Sorgen, Windy», sagte Vic. «Die werden dich nicht festnehmen. Das können sie gar nicht. Verstehst du, ich habe das Tagebuch nämlich im Kamin des Schlafsaals verbrannt. Gleich nachdem ich es gelesen hatte. Die waren echt sauer deswegen. Und als sie mich fragten, wieso ich es verbrannt hätte, hab ich gesagt, es wär gar nicht dein Tagebuch gewesen, sondern meins und dass es sie nichts anginge, mein Tagebuch zu lesen. Ich hätte es unter deinem Bett versteckt, um es dir anzulasten, falls es jemals gefunden würde. Und dass ich eifersüchtig wäre, weil man dich mir vor die Nase gesetzt hat. Das heißt, es gibt nicht mehr den kleinsten Beweis gegen dich. Ich hätte nie den Mut gehabt, das zu schreiben, was in deinem Tagebuch stand. Aber ich wünschte, ich hätte ihn. Es gehört echt was dazu, das zu sagen, was du da geschrieben hast. Ich hatte über all das noch nicht viel nachgedacht, aber als ich es las, wusste ich plötzlich, dass ich genau das Gleiche empfinde.»
«Sie werden dir nicht glauben», flüsterte Florence.
«Haben sie schon. Ich stehe unter Arrest und darf die Burg nicht verlassen. Ich denke, sie werden mich vors Kriegsgericht stellen. Das ist es, was gleich im Hauptsaal passiert.»
«Das werde ich nicht zulassen!»
«Ich fürchte, dafür ist es zu spät.» Er lächelte. «Hör zu, ist schon okay. Wie ich bereits sagte, es gibt keinen richtigen Beweis gegen dich oder in diesem Punkt auch gegen mich. Nicht mehr. Sie werden mir wahrscheinlich was auf die Finger geben. Oder mich 30 Tage ins Militärgefängnis stecken.»
«Und wenn die Strafe schlimmer ausfällt?», flüsterte sie.
«Wieso wartest du nicht ab, wie es heute Abend läuft. Wenn es echt hart wird, kannst du mir immer noch zu Hilfe kommen. Okay?»
«Nein», antwortete Florence. «Das klingt gar nicht okay. Ich sollte sofort etwas sagen.»
«Bitte tu das nicht», sagte er immer noch flüsternd. «Es bringt doch nichts, wenn wir uns beide in Schwierigkeiten bringen, oder? Warte erst ab, was passiert. Versprichst du mir das?»
«Ja, okay», sagte sie widerwillig.
«Gut.»
Vic drückte ihr kräftig die Hand – so kräftig, dass sie zusammenzuckte –, dann entfernte er sich langsam.
Im Hauptsaal standen mehrere hundert Leute in schwarzer Uniform, den Blick auf die Bühne gerichtet, wo Brigadeführer North, Major McKendrick und andere hochrangige Offiziere unter dem Banner des Senioren-Service warteten. Ihre Gesichter wirkten fast so finster wie ihre Uniformen, und plötzlich spürte Florence eine große Angst. Das Ganze sah nicht danach aus, als ob hier jemand bloß was ‹auf die Finger› bekäme, und sie bereitete sich bereits innerlich darauf vor, zu gestehen, dass das Tagebuch ihr gehörte. Doch genau in dem Moment trat Vic selbst auf die Bühne und stand neben North stramm. Alle schwiegen, als der Brigadeführer die Hand zu einem stummen Befehl hob. Einen Moment lang schwieg er. Dann, ohne ein weiteres Wort, zog er seine Waffe aus dem Halfter und hielt Vic die Mündung an die Schläfe. Und Vic wusste, was kommen würde, denn sobald die Waffe North’ Halfter verließ, hob Vic die Hand zu einer geballten Faust und rief:
«Nieder mit Winston! Nieder mit Winston! Nieder mit –»
Im nächsten Moment erschoss ihn North kaltblütig, und zum Glück für Florence hallte der Schuss laut genug, um ihren entsetzten Aufschrei zu übertönen. Gefolgt von einer Fontäne aus Blut sackte Vic zusammen wie eine leere Hose. Und danach sah Florence nichts mehr wegen der vielen Soldaten, die vor ihr standen. Doch sie hatte genug gesehen, um zu wissen, dass Vic tot war. Ein strenger Geruch nach Schießpulver erfüllte die Luft, während North die Pistole sicherte und wieder in den Halfter zurücksteckte.
«Ruhe!», brüllte er. Und dann: «Das ist, was in diesem Service mit Verrätern passiert. Victor Goldstein wurde mit Material erwischt, dass der Ehre des Service und der Sicherheit dieses Landes zum Nachteil gereicht. In striktem Widerspruch zu unseren Regeln führte er ein Tagebuch, sodass es nur ein mögliches Urteil für einen Jungen wie ihn geben konnte: ein formelles Kriegsgericht abzuhalten wäre bloß Zeitverschwendung für mich und für euch gewesen. Also lasst euch dies allen eine Lehre sein. Der Senioren-Service lässt keinen Widerspruch zu. Deshalb sind wir der Senioren-Service. Weil andere uns als Vorbild für ihren Patriotismus und unsere Loyalität gegenüber unseren Anführern sehen. Jeden, der unsere Anführer kritisiert oder unsere Befehle anzweifelt, erwartet der sichere Tod. Befehle müssen befolgt werden – immer! Habt ihr verstanden? Es gibt in diesem Punkt keinen Raum für Interpretation. Wir haben schwere Aufgaben zu erfüllen. Und wir erfüllen sie absolut buchstabengetreu.»
Alle gingen zurück in die Studierzimmer, um mit ihren Gedanken allein zu sein. Florence setzte sich auf ihr Bett und warf ihre Uniformjacke auf den Boden. Der arme Victor hatte für sie sein Leben gegeben. Ihr war klar, dass man sie hätte erschießen müssen, nicht ihn. Es war, als ob ihre Revolution bereits ihren Märtyrer besäße, und das deutlich schneller, als Florence je angenommen oder gehofft hatte. Sie legte sich hin und schob ihr linkes Handgelenk unters Kissen.
«Ich werde es diesen Schweinen heimzahlen, Vic, das verspreche ich dir. Vielleicht nicht heute und vielleicht auch nicht morgen, aber ich werde dafür sorgen, dass dein Name weiterlebt, ich werde dich rächen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Dich mögen sie getötet haben, aber der Revolution haben sie damit zur Geburt verholfen.»