30. Kapitel
E ric öffnete die Tür zu seiner Wohnung in der Sozialanthropologie und spähte nervös über Florence’ uniformierte Schulter, bevor er die beiden eilig hereinließ.
«Kommt schnell, kommt schnell.» Er schloss die Tür hinter sich wieder und holte nervös Luft. «Zum Glück ist euch nichts passiert.»
«Was ist los, Schatz?», fragte Florence. «Du wirkst so blass. Und du schwitzt ja. Hast du dir Sorgen gemacht?»
«Ist was mit deinen Ohren? Ich kann nicht glauben, dass du mir diese Frage stellst. Hör doch nur – die Polizei ist heute besonders aktiv. Seit Stunden heulen draußen die Sirenen. Ich mache mir Sorgen, dass sie womöglich von Haus zu Haus ziehen, um nach flüchtigen alten Leuten zu suchen. Zum Glück sind Mum und Dad in ihrem Zimmer, sodass sie von dem Ganzen nichts mitbekommen, sonst wären sie genauso verängstigt wie ich.»
«Oh», sagte Florence. «Mach dir deswegen keine Gedanken. Wenn, dann sind sie wahrscheinlich hinter mir her, nicht hinter flüchtigen Altersschwachen.»
«Florence!» Eric riss vor Entsetzen die Augen auf. «Was meinst du damit, dass sie wahrscheinlich hinter dir her sind? Was ist passiert? Dir ist doch nicht etwa jemand gefolgt, oder?»
«Entspann dich. Es hat absolut nichts damit zu tun, dass ich jetzt hier bin. Und nein, mir ist niemand gefolgt. Die Polizei ist nur in Aufruhr, weil ich entschieden habe, dass heute Abend die Revolution beginnt, das ist alles. Ach ja, Eric, das da ist übrigens meine Mutter, Rachel Newton. Mum, das hier ist Eric.»
«Hallo, Eric», sagte Mrs. Newton.
«Hallo, Rachel.» Eric sah Florence’ Mutter kaum an, dazu war er viel zu sehr durcheinander. Er fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare und öffnete und schloss den Mund wie ein Fisch. «Also, ich muss schon sagen …»
«Sind wir in Bournemouth?», fragte Mrs. Newton.
«Was um alles in der Welt soll das heißen, du hast entschieden, dass heute Abend die Revolution beginnt?» Erics Augen waren jetzt groß wie Untertassen, und seine Hände zitterten. «Ich verstehe nicht. Man kann doch nicht ganz allein eine Revolution beginnen. So funktioniert das nicht!»
«Doch, das kann man. Ich hab es getan. Heute Abend. Ich habe die Revolution begonnen. Die Chance, abends außerhalb der Burg zu sein, und das ohne funktionierendes Wristpad, war einfach zu perfekt, um sie mir entgehen zu lassen. Und nach allem, was passiert ist, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, wollte ich auch nicht länger warten. Es gab einfach keinen Grund dazu. Ich meine, wann ist die Zeit denn schon günstig für eine Revolution? Keine Ahnung. An einem Montag morgens um neun? Ja, es war alles ein bisschen Hals über Kopf, da geb ich dir recht. Nächstes Mal wird das Ganze sorgfältiger geplant. Vielleicht schaust du ja in deinen Büchern nach, ob sie einen Rat für Revolutionsanfänger haben. Dann bedenke ich gern deine Überlegungen, was wir am besten als Nächstes tun.»
«Wir? Für ‹wir› ist es ja wohl ein bisschen spät, findest du nicht?» Erics Stimme klang leicht gereizt. «Hättest du nicht das Ganze erst mal mit mir bereden können? Es ist ein großer Schritt, den du gemacht hast. So ganz allein. Ein sehr großer Schritt.»
«Nein, die Zeit, mich mit dir zu bereden, hatte ich nicht. Ich hab die Chance gesehen und sie genutzt. Außerdem hättest du bestimmt noch warten wollen, bevor wir was unternehmen. Aber die Sache hier konnte einfach nicht länger warten.»
Florence erzählte, was mit Victor Goldstein passiert war.
«O mein Gott», sagte er. «Wie abscheulich. Allmählich begreife ich, warum du den Schritt getan hast.»
«Nein, das begreifst du nicht, weil du nicht dort warst. Es war schrecklich. Victor hat sein Leben für mich gegeben, Eric. Ohne ihn wär ich jetzt tot. Oder noch schlimmer – in einem Arbeitslager. Er ist ein Märtyrer und der erste echte Held dieser Revolution. Nicht ich. Was ich heute Abend getan habe, war bloß ein bisschen Wirbel.»
Eric nickte. Etwas hatte sich in ihr verändert, das merkte er. Vorher hatte sie ein wenig zurückgenommener gewirkt, jetzt schien sie geradezu siegestrunken. Er spürte ein leichtes Gefühl von Ehrfurcht vor ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit. Und er nahm ihre Hand, öffnete sie und küsste sie zärtlich.
«Okay, erzähl mir ganz genau, was du heute Abend gemacht hast», sagte er. «Wie hat sich diese Revolution manifestiert?»
«Ach, gar nicht groß. Noch nicht. Ich habe nur Antiregierungsparolen an die Holborn-Unterführung geschmiert und ein paar Schüsse auf das OPS -Gebäude abgegeben.»
Eric ließ ihre Hand sinken, und im selben Sekundenbruchteil sackte auch sein Kinn nach unten.
«Du hast auf den Bloody Tower geschossen? Bist du wahnsinnig?»
«Eric. So fängt eine Revolution nun mal an.» Florence lachte. «Was hätte ich denn stattdessen deiner Meinung nach machen sollen? Einen Klingelstreich? Einem Polizisten den Helm vom Kopf schlagen?»
«Nein, natürlich nicht.»
«Na also. Ich wünschte nur, ich hätte noch ein bisschen mehr tun können, bevor ich meine Mutter holen und herbringen musste.»
«Ist das eine Pension?», fragte Mrs. Newton. «In Bournemouth?»
«So eine Art Pension, ja», antwortete Florence geduldig.
«Wo ist das Meer? Das wirkt hier gar nicht wie eine Pension. Und wann gibt es Frühstück?»
«Komm, Mum, ich stelle dir jetzt ein paar von den anderen Gästen vor, dann wirst du dich bestimmt gleich ein bisschen wohler fühlen», sagte Florence.
«Du gehst zurück?», fragte Eric.
«Natürlich geh ich zurück. Ich kann ja schlecht Revolutionärin sein, wenn ich mich hier verstecke. Revolutionen finden auf der Straße statt und nicht, indem man sich unter der Bettdecke verkriecht.»
«Aber das ist zu gefährlich!»
Florence zuckte mit den Schultern. «Das kann ich nicht ändern. Jedenfalls im Moment nicht. Hör zu, Eric. Ich möchte gern meine Mum hier unterbringen, wenn ich darf. Bevor ich in die Burg zurückkehre. Meine Mum ist ziemlich orientierungslos.»
«Natürlich.»
«So was habe ich ja noch nie gehört», redete Mrs. Newton weiter. «Bournemouth ohne Meer? Das kann doch nicht richtig sein.»
Florence sah Eric an und zog ein Gesicht. «Tut mir leid, Eric, aber wie du siehst, ist ihr Verstand ziemlich umnebelt. Die Verschlechterung ist viel schneller gegangen, als ich mir vorgestellt hab. Je eher sie etwas von dem Medikament bekommt, desto besser. Schon allein wegen deiner Großeltern. Sie wird die beiden in den Wahnsinn treiben. Mich treibt sie ja schon nach ein, zwei Stunden in den Wahnsinn.»
Eric führte sie in die kleine Küche und öffnete den Kühlschrank. Er nahm eine Kunststoffschachtel heraus und legte sie auf die Arbeitsplatte. Dann klappte er den Deckel auf, nahm eine kleine Kanüle und ein Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit heraus und drückte die Kanüle oben durch den Gummistopfen.
«Ich hoffe nur, dass das Zeug tatsächlich wirkt», sagte Florence. «Wird es das, Eric?»
«Nur eine Dosis alle drei Monate, mehr braucht es nicht», antwortete Eric, während er ein wenig von dem Medikament in die Spritze aufzog. «Und wie du gleich selber sehen wirst, setzt die Wirkung sofort ein und ist manchmal ziemlich dramatisch.»
«Und wie funktioniert das?»
«Graymatta 2? Der Mann, der es erfunden hat, beschreibt es als eine Art Lötkolben für das Gehirn. Das Medikament scheint wie ein Leiter auf die Neuronen zu wirken, die aufgehört haben, elektrische Signale an andere Neuronen zu senden. Alle Verbindungen funktionieren plötzlich wieder. Als ob ein ganzes Gebäude wieder vernetzt wäre. So funktioniert das Mittel. Es ist flüssiges Leben, so muss man es wohl nennen. Es bedeutet, dass niemand mehr in auseinandergefallenen Bruchstücken leben muss. Man muss nur Gedanken und Handlung neu verknüpfen, und schon endet die Isolation durch Demenz, die alte Menschen ihrer Würde und ihres sinnvollen Lebens beraubt.»
Eric hielt die Spritze hoch und drückte ganz leicht auf den Kolben, bis ein winziges Kügelchen der Flüssigkeit an der Nadelspitze erschien.
«Du erkennst sicher die extreme Sorgfalt, mit der ich das Mittel behandle. Wegen der Kosten von nahezu fünftausend Credits pro Schuss ist Graymatta 2 so eine Art flüssiges Gold.» Er nickte in die Richtung von Mrs. Newton. «Ich muss es ihr in den Hals spritzen», erklärte er. «Ganz unten, da wo die Vene in die Schulter führt. Das heißt, es ist vielleicht besser, sie sitzt, wenn ich das hier mache. Der Vorgang ist nicht ohne Risiko.»
Minuten später drückte Florence mit einem kleinen Stück Watte auf die Stelle, wo Eric das Mittel in den Hals ihrer Mutter injiziert hatte.
«Halt es noch ein paar Minuten dort», sagte Eric. «In der Zwischenzeit suche ich ein Stück Kunststoffhaut.»
Florence tat, was er sagte, und wartete, bis Eric die synthetische Haut aus der Verpackung gepult und vorsichtig auf den Hals von Mrs. Newton geklebt hatte. Mrs. Newton war plötzlich ganz still geworden, und nach einer Weile schloss sie die Augen. Dann flüsterte sie etwas. Florence beugte sich näher an sie heran, um zu hören, was sie sagte, konnte aber nichts verstehen.
«Ist mit ihr alles in Ordnung?», fragte sie ängstlich.
«Das ist normal», antwortete Eric. «Manchmal gibt es sogar eine Art Erleuchtung. Als ob etwas Heiliges geschehen würde. Man könnte es auch als eine Art Wunder beschreiben.»
«Wie der Weihnachtsmann», sagte Florence.
Eric nickte lächelnd. «Genau, wie der Weihnachtsmann.»
«Wie oft hast du das schon gemacht?»
«Zehnmal vielleicht. Keine Ahnung. Die Wirkung hält etwa zwei bis drei Monate an, abhängig vom neurologischen Zustand. Mein Vater scheint deutlich weniger von dem Mittel zu brauchen als meine Mutter, was merkwürdig ist, immerhin ist er ja deutlich älter als sie.»
Mrs. Newton öffnete schließlich die Augen und holte tief Luft.
«Oh», sagte sie und atmete laut wieder aus. «Die Farben. Diese Farben!»
«Tritt jetzt besser ein bisschen zurück», erklärte er Florence. «Manchmal ist die endgültige Wirkung ziemlich dramatisch.»
Kurz darauf stand Mrs. Newton auf und schaute sich in ihrem Wunder um, als ob sie sich an einer spirituellen Offenbarung erfreute. So jedenfalls kam es Florence vor.
«Ich kann fast die Atome erkennen», sagte ihre Mutter. «Es ist wunderbar. Das Leben ist so … so schön!»
«Es gibt jedes Mal so ein Gefühl von Euphorie nach der Spritze», sagte Eric. «Mein Dad sagt immer, es sei, als wenn jemand die Tore der Wahrnehmung aufgerissen hätte. Plötzlich siehst du Dinge zum allerersten Mal. Er sagt, selbst die Wohnung hier wirkt dann wie der farbenprächtigste und magischste Ort der Welt.»
«Wie fühlst du dich?», fragte Florence ihre Mutter.
«Ich fühle mich wunderbar. Absolut wunderbar, mein Schatz. Wo sind wir? Was mache ich hier?» Sie lächelte warmherzig. «Ich bin so froh, dass du da bist, Florence. Es muss Jahre her sein, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben. Ich hatte völlig vergessen, wie schön du bist. So blaue Augen, so goldenes Haar. Aber bitte erklär mir, was ist mit mir passiert? Und sag mir, wo ist dein Dad? Wo sind die Jungs? Wie um alles in der Welt bin ich hier gelandet? Meine Erinnerung ist ganz verschwommen.»
«Wieso gibt man das Mittel nicht allen, die alt sind, Eric?», flüsterte Florence.
«Es ist sehr teuer», antwortete Eric. «Deshalb. Aber selbst wenn es nicht so teuer wäre – es muss dir klar sein, dass in dem System der Regierung Menschen einfach nicht wichtig sind. Nicht mehr. Die Regierung interessiert sich nicht für das Wohl der anderen, für ein langes Leben oder das größte Glück der größtmöglichen Zahl an Menschen. Unterdrückung und Tyrannei sind die Mittel, die sie einsetzen, und freiwillige Euthanasie ist nur eines ihrer Werkzeuge der Unterdrückung. Die Regierung ist bloß an Macht interessiert und an nichts anderem, denn Macht ist das Einzige, was ihr Bedeutung gibt. Und der einzige Weg, absolute Macht über deine Bürger zu haben, besteht darin, ihre Vernichtung zu organisieren, wenn sie nicht mehr nützlich sind. Macht über Leben und Tod, das ist wahre Macht.»
«Tod?» Mrs. Newton schüttelte den Kopf. «Lasst uns nicht über solche Dinge reden. Nicht heute. Nicht jetzt. Du bist Eric?»
Eric nickte.
«Ehrlich, Eric», sagte Mrs. Newton, «Ich weiß nicht, was du mit mir gemacht hast, aber ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt wie in diesem Moment.»
«Das freut mich, Mrs. Newton.»
«Danke, Eric. Tausend Dank. Und nenn mich doch bitte Rachel.»
«Ja, danke, Eric», sagte jetzt auch Florence. «Danke dafür, dass du mir meine Mutter zurückgegeben hast.» Sie wischte sich die Tränen aus ihren blauen Augen und griff nach der Hand ihrer Mutter. «Alles wird gut, Mum. Weißt du, ich habe mich geirrt. Und mach dir keine Sorgen wegen Dad und den Jungs. Es geht ihnen gut. Von jetzt an werden sie für sich selbst sorgen. Du bist hier in Sicherheit. Das hier ist dein neues Zuhause. Wenigstens bis wir einen Weg gefunden haben, euch alle in die Schweiz und in die Sicherheitszone zu bringen. An einen Ort, wo du den Rest deines Lebens bequem und friedlich verbringen kannst und in seliger Unwissenheit, was den Tag betrifft, an dem du, wie jeder Mensch, sterben wirst. Komm, Mum, ich stelle dich jetzt Mary und Thomas vor. Sie sind schon eine Weile hier. Man könnte sagen, sie sind fast so etwas wie Dauergäste. Kann sie zu Mary und Thomas?»
«Natürlich», antwortete Eric und führte Florence und Rachel in das hintere Zimmer.
Doch in Gedanken lief Florence bereits mit einer Waffe in der Hand durch die Burg in Richtung des Büros von Brigadeführer North, um Victor Goldstein, Tony Burgess und noch eine Menge andere zu rächen, die sie unmöglich alle aufzählen konnte, so viele waren es. Erst jetzt begriff sie, wie tiefgreifend die Veränderung war, die seit ihrem ersten Tag in der Burg in ihr geschehen war. Doch die größte Veränderung hatte an diesem Abend stattgefunden, als sie ihrer Mutter helfen konnte. Eine große Last war ihr von den Schultern gefallen, und sie hatte ihr Gefühl für moralische Werte zurückgewonnen.
Sie führte ihre Mutter in das Zimmer mit dem omnipräsenten Bild von Winston an der Wand. Als sie in die Augen des riesigen Gesichts blickte, stand sie einen Moment stumm da und sagte sich, dass alles gut würde.
Der große Kampf gegen die Tyrannei hatte begonnen. Sie hatte über sich selbst gesiegt. Jetzt musste sie nur noch Winston besiegen.