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Die Zaubertinte

Pimpinella Seestern war eine ganz besondere Schülerin des Muschelinternats. Wer sonst konnte schon von sich behaupten, eine Meerjungfrau als Mutter und einen Seemann, der auf einem Schiff über ferne Ozeane segelte, als Vater zu haben? Trotzdem ging sie natürlich wie alle anderen Meermädchen zur Schule und lernte dabei viel Neues.

Dabei gab es allerdings ein Problem: Normale Tinte und Papier, wie man es an Land verwendete, lösten sich unter Wasser sofort auf. Kugelschreiber oder Buntstifte, sogar dicke Malblöcke und stabile Hefte, die Nella oben ganz selbstverständlich zum Schreiben und Zeichnen in der Schule benutzt hatte, waren daher als Schreibwerkzeuge im Muschelinternat unbrauchbar.

Die Meermädchen schrieben aus diesem Grund kaum etwas auf, sondern mussten sich alles mühselig merken oder auswendig lernen. Selten notierten sie ein paar Sätze auf Meersalat, denn der wurde in Windeseile weich und vergammelte. Eine andere Schreibmethode war, wichtige Sachen in die Oberfläche von Steinen oder Muscheln einzuritzen. Das wiederum war leider ziemlich mühsam!

Um mit ihrem besten Freund Max in Kontakt zu bleiben, war diese Methode jedenfalls völlig unbrauchbar. Nella hätte ewig gebraucht, um alles, was sie Max erzählen wollte, in Muscheln einzuritzen.

Nur gut, dass Nella einen besonderen Draht zu Doktor Achilles, dem Schularzt, hatte. Nach dem Unterricht machte sie gerne einen Abstecher in seine Kräuterküche. Der Doktorfisch hatte Nella ganz nebenbei ein wenig unter seine Flossen genommen, weil er spürte, dass sie öfter Heimweh nach ihren Großeltern und dem Fischerdorf hatte, als sie es zugab. Er selbst kam ja auch von ganz weit her: aus Hawaii.

Doktor Achilles braute tagein, tagaus Stärkungstränke und Salben für die zarten Meermädchen zusammen.

Vor ein paar Tagen hatte er etwas erfunden, was Nellas Schreibproblem auf einen Schlag löste. Nella hatte ihm geholfen, aus den Tentakeln von Tintenfischen dunkellila Farbe zu gewinnen. Die Farbe hatte Doktor Achilles daraufhin mit einem schwarzen Pulver und zerriebenen Haifischschuppen vermengt und sie bis zum Siedepunkt aufgekocht. Das hatte total scheußlich gestunken und Nella hatte sich voller Ekel die Nase zugehalten.

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Zu ihrer großen Überraschung hatte der Doktorfisch die widerliche Mischung wie Tinte verwendet, wobei er als Schreibfeder die scharfe Seitenflosse eines Fächerfisches benutzt hatte. Als Papier hatte ihm ein Stück gepresste Wasserschlangenhaut gedient.

„Na, was hältst du davon?“, hatte er begeistert ausgerufen, als die frische Tinte kein bisschen auf der Schlangenhaut verlaufen war. „Ich glaube, ich bin ein Genie!“

Er hatte Nella anvertraut, dass er vorhatte, ein Buch über Salben und Kräutersäfte zu schreiben. Dafür brauchte er aber unbedingt ordentliches Schreibmaterial. Deshalb hatte er kurzerhand diese ganz besondere Tinte erfunden, mit der man auch unter Wasser mühelos schreiben konnte.

„Ein Kinderspiel für mich.“ Er hatte stolz gelächelt. „Seltsam, dass ich nicht schon früher darauf gekommen bin.“

Dann hatte er Nella eine bis zum Rand gefüllte Fischblase mit seiner neuen Erfindung und eine dicke Rolle feiner Wasserschlangenhaut geschenkt, die ziemlich wertvoll war.

Nella hätte vor Freude hundert Purzelbäume schlagen können, denn nun konnte sie Max so viele Briefe schreiben, wie sie wollte. Leider erlaubte ihr die strenge Schulleiterin Frau Pataria nämlich viel zu selten, einen Ausflug an Land zu machen, um ihn zu besuchen, und sie vermisste ihn schrecklich.

Mindestens so problematisch wie das Schreiben unter Wasser war allerdings zunächst die Zustellung der Briefe gewesen: Wer konnte ihre Post zwischen dem Muschelschloss und dem Fischerdorf hin- und hertransportieren?

Im Internat sahen es nämlich besonders die Quallenagenten, die für die Sicherheit der Meerjungfrauen verantwortlich waren, gar nicht gerne, wenn Schülerinnen Nachrichten zwischen oben und unten austauschten. Die Agenten hatten große Angst vor Spionen. Leider war ihre Sorge berechtigt. Denn der mächtige Graue König, der mit seiner Armee in einer verborgenen Untiefe hauste, hasste alle Meerjungfrauen. Das gefährliche Wasserwesen ließ keine Gelegenheit aus, um ihnen zu schaden.

Deshalb hatte Nella Herrn Kubus um Hilfe gebeten. Er war ein Kofferfisch und schon viele Jahre als Postfisch unterwegs. Durch seine Arbeit als Briefträger war er bekannt wie ein fliegender Fisch. Außerdem hatte er eine sehr große und aktive Verwandtschaft. So hatten sich sofort ein paar reiselustige Fische gefunden, die sich bereit erklärten, die Briefe von Nella und Max durch die geheimnisvolle Felsspalte, die das Land oben mit der Wasserwelt unten verband, zu befördern.

Postfisch Kubus und seine Verwandten spuckten Nellas Briefe an den Klippen aus. Die Wellen spülten sie bis auf den feuchten Sand, sodass Max, der bei Flut gewissenhaft den Strand ablief, sie einsammeln konnte wie Muscheln.

Max selbst schrieb seine Antworten auf besonders dickes Packpapier, das sich nicht so schnell auflöste, und benutzte einen wasserfesten Filzstift. Zusätzlich steckte er seine Blätter in durchsichtige Folie und klebte deren Ränder sorgfältig zu.

Damit seine Briefe Nella möglichst schnell erreichten, hatte sich Max etwas Besonderes einfallen lassen. Weil er im Augenblick Ferien hatte, fuhr er mit seinem Vater, der Fischer war, häufig gemeinsam hinaus auf das Meer. An einer tiefen Stelle, kurz vor dem Leuchtturm, in dem Nellas Opa als Leuchtturmwärter arbeitete, warf er seine Botschaften ins Wasser. Dabei musste er nur aufpassen, dass der Brief nicht versehentlich in das ausgelegte Fischernetz geriet. Oft konnte er sogar beobachten, wie ein flinker Fisch den Brief schnappte und damit untertauchte.

So war Nella immer bestens informiert, was an Land vorging, und Max wusste, welche spannenden Abenteuer Nella unter Wasser erlebte.