Kapitel 5
Amelia
I ch fühlte, wie das Fahrzeug anhielt, hörte, wie sich Autotüren öffneten und schlossen. Dann herrschte Stille bis auf mein hektisches Atmen. Er hatte mir die Augen verbunden. Das musste doch ein gutes Zeichen sein, oder? Das musste bedeuten, dass er mich nicht töten würde. Wenn er mich buchstäblich im Dunkeln ließ, so dass ich nichts erkennen konnte, war das doch positiv, oder?
Möglicherweise erhoffte ich mir einfach zu viel. Vielleicht betete ich darum, dass ich nicht in einem unmarkierten Grab mitten im Nirgendwo begraben würde.
Obwohl er mir den Stoff über die Augen gelegt hatte, erinnerte ich mich daran, wie er ohne die Maske aussah. Sein Bild würde sich für immer in meinem Gedächtnis einprägen.
Seine Züge waren männlich, sein Kiefer kantig, seine Lippen voll. Seine Nase war gerade, aber nicht grob. Die dunklen Schrägstriche seiner Augenbrauen betonten seine hellblauen Augen. Gott, er war genauso schön, wie er gefährlich war.
Das Geräusch der sich öffnenden Hintertür des Autos riss mich aus meinen Gedanken, und mein ganzer Körper wurde stocksteif. Mir wurde schwindelig, weil ich so schwer und schnell atmete. Ich hatte Angst, war nervös und fühlte mich, als würde ich ganz sicher ohnmächtig werden, wenn ich aufstehen würde.
„Atme“, hörte ich ihn mit seiner zutiefst männlichen Stimme nahe bei mir sagen und mich auf einmal duzen. Aus irgendeinem Grund beruhigte mich das.
Ich erwartete, dass er grob sein würde, während er mich aus dem Wagen zog, aber seine Hände waren sanft zu mir, fast schon beruhigend.
Das gefiel mir nicht, und ich mochte es überhaupt nicht, wie mein Körper auf ihn reagierte.
Ich stolperte herum, obwohl er mich festhielt, und das Geräusch meines Atems füllte meine Ohren. Ich fürchtete fast, ich wäre ohnmächtig geworden, aber er hielt mich dicht an seinem großen Körper, die Härte seiner Brust und Arme ließ mich extrem klein und verletzlich fühlen, sehr weiblich.
Ich hörte, wie sich mehrere Türen öffneten, und obwohl ich nichts vor mir sehen konnte, gab es, wenn ich nach unten blickte, unter der Augenbinde eine kleine Öffnung, einen winzigen Bereich, der nicht verdeckt war. Ich konnte einen Hartholzboden sehen, auf dem meine Schritte weich klangen, als ich nach vorne gezogen wurde. Weitere Türen öffneten und schlossen sich, und dann hielten wir für einen Moment lang an. Ich hörte sie sprechen, dieses tiefe Murmeln, das viel zu leise war, als dass ich verstehen konnte, was gesagt wurde, und immer noch hielt er seinen Arm auf mir, hielt mich fest.
Worüber auch immer sie sprachen, es wurde hitzig, ihr Gemurmel wurde schneller und schärfer. Und dann öffnete sich eine weitere Tür, und das Gespräch verklang.
„Wir gehen jetzt eine Treppe hinunter. Ich werde nicht zulassen, dass du fällst.“
Ich hatte keine Ahnung, warum ich auch nur einem seiner Worte glaubte, aber als er das sagte, wusste ich, dass es die Wahrheit war. Er würde mich nicht stürzen lassen.
Ich streckte instinktiv die Hand aus und landete an einer glatten Trockenmauer, während wir hinabgingen. Ich merkte, dass die Treppe mit Teppichboden ausgelegt war, weich und fast plüschig unter meinen Schuhen. Es roch sauber, nach einer Mischung aus Zitrone und Baumwolle.
Die Tür, aus der wir gerade gekommen waren, schloss sich über uns und klang so weit weg, als wäre ich in die Hölle hinabgestiegen.
Vielleicht war ich das.
„Noch eine Tür, dann sind wir allein“, sagte er heiser, und dann stand ich allein da, sein Körper entfernte sich von meinem, wobei die Kälte in der Luft nichts mit der tatsächlichen Temperatur zu tun hatte, sondern weil er nicht mehr in meiner Nähe war.
Ich schlang meine Arme um die Taille, vermutlich, um mich kleiner, unauffälliger erscheinen zu lassen. Mein Herz raste und meine Handflächen waren schweißnass – ich hatte schreckliche Angst. Ich atmete immer noch hektisch und stand kurz vorm Hyperventilieren. Keine Ahnung, was er mit mir vorhatte, aber ich sagte mir immer wieder, dass er mich nicht umbringen würde, dass er sich nicht all die Mühe machen würde, wenn er vorhätte, mein Leben auszulöschen.
„Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Aber ich besitze gar nichts. Ich habe kein Geld und niemanden, den es interessiert, dass ich weg bin. Keiner wird Ihnen Lösegeld für mich zahlen.“ Ich plapperte verängstigt vor mich her, flehte, in der Hoffnung, er würde mit mir mitfühlen, sich in mich einfühlen.
Er antwortete nicht, aber ich konnte hören, wie er sich bewegte. Er war nicht sehr weit entfernt. Seine Gegenwart war wie ein schweres Gewicht, das mich umgab.
Meine Hände begannen zu zittern, aber ich ballte sie fest zu Fäusten. „Was wollen Sie? Was haben Sie mit mir vor? Was wollen Sie mir antun?“ Ich drehte den Kopf, als ich ihn zu meiner Linken hörte, dann tat ich dasselbe, als er sich zu meiner Rechten bewegte. „Haben Sie vor, mich zu töten?“ Gott, meine Stimme war genauso zittrig wie meine Hände.
„Nein. Ich werde dir nicht wehtun“, sagte er schließlich, und ich atmete erleichtert aus, obwohl ich nicht wusste, warum ich ihm ein Wort glaubte.
„Ich bin ein Niemand. Ich habe nichts zu bieten, nichts, was Sie sich wünschen könnten.“ Bevor ich wusste, was geschah, wurde mir die Augenbinde abgenommen, seine Finger streiften an meiner Wange entlang und schickten Schauder über meinen Körper.
Ich blinzelte. Meine Sicht begann sich zu klären und wurde schärfer. Das Licht war grell, aber dann wurde es weicher, ähnlich dem am Abend.
Ich verkniff mir ein Keuchen, als ich ihn direkt vor mir stehen sah. Er bewegte sich nicht, atmete scheinbar nicht einmal, während er mich ansah. Ich musste mir halb den Nacken verrenken, um in sein Gesicht schauen zu können. Er verdeckte alles hinter sich, so dass ich mich noch kleiner fühlte, da ich in seiner Gegenwart war.
„Wie heißt du?“
Die Art und Weise, wie er es formulierte, ließ mich erkennen, dass es keine Frage, sondern eher eine Forderung war. Ich überlegte zu lügen, ihn vielleicht zu ignorieren. Aber am Ende war ich ehrlich. „Amelia.“ Hatte er mich gehört? Ich hatte es geflüstert und war mir nicht einmal sicher, ob ich es wirklich laut ausgesprochen hatte.
„Amelia.“
Gott, wie das auf seinen Lippen klang …
„Ich bin Dom.“
Dom. D. Blauauge.
Ich habe seinen Namen nicht laut ausgesprochen, wollte ihm die Genugtuung nicht geben, wollte mir die Genugtuung nicht geben.
„Was wollen Sie?“, fragte ich noch einmal, aber ich hatte Angst davor, wie er antworten würde.
„Du weißt, was ich will“, sagte er, als ob ich wirklich wüsste, was er wollte.
„N-nein, ich habe keine Ahnung, warum ich hier bin und was Sie von mir wollen.“ Ich strich meinen Rock glatt. Kalter Schweiß bedeckte meinen ganzen Körper.
Er bewegte sich nicht, sprach nicht. Dann trat er einen Schritt zurück, als ob er wüsste, dass ich den Platz und mehr Luft brauchte.
Und das stimmte.
Ich holte tief Luft und versuchte, mich zu beruhigen.
„Ich will nur eines. Darum habe ich dich hierher gebracht, deshalb habe ich alles riskiert.“ Ich sah schockiert zu, wie er sich die Augenbinde vor die Nase hielt und einatmete, während er seine Aufmerksamkeit weiter auf mich gerichtet hielt.
„W-was?“ Obwohl ich dadurch, wie er mich ansah, wusste, was er sagen wollte.
„Dich. Ich will dich, Amelia.“