Es war schon ein Ereignis, als sich eine religiöse Bewegung ab Mitte des ersten Jahrtausends n. Chr., von Nordindien ausgehend, über ganz Asien ausbreitete und nicht wie bisher asketisch die Welt überwinden, sondern einen Weg »mit der Welt« aufzeigen wollte. Bisher waren alle spirituellen Wege darauf hinausgelaufen, »sich aus der Welt« hinauszubegeben. Die traditionellen Texte wurden zwar weiterhin benutzt, aber durch weitere Schriften, sogenannte Tantras, ergänzt. Tantras oder Tantra bedeutet »Webstuhl« oder »das, was sich hindurchzieht«. Bekannt und bedeutend wurden das Kula-Arnava-Tantra und das Maha-Nirvana-Tantra, die vor allem mit Bildern und Symbolen arbeiten wie dem Tantra Mandala, dem Shrī-Yantra.4 Ein Yantra, wörtlich »Stütze, Instrument«, ist ein mystisches Diagramm, das als Symbol des Göttlichen verwendet wird. Shrī-Yantra bedeutet »Yantra des Erhabenen«. Dieses wichtigste Yantra des hinduistischen Tantra besteht im Wesentlichen aus neun einander überlagernden Dreiecken, die um einen Punkt (Bindu) konzentriert sind. Die fünf mit der Spitze nach unten gerichteten Dreiecke stellen Shakti dar, die vier nach oben gerichteten Dreiecke Shiva.
Mookerjee und Khanna schreiben über dieses Yantra: »Das Shrī-Yantra ist ein Symbol für die der Shakti eigene Gestalt (svarūpa), ihre Mächte und Emanationen, und damit ein Symbol für das stufenweise Herabschreiten der Shakti in das Sichtbare, d. h., es zeigt die Gestalt des Universums (vishvarūpa). Es ist eine bildliche Illustration des kosmischen Feldes der Schöpfung. Wie die Schöpfung selbst, so trat auch das Shrī-Yantra durch die Kraft des uranfänglichen Verlangens ins Sein. Der Impuls des Verlangens (kāmakalā), hervorgebracht durch Prakriti, erzeugt eine Bewegung (spanda), die sich in der Schwingung des Klanges (nāda) äußert. Diese Manifestation wird durch einen Punkt oder Bindu dargestellt … Dieser ist der Kern der verdichteten Energie, der Keim des Urklanges und der dynamische sowie der statische Aspekt der Zwei (Shiva/Shakti) in einem. Er beinhaltet alle Möglichkeiten des Werdens … Der Punkt nimmt einen Radius an, die Polarisation von Shiva und Shakti vollzieht sich, die dynamischen und statischen Energien treten in Wechselbeziehung, und es ergeben sich zwei weitere Punkte, wodurch eine Triade von Punkten gebildet wird – das uranfängliche Dreieck oder Mula-Trikona.«5
Der im Zitat erwähnte Bindu, wörtlich »Punkt«, steht als Symbol für das nicht-manifestierte Universum. In dem Prozess, der im Shrī-Yantra dargestellt ist, fließt aus diesem einen Punkt die Schöpfung und führt über mehrere Stufen bis zur Schaffung der irdischen Welt. Übt ein Meditierender mit dem Symbol des Shrī-Yantra, wird in der geleiteten Meditation dieser Prozess von der materiellen Ebene ausgehend zurückverfolgt, »bis der Meditierende im Bindu seinen gestaltlosen Ursprung, das ›ganz aus Seligkeit Bestehende‹ (sarva-ānandamaya) erfährt und mit diesem eins wird.«6
Im Tantrismus wird in vielfältiger Weise mit geometrischen Symbolen, wie Mandalas und Yantras, gearbeitet, um die Beziehung von Mikrokosmos und Makrokosmos darzustellen. Einige Symbole dienen auch der Verschlüsselung von Texten, die nur Eingeweihten zugänglich sein sollen.
Neben diesen geometrischen Symbolen sind auch Mantras und Mudrās wichtige Bestandteile des Tantra. Mantras, wörtlich »Werkzeuge des Denkens«, sind heilige Silben bzw. mit spiritueller Kraft geladene Wörter, die ausgesprochen, gesungen oder in Gedanken rezitiert werden. Zu den bekanntesten Mantras zählt das Gāyatrī-Mantra. Bei der Anwendung eines Mantras kommt es weniger auf den konkreten Inhalt als vielmehr auf eine wiederholende Rezitation an, die spirituell reinigende Wirkung hat. Wie im Gebet soll in der tantrischen Praxis die Rezitation auch Einfluss auf die verehrten und durch die mit dem Mantra angesprochenen Gottheiten ausüben.
Das Gāyatrī-Mantra aus dem Rigveda (3.62.10) wird von zahlreichen Hindus seit der vedischen Zeit morgens zum Gebet und in der Meditation rezitiert.7
Es lautet:
Tat savitur varenyam bhargo devasya dhimahi dhiyo yo nah pracodayat.
»Lasst uns dieses wünschenswerte Licht des Gottes Savitri (des Sonnengottes) empfangen, auf dass er unsere Inspiration anregen möge.«
Wie bereits erwähnt sind Mudrās ein weiteres tantrisches Element. Wörtlich bedeutet Mudrā »Siegel, Geste«. Einerseits handelt es sich dabei um Handgesten und andererseits um Körperhaltungen, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, wie bei einem Siegel.
Als man sich über die Interpretation von tantrischen Schriften und Praktiken nicht einig werden konnte, entwickelten sich mit der Zeit zwei verschiedene Richtungen des Tantrismus:
– der Weg der rechten Hand und
– der Weg der linken Hand.
In allen Schriften findet sich die Erklärung, dass der Weg der sogenannten rechten Hand die Hauptlinie darstellt und damit die zentrale Rolle spielt. Dabei geht es um rechte Erkenntnis und Urteilskraft, und es steht die Verehrung der Gottheit in ihrem weiblichen Aspekt im Vordergrund, vor allem in der völligen Hingabe an die göttliche Mutter in ihren mannigfachen Formen.
Die Beschreibungen der Vereinigung von Mann und Frau werden von der »rechten Hand« nur symbolisch interpretiert, während im Tantrismus der linken Hand von einer konkreten, im Ritus zu vollziehenden sexuellen Übungspraxis ausgegangen wird. Zu den fünf Praktiken des linkshändigen Tantra gehören neben dem ritualisierten Geschlechtsakt auch das Essen von Fleisch, Fisch und Getreide sowie das Trinken von Wein.
Diese Praxis gilt nicht für den Weg der rechten Hand. Hier stehen religiöse Rituale im Mittelpunkt, welche sich in einem neuen Weltbild zeigen und auf zwei Säulen stehen:
– der Einbeziehung von weiblichen Gottheiten in die religiöse Verehrung und
– der Gleichstellung von Mikrokosmos Mensch und Makrokosmos Welt.
Die Verehrung von weiblichen Gottheiten nahm schnell zu und stand im Gegensatz zum patriarchalischen Denken der indogermanischen Einwanderer. So werden die zahlreichen weiblichen Gottheiten auch heute noch als Ausdruck einer alten, von den Brahmanen nie ganz verdrängten matriarchalen Religion Indiens angesehen. Denn schon für die Induskultur im dritten Jahrtausend vor Christus wurde die Verehrung von Muttergottheiten nachgewiesen.
Im Hinduismus spielt nun die Symbolik von Shiva und Shakti eine wichtige Rolle. Ehe der tiefere, spirituelle Aspekt erläutert wird, soll hier zunächst eine Anekdote über den großen Mystiker Shankara zur tantrischen Sichtweise hinführen: »Nachdem Shakara in Benares am Ganges ein rituelles Bad genommen hatte, traf er auf eine wehklagende Frau, die auf dem Boden saß und die Leiche ihres Ehemannes auf den Knien liegen hatte. Shakara sagte dieser Frau, sie solle die unreine Leiche von ihm wegschaffen. Da fragte die Frau, ob denn solch ein großer ācārya wie er der Leiche nicht befehlen könne, den Platz zu verlassen. ›Wie soll ich dies können, es ist doch keine Energie (Ÿakti) in ihr.‹ Als er diese Worte gesprochen hatte, zeigte sich die Frau in ihrer wahren Gestalt, als die Große Göttin Śakti selbst. So soll der große ācārya erkannt haben, dass das weibliche dynamische Prinzip der śakti, das in der Philosophie des ādvaita-Vedānta fehlt, die Grundlage für alle Bewegung ist.«8 Diese Anekdote verdeutlicht, dass im Tantrismus der weibliche Aspekt den aktiven Pol darstellt und der männliche Aspekt den passiven Pol bildet, die transzendente Weisheit.
Zum Verhältnis von Shiva und Shakti vermerkt Oscar Marcel Hinze in seinem Buch Tantra Vidya – Die Wissenschaft des Tantra Folgendes: »Nun ist aber wie ausgeführt die Shakti in der Tiefe ihres Wesens identisch mit Shiva, und das wirkt sich so aus, dass in allem Erschaffenen, auch in der gröbsten Materie, ein Trieb zum Licht, zum göttlichen Sein verborgen ist. Früher oder später macht sich dieser Trieb in irgendeiner Form bemerkbar, und dann ist es wieder die Shakti, die als Begleiterin und Führerin zum höchsten Licht, zum göttlichen Wissen in Erscheinung tritt. Dieser Aspekt der Shakti wird als ›Vidya-Shakti‹ oder auch ›Cit-Shakti‹ bezeichnet (cit = Bewusstsein).
So vermag also die Vidya-Shakti alle Wesen wieder in den göttlichen Bereich zurückzuführen. Auf dieser Lehre beruht in Indien die Shakti-Verehrung, insbesondere aber auch der tantrische Yoga. Da der menschliche Körper den gesamten außermenschlichen Bereich wiedergibt – nicht als eine ersonnene Analogievorstellung, sondern als eine reale mikrokosmische Verwirklichung der makrokosmischen Vorgänge –, ist dieser Körper auch das Betätigungsfeld für die Erlösungsbestrebungen des Yogin.«9
Hinze beschreibt hier die tantrische Vorstellung, wie der göttliche Verzicht auf ein vollentfaltetes Sein in Stufen vor sich gegangen ist, denn jede Stufe habe für die Vidyā-Shakti ein weiteres Sich-Einschränken bedeutet. Bildlich wird dies dargestellt durch eine Spirallinie, deren Kreisradien von oben nach unten abnehmen. Dies drückt sich symbolisch in jedem Chakra, wörtlich »Rad«, dadurch aus, dass jeweils die Anzahl der Speichen des Rades abnimmt.
»Auf jeder Stufe nimmt die sich einschränkende Shakti eine neue, der speziellen Natur dieser Stufe entsprechende Gestalt an. Wenn gesagt wird, dass jede Stufe eine sie regierende Göttin hat (gegebenenfalls auch als »Herrscherin« oder als »Torhüterin« dieser Stufe bezeichnet), so bezieht sich dies auf die besondere Shakti-Manifestation dieser Stufe. Obwohl die Shakti mit ihrer Selbstbegrenzung fortfährt, bleibt auf der von ihr verlassenen Stufe eine Prägung der dieser Stufe entsprechenden Shakti-Gestalt als wirkende Kraft zurück … Hier offenbart sich der immer gleichbleibende Shiva, das Bewusstseinskorrelat jeder Stufe. Obwohl das Prinzip der Einheit und Unteilbarkeit des Shiva gegenüber dem der Vielheit und Differenzierbarkeit der Shakti grundsätzlich betont wird, entsteht doch mit jeder Shakti-Gestalt eine andere Perspektive, unter der Shiva erfahren werden kann.«10
Erstaunt nehme ich stets von Neuem wahr, wie viele unterschiedliche Versionen und Auslegungen des Tantra es gibt, seien es die Ausführungen des hinduistischen oder des buddhistischen Tantra. Selbst in der wörtlichen Übersetzung lässt sich keine einheitliche Erklärung finden. Mircea Eliades Definition hat mir gefallen. Er erklärt, dass uns von den vielen Bedeutungen des Wortes »Tantra«, dessen Wurzel tan »ausbreiten, fortsetzen, vermehren« bedeutet, vor allem eine interessieren solle, nämlich die der »Abfolge«, »Abwicklung« des »andauernden Prozesses« oder dessen, »was die Erkenntnis ausdehnt«.11
Eventuell könnte der tantrische Yogi auch als eine Art archetypischer Alchimist bezeichnet werden, der das niedere und »unreine« Metall eines verwirrten Geistes umwandelt in das Gold des reinen Gewahrseins. Heilung erfolgt hier nach dem Prinzip der Homöopathie: »Gleiches heilt Gleiches«. Unersättliches Verlangen wird durch die reine Lust selbst überwunden oder transformiert. Das, was üblicherweise als Hindernis angesehen wird, lässt sich auf dem spirituellen Weg nutzen, indem wir uns damit verbünden. Oder wie Willigis Jäger sagt: »Tanz und Tänzer sind eins.« Der Benediktiner und Zen-Meister west-östlicher Weisheitslehre drückt mit diesen Worten gleichzeitig die folgende Ansicht aus: »Ein spiritueller Weg, der nicht in den Alltag führt, ist ein Irrweg.« Und so kann eine sogenannte Erleuchtungserfahrung in unserer Übungspraxis – gemäß der Philosophie des Tantra – Ausdruck unseres Lebens sein.
Für die Tantriker und großen Yogis gibt es keinen Gegensatz von Körper und Geist oder eine Dualität von Materie und Geist. Da gibt es keinen abgetrennten, für sich stehenden Geist, wie wir hier im Westen im Allgemeinen meist glauben. Die tantrische Metaphysik lässt sogar übersinnliche Phänomene glaubhaft erscheinen und nimmt nichtmenschliche Wesenheiten als Teil der einen Wirklichkeit an. Auch im westlichen Denken scheint dieses Verständnis zuweilen auf, wenn es zum Beispiel heißt: »Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist.«
Heute erfreut sich der Tantrismus großer Beliebtheit nicht nur in philosophischen und religiösen Yoga-Kreisen, sondern vor allem bei Hatha-Yoga-Übenden, denn die Aussage »Der Körper ist Tempel und Ausdruck des Geistes« spiegelt eine echte Seins-Erfahrung. Überhaupt wäre ein Hatha-Yoga ohne die Wurzeln des Tantrismus nicht denkbar, der aus uralten Göttinnen-Mythen der indischen Geschichte schöpfte und jede Frau zu einer Inkarnation der göttlichen Shakti erhob. Und so spielt der »lebendige Ritus« eine entscheidende Rolle in jeder tantrischen Übungsweise, mit der Intention, dass Eros und Herz als Weg zur Transzendenz dienen können.
Männlich und weiblich – kein Unterschied.
Und strebt eine Frau nach direkter Erkenntnis
der grundlegenden Wesensnatur ihres Geistes,
dann eilt sie dem Mann sogar voraus.
Padmasambhava