3.
Eigenschaften der bedeutendsten
Göttinnen

Die Vielschichtigkeit der Shakti mit ihren unterschiedlichen Namen, Aspekten und Aufgaben ist wohl durch die bisherigen Ausführungen schon deutlich geworden. Und bevor weitere Eigenschaften bedeutender hinduistischer Göttinnen anklingen, möchte ich hier einen allgemeinen historischen Überblick darüber geben, wie viel Interesse zu allen Zeiten an der indischen Philosophie und Religion bestanden hat.

Es heißt, dass die indische Philosophie schon den alten Griechen bekannt war und dass u. a. die Philosophen Pythagoras, Demokrit und Aristoteles Indien bereist und von den Indern gelernt hätten. Und auch Platon soll die Absicht gehabt haben, nach Indien zu reisen. Zwar ist nicht mit Sicherheit belegt, ob diese Reisen tatsächlich stattgefunden haben, aber in jedem Falle muss ein gewisser Austausch stattgefunden haben, da es unter anderem zu griechischen und römischen Göttinnen einige Entsprechungen in der hinduistischen Götterwelt gibt.

In späterer Zeit lassen sich auch Beziehungen zwischen Brahmanen (Angehörigen der Priesterkaste) und antiken Philosophen verfolgen, da letztere sehr an indischen Weisheitslehren interessiert waren.

Im Mittelalter soll dann fast jeder Austausch zwischen Ost und West in dieser Form aufgehört haben, unter anderem, weil das christliche Abendland den Anspruch auf Alleinbesitz aller Wahrheiten erhob.

So erörterte der Dichter und Philosoph Dante Alighieri zum Beispiel die Frage, wie es sich mit der Güte und Gerechtigkeit Gottes vereinbaren lasse, dass ein tugendhafter Inder, der nie von Christus gehört und die Taufe nicht empfangen habe, der Verdammung anheimfalle. Und auch Marco Polo, der große Asienreisende, unterlässt es nicht, bei seinen Ausführungen über den Buddhismus hervorzuheben, dass Buddha ein großer Heiliger hätte sein können, wenn er Christ gewesen wäre.17

Erst die Entdeckung des Seeweges nach Indien (1498) durch den portugiesischen Seefahrer Vasco da Gama knüpfte die seit einem Jahrtausend gelockerten Fäden zwischen Indien und dem Abendland wieder fester.

Missionare und Reisende brachten dem alten Europa Nachrichten über indische Religionen, die sich jedoch meist nur auf Schilderungen des volkstümlichen Hinduismus beschränkten. Erst im Jahre 1740 sollen in einem Brief die Hauptlehren Indiens Erwähnung finden. Ein Pater soll darin Abhandlungen über drei der orthodoxen philosophischen Systeme, nämlich des Nyāya, Vedānta und des Sānkhya, geschrieben haben.18

Schon bald wurden auch die Upanishaden bekannt und 1801 ins Lateinische übersetzt. Der Philosoph Schopenhauer, auf den diese heiligen Schriften eine große Anziehungskraft hatten und aus denen er auch Trost schöpfte, soll unter anderem diese Übersetzung verwendet haben. Die Aussagen der Bhagavadgītā, die von dem englischen Orientalisten Charles Wilkins zum ersten Mal aus dem Sanskrit ins Englische übersetzt wurden, erlangten bei dieser erneuten Beschäftigung mit der indischen Philosophie die größte Aufmerksamkeit.

Wilhelm von Humboldt pries diese Texte als das »Tiefste und Erhabenste, was die Welt aufzuweisen hat«. In Deutschland war zuerst durch Herder und Friedrich Schlegels Buch Über die Sprache und Weisheit der Inder die Aufmerksamkeit auf die indische Geisteswelt gelenkt worden. Durch den Indologen August Wilhelm von Schlegel und seine Berufung auf den Bonner Lehrstuhl (1818) wurden die indischen Weisheitslehren auch an weiteren deutschen Universitäten bekannt. Einige Werke von Schelling, Hegel und vor allem von Schopenhauer zeugen auch heute noch von dem großen Interesse an indischer Philosophie in der damaligen Zeit. Und wir schöpfen auch heute aus dem Fundus des Sprachforschers und Religionswissenschaftlers Max Müller und des Philosophen und Indologen Paul Deussen, die beide häufig als Quellen angegeben werden. Auch Helmuth von Glasenapp und Heinrich Zimmer gehören zu jenen Gelehrten, die sich im 20. Jahrhundert um die Erschließung der indischen Philosophie verdient gemacht haben. Sie hatten vor allem die Gabe, östliche und westliche Philosophiesysteme verständnisvoll in Vergleich zu setzen und uns die indische Götterwelt näherzubringen.

Die bedeutendsten Göttinnen bzw. die wichtigsten Erscheinungsformen der Shakti sollen nun nach ihren spezifischen Eigenschaften beschrieben werden und sozusagen als Samen in westliche Erde gesät werden:

Durgā, die schwer Besiegbare oder auch die Unnahbare und Unergründliche genannt, ist eine Erscheinungsform von Pārvatī, der Gemahlin Shivas. Als Shakti vernichtet sie den Dämon des Nichterkennens, der in Gestalt eines Büffels erscheint. Auf Abbildungen sehen wir sie meist auf einem Löwen oder Tiger reitend dargestellt, mit acht oder zehn Armen, in denen sie die mächtigsten Attribute Shivas hält, Dreizack, Bogen, Schwert und Schlange, und als weitere Symbole Vishnus den Diskus, die Keule und das Muschelhorn. Der Überlieferung nach entstand Durgā durch das Zusammenführen aller magischen Kräfte der Götter. Sie zählt zu den drawidischen Gottheiten aus vorarischer Zeit und ist noch heute eine der beliebtesten Göttinnen Indiens. Sie wird als göttliche Mutter verehrt und symbolisiert als Kriegerin ihre große Macht. Mal ist sie also strafend und mal gnädig, spendet den Armen Speise und segnet mit Liebe und Erkenntnis all diejenigen, die nach Gottverwirklichung streben.

Jedes Jahr im Herbst findet zur Anbetung der Durgā ein großes Fest statt, die sogenannte Durgā-PÒjā, die mitunter fünf Tage lang andauert. Die Festlichkeiten beginnen mit der Anrufung Durgās, damit sie aus ihrem himmlischen Reich herabkommen möge. Am letzten Tag der PÒjā wird das für das betreffende Jahr geschaffene Durgā-Bildnis in einem Fluss oder im Meer versenkt.19

Durgā wird in einigen Schriften auch gleichgesetzt mit den zehn Mahāvidyās, die als Erscheinungsformen der Göttin gelten. Die zehn Mahāvidyās sind zehn Gottheiten oder Personifizierungen der Shakti, die in Indien angebetet werden, da sie leichter zur Erkenntnis Brahmans – und damit zur höchsten Erleuchtung – führen können.

image

Durgā im Kampf mit dem Büffeldämon

Diese Göttinnen sind:

image Kālī, Herrin über Zeit und Schöpfung

image Tārā, Göttin der Hingabe in All-Liebe

image Shodashī, die liebliche Erretterin

image Bhuvaneshvarī, Schöpferkraft der Welt

image Chinnamastā, Göttin des Werdens und Vergehens

image Bhairavī, Göttin des irdischen Verfalls

image Dhūmāvatī, die göttliche Witwe

image Vagalā, Bezwingerin böser Zauberkräfte

image Mātangī, die Gottheit, die Verbotenes zum Guten wandelt

image Kamalā, Anfang und Ende der »zehn Mächtigen«

Kālī

Die Göttin Kālī, wörtlich »die Schwarze«, die verschiedentlich auch »Göttliche Mutter« genannt und besonders in Bengalen verehrt wird, ist mir unter anderem in den Schriften Ramakrishnas begegnet, der ein glühender Verehrer der göttlichen Mutter Kālī war: »Kali verkörpert die Zeit und die Überzeit, die Vergangenheit und die Zukunft. Sie ist des Weltalls Mutter und Vernichterin. Alle Dinge werden aus ihr geboren und gehen wieder in sie ein. Ihr Bild, die Gestalt einer Tänzerin, ist in schwarzem Marmor gehauen, denn unsichtbar, farblos ist die Zeit. Doch da wir unausgesetzt die Folge von Zeit-Augenblicken erfahren, liegt das Symbol der Zeit in der Kunst des Tanzes, der die Folge von Bewegungen ist. Augenblicke der Zeit sind Bewegungen des Menschen. Mit seinen Augen begreift er das Räumliche, im Tanz erfährt er die Zeit. Deshalb muss Kali, das Symbol unserer Erfahrung der Zeit, das Bild des Tanzes sein. Um ihren Hals trägt sie einen Kranz aus Menschenschädeln, die Epochen der Menschheitsgeschichte, die die Zeit aus dem Sein auslöscht. Neben diesem seltsamen Schmuck sind ihr vier Hände gegeben, Sinnbilder der drei Zeitformen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die beiden ersten Hände, deren eine ein Schwert, die andere einen Menschenschädel hält, bedeuten, dass der Mensch, die höchste gegenwärtige Verkörperung der Lebewesen, vom Tode ausgelöscht wird. Ihre beiden anderen Hände sind erhoben, um auf die Hoffnung (die Zukunft) und die Erinnerung (die Vergangenheit) hinzuweisen. Das ist das Bild der Kali.

Doch nicht genug; denn siehe, Kali hat ihren Fuß auf Shiva gesetzt, den schneeweißen Gott, das Symbol der Unsterblichkeit. Er ist der Gott der Entsagung, den sie nicht bezwingen kann.

Plötzlich bricht sie ab in ihrem wahnsinnigen Tanz, denn Shiva ist unüberwindlich. Sie, die alle bezwungen, den Gott der Entsagung überwindet sie nicht.

Der Hindu versteht das Symbol der Kali; selbst die Kinder lernen zu ihr zu beten: ›Neige zu mir deines Mitleids Antlitz, das der Staub der Täuschung verbarg. O Göttin, du Antlitz der Unsterblichkeit, durchdringe mich ganz mit deinem unendlichen Erbarmen.‹ «20

In Leben und Gleichnis ist auch beschrieben, wie Ramakrishna im Alter von dreißig Jahren seine erste Erleuchtung vor der Statue der Kālī empfing: »Es war früh am Morgen. Nachdem er die Morgenriten vollzogen hatte, ließ er sich vor Kali nieder und flehte zu ihr: ›Mutter, wird mir heute nicht die Gabe der Erleuchtung zuteil, so werde ich morgen meinem Leben ein Ende bereiten. … Zerbrich mein Herz, Mutter, nur beende meine Zweifel. Offenbare mir dein Antlitz der Unsterblichkeit!‹

Da plötzlich bewegten sich ihre steinernen Arme. Ihre Lippen formten sich zu einem leuchtenden Blumenkelch. Dann ergoss sich das Licht über ihr ganzes Gesicht. Ihr Haar wurde zu einem flammenden Strahlenkranz, als wäre die Sonne selbst vom Himmel herniedergestiegen und stehe hinter ihrem Haupt. Nun glitt das Licht ihren Körper hinab zu Shiva, der unter ihren Füßen lag. Aber auch hier hielt es nicht an. Wie zwei mächtige Flügel breitete sich dieses Lichtmeer über das ganze Tempelinnere aus. Selbst die kleinsten Gegenstände wie Glocken, Kerzen und Blumen begannen sich tanzend zu wiegen, ergriffen von diesem überirdischen Licht. Wohin sich der Blick Ramakrishnas auch wandte, überall sah er nur Licht, Licht, Licht. ›Ich habe sie gefunden! Ich habe sie gefunden!‹«21

Beeindruckend ist hier für mich vor allem, dass Ramakrishna im Zustand seiner Ekstase mühelos zu allen Religionen Zugang fand, so auch zu der Person Jesu, als dieser ihm plötzlich gegenüberstand. Und so heißt es weiter: »Der Menschensohn küsste den Sohn der göttlichen Mutter und ging in ihn ein. Sri Ramakrishna erfuhr seine Identität mit Christus, wie er sie vorher mit Kali, Rama und Krishna erfahren hatte. Auf diesem Pfade gelangte er zur höchsten Erkenntnis und erkannte Christus als eine göttliche Inkarnation an, allerdings nicht als die einzige.«22

Lakshmī

Die Göttin Lakshmī ist der Legende nach – ähnlich wie auch Aphrodite – dem Schaum des Ozeans entstiegen. Nach einer anderen Legende lag sie bei der Schöpfung auf einer Lotosblüte. Sie ist die Gefährtin Vishnus. In den Vishnu-Purānas, in denen unter anderem die verschiedenen Inkarnationen des Gottes beschrieben sind, erscheint auch Lakshmī in unterschiedlichen Verkörperungen und begleitet ihn. Als Vishnu zum Beispiel als Rāma wiedergeboren wurde, war sie Sītā, und als er als Krishna geboren wurde, war sie Rukminī.

Im Rigveda steht das Wort »Lakshmī« zunächst einfach für Glück, während im Atharvaveda damit bereits ein weibliches Wesen gemeint ist, das mal Glück und mal Unglück bringt. Erst später wird Lakshmī zur Göttin des Glücks und der Schönheit, zur Gemahlin Vishnus und zur Mutter Kāmas erhoben.23

Möge uns das Glück zu Ānanda, zur Glückseligkeit, führen!

Durch die Macht
und Wahrheit dieser Übung
mögen alle Wesen Glück erfahren
und die Ursachen von Glück.
Mögen alle frei sein von Leid
und den Ursachen von Leid.
Mögen alle niemals getrennt sein
vom höchsten Glück, das frei ist von Leid.
Mögen alle in Gleichmut leben,
ohne allzu viel Anhaften
und ohne allzu viel Abneigung.
Und mögen sie leben
im Wissen um die Gleichheit von allem,
was lebt
.

Buddhistische Anrufung

Sarasvatī

Sarasvatī, wörtlich »die Fließende«, ist die Göttin des »Redeflusses«, der Beredsamkeit, Gelehrsamkeit und der Intuition des göttlichen Wortes. Ihr wird die Schöpfung des Sanskrit, der heiligen Sprache des Hinduismus, und der dazugehörigen Schrift, der Devanāgarī, zugeschrieben. Außerdem ist sie die Schutzherrin der Künste, insbesondere der Musik.

Sarasvatī war ursprünglich eine Flussgöttin – ein inzwischen ausgetrockneter Fluss, der in alter Zeit der größte Strom Indiens gewesen sein soll, trägt diesen Namen. Sie wird außerdem als die Gemahlin Brahmās verehrt.

Tārā

image

Avalokiteshvara schöpft aus seinen Tränen Tārā

Die tibetische Gottheit Tārā, wörtlich »die Retterin«, ist eine Emanation des Avalokiteshvara, des Bodhisattva der Barmherzigkeit, die aus seinen Tränen entstanden sein soll, um ihn in seinem Wirken zu unterstützen.

Sie verkörpert den weiblichen Aspekt des Erbarmens und ist im tibetischen Buddhismus, und auch darüber hinaus, eine sehr populäre Gottheit. Es gibt 21 Manifestationen der Tārā, die sich bildlich in Farbe, Körperhaltung und Attributen voneinander unterscheiden. Die meisten dieser 21 Formen der Tārā sind friedvoll, doch kann sie auch als rasende, zornige Gottheit auftreten. Die häufigsten Erscheinungsformen sind die der Grünen und der Weißen Tārā.24

image

Avalokiteshvara