Chakras sind Zentren subtiler oder feinstofflicher Energien im Astralkörper des Menschen. Sie sammeln, transformieren und verteilen die sie durchströmende Energie, die uns auch als Prāna und Kundalinī bekannt ist. Die Tantra-Philosophie geht von der engen Verbindung zwischen Makro- und Mikrokosmos aus und vermittelt alles, was sich im Makrokosmos – dem Universum – und auch im Mikrokosmos – dem Menschen – abspielt. Shiva und Shakti, das große göttliche Einheitspaar, symbolisieren das »formlose Sein« der hinduistischen Mythologie und lassen durch ihre Trennung die Welt – die Schöpfung – entstehen. Dieser Vorgang vollzieht sich wie ein kosmisches Liebesspiel. Denn solange die Shakti als Kundalinī im unteren Chakra ruht, sehnt sie sich nach der Einheit mit Shiva zurück. Diese Sehnsucht ist Teil eines Bewusstseinsprozesses.
Im zweiten Kapitel habe ich bereits beschrieben, dass Shiva als ruhender Aspekt im reinen Bewusstsein unverändert bleibt und wie die Shakti, als die ihm innewohnende Kraft, sich von ihm abspaltet und in die Verdichtung der Materie gelangt. Als Shivas bewegende Hälfte hofft nun die Shakti – durch die Bewusstwerdung des Individuums – auf baldige Vereinigung, die sich immer wieder vollziehen kann. Wenn wir uns der göttlichen Einheit bewusst werden, steigt die Shakti von Chakra zu Chakra hinauf und feiert schließlich Hochzeit im obersten Chakra, dem Sahasrāra-Chakra. Ist diese Hochzeit einmal vollzogen, wird sie vom Bewusstsein nie mehr vergessen.
Wie schon beschrieben ist also die göttliche Kraft bis in den Leib hinabgestiegen, den sie im Ein- und Ausatmen am Leben erhält. Deshalb wird die Suche nach dem Göttlichen auch nicht außen, sondern im Körper selbst aufgenommen. Und dieser Körper wird über das Bewusstsein wiederum dreifach erkannt: als Kausalkörper, als feinstofflicher und als grobstofflicher Körper, mit den fünf ihn umgebenden Hüllen, den Koshas, die zusammen diese drei Körper bilden.
Weit blumiger werden die Chakras von einigen indischen Lehrern und westlichen Interpreten beschrieben.
Die indische Mythologie gibt vieldeutige Hinweise zu allen Symbolen, die mit den einzelnen Chakras in Beziehung stehen. Uns interessieren in diesem Zusammenhang besonders die Göttinnen-Symbole, die sich auf alle Chakras verteilen.
Der bedeutendste Interpret dieser Symbole ist Arthur Avalon in dem Klassiker Die Schlangenkraft, auf den sich die mir bekannten Autoren berufen. Swami Sivananda Radha, eine Schülerin des bekannten Yoga-Meisters Swami Sivananda Sarasvati, die sich in ihrem Buch zur Kundalinī-Praxis vielfach auf Avalon bezogen hat, schreibt zum Aufstieg der Kundalinī durch die Chakras: »Schlafend ruht sie im Muladhara-Chakra in Form einer Schlange oder einer zusammengerollten Energie, bekannt als Kundalini-Shakti. Sie ist im Lebenszentrum des Universums. Sie ist die Urkraft des Lebens, die allem Sein zugrunde liegt. Sie belebt den Körper durch ihre Energie. Sie ist die Energie in der Sonne, der Duft in den Blumen, die Schönheit in der Landschaft, die Gayatri oder die Heilige Mutter in den Veden. Sie ist die Farbe im Regenbogen, die Intelligenz im Geist, die Hingabe in der Verehrung. … Die zahllosen Universen sind nur Staub von den Füßen der Heiligen Mutter. Ihr Ruhm ist unsagbar. Ihre Herrlichkeit ist unbeschreiblich. Ihre Größe ist unermesslich. Sie überschüttet ihre ehrlichen Anhänger mit ihrer Gnade. Sie geleitet die einzelne Seele von Chakra zu Chakra, von Ebene zu Ebene und vereinigt sie im Sahasrara mit Gott Shiva.«25
Im Inhaltsverzeichnis von Die Schlangenkraft weist der Autor auf die Tantras hin, in denen die Göttin Dākinī und die anderen Göttinnen mal als Königinnen und mal als Türhüterinnen angegeben werden. Der Kommentar benennt darin alle Göttinnen und weist auf ihre Namen hin: Dākinī, Rākinī, Lākinī, Kākinī, Shākinī und Hākinī sollen demnach die Regentinnen der sechs Chakras sein.26 Gleichzeitig vermerkt Avalon, dass an anderen Stellen auch völlig neue Erklärungen gelten und dass die Göttinnen Gegenstände in den Händen halten, die besondere Bedeutungen haben.
Zu den vielen Symbolen des untersten Chakras, des Wurzel- oder Mūlādhāra-Chakras, gehört auch die Göttin Dākinī. In Avalons Klassiker heißt es dazu: »Hier weilt die mit dem Namen Dākinī bezeichnete Devi; ihre vier Arme erstrahlen in Schönheit und ihre Augen funkeln rot. Sie leuchtet wie die Pracht vieler gleichzeitig aufgehender Sonnen. Sie gilt als die Überbringerin der Offenbarung von der ewig neuen Einsicht.«27
Wie so oft in der Mythologie wird auch diese Göttin mit vier Armen dargestellt. In der oberen rechten Hand trägt die Dākinī das Schwert, in der unteren rechten den Trinkbecher und in der oberen linken Hand den Stab mit Schädel sowie in der unteren linken den Speer. Wir könnten das Schwert als Werkzeug für Entscheidungskraft ansehen und den Becher als Krafttrunk oder als Zeichen dafür, dass wir das Bittere im Leben trinken müssen. Der Speer kann auf das Zielgerichtete hinweisen und der Stab mit dem Schädel auf das Vergängliche. Darüber zu meditieren, eventuell mit dem Mantra, kann eine gute yogische Übung sein.
Durch Dākinī wird auf der Mūlādhāra-Ebene die Intelligenz symbolisiert, die die prinzipiell weibliche Energie manifestieren soll. Hier ruht sie noch als Kundalinī und will erweckt werden. Die Intelligenz bezieht sich besonders auf die Macht des Wortes und des Lautes; weitergegeben durch die Rishis (Seher), die in dieser Weise göttliche Offenbarungen preisgaben.
Hier sei vermerkt, dass es prinzipiell zahlreiche Deutungen der Chakras und deren Symbole, sowohl im klassischen als auch im psychologisch-philosophischen Bereich, gibt. Die hier gewählten Beispiele sollen nur der Anregung und Reflexion dienen, um sich selbst darüber Gedanken zu machen.28
Swami Radha findet zu denen der Dākinī zugeordneten Gegenstände noch folgende weiterreichende Erklärungen:
Der Speer, mit dem auch Tiere erlegt werden können, bezieht sich auf die primitive Ebene im Menschen. Tiere können als Symbole für verschiedene Eigenschaften im Menschen gedeutet werden, so kann ein Elefant beispielsweise für Kraft oder eine Maus für Ängstlichkeit stehen. Wenn man die erforderliche Geschicklichkeit erworben hat, trifft der Speer das Ziel. Für uns geht es dabei darum, uns über unser Ziel im Leben klar zu werden, und auch um die Frage: »Lasse ich mich in meinem Leben von Bewusstheit oder, wie ein Tier, von meinen Instinkten leiten?«
Der Stab mit einem darauf angebrachten Schädel steht für einen leeren Geist, der gänzlich frei ist von vorgefassten Meinungen. Er steht auch für Einsicht durch Intuition. Der Schädel ist am Stab befestigt wie der Kopf an der Wirbelsäule, so dass die Energie von unten in den leeren, also in den von vorgefassten Meinungen freien Geist aufsteigen kann. Dieses Strömen der göttlichen Energie durch die Wirbelsäule ist eine Erfahrung, die den Menschen in seinen Grundfesten erschüttert.
Das Schwert ist das Symbol für die Fähigkeit, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen.
Der Trinkbecher ist unser Gefäß, mit dem wir den göttlichen Nektar oder das Wasser des Lebens empfangen können. Dieser Trank kann eine berauschende Wirkung haben und sollte nur in kleinen Schlucken, das heißt langsam und mit Bewusstheit, getrunken werden.
Das Mūlādhāra-Chakra liegt an der untersten Stelle der Sushumnā-Nādī, des wichtigsten feinstofflichen Nervenkanals im Innern der Wirbelsäule, zwischen der Wurzel des Zeugungsorgans und dem Anus. Dort soll die Shakti-Kundalinī im unerweckten Zustand zusammengerollt ruhen. Diese Kundalinī, auch Schlangenkraft genannt, verleiht allen anderen Chakras in uns Kraft und Energie. Daher verstehen wir auch die Bezeichnung Wurzelzentrum, hier noch mit vier Lotos-Blütenblättern, die sich im Aufstieg vermehren und im Stirnzentrum verändern, um sich im Tausendblättrigen Lotos wiederzufinden. Die Keimsilbe dieses Chakras ist LAM, der Elefant mit sieben Rüsseln ist das dazugehörige Tiersymbol, und Brahmā und die bereits beschriebene Dākinī sind die Gottheiten.
Im zweiten Chakra ist die Göttin Rākinī abgebildet. Sie zeigt sich wiederum mit vier Armen. Die Göttin trägt einen Dreizack in der oberen linken Hand und in der unteren eine Lotosblüte. In der oberen rechten Hand hält sie eine Trommel und in der unteren eine Streitaxt.
Dies können Sie nun zunächst einfach auf sich wirken lassen, denn die wenigen klassischen indischen Erklärungen könnten eher Verwirrung stiften. Swami Radha hat Erklärungen gefunden, die als Beispiele im Folgenden genannt werden.
Rākinī symbolisiert die Ebene des Selbstausdrucks im zweiten Chakra, dem Svādhishthāna-Zentrum.
Bei einem ausgedehnteren Bewusstsein soll sich auch die Sprache in der Bedeutung der Wörter erweitern, um das Subtile ausdrücken zu können. Denn die Sprache der Götter ist eine völlig andere als die menschliche und kann nur durch »intuitives Lauschen« verstanden werden. Unreflektiertes Sprechen und Hören soll zurücktreten, um einem neuen Verstehen von Ton und Resonanz Raum zu geben.
Im Svādhishthāna-Chakra hat der Lotos sechs Blütenblätter. Diese zunehmende Anzahl symbolisiert die Zunahme der Imaginationsfähigkeit.
Im Weiteren wird auf dieser Chakra-Ebene die Wahrnehmung über den Geschmacksinn bewusster werden, ganz im Sinne des Sprichworts »Der Mensch ist, was er isst«. Es lohnt sich stets, über diesen Satz nachzudenken und Gewohnheiten zu verändern.
Die Farbe der Göttin Rākinī ist blau, ihre drei Augen sind rot, und sie hat vorstehende Zähne, was ihr ein grimmiges Aussehen verleiht.
Folgende Merkmale über die oben bereits erwähnten Gegenstände der Göttin beschreibt Swami Radha:
Ein Dreizack, ein Stock mit drei Spitzen am oberen Ende, symbolisiert hier die Einheit von Körper, Geist und Sprache. Der Stock steht, wie bereits beim Stab mit Schädel, für die Wirbelsäule, in der die Kundalinī aktiv ist.
Der Lotos gilt als Ausdruck für Heiligkeit und symbolisiert das Streben nach der Einheit des Geistes und kann nicht beschmutzt werden, ebenso wenig wie die Reinheit des Selbst.
Die Wirkung der Trommel wird so erklärt, dass ihre Schwingungen im Körper sehr leicht wahrzunehmen seien, weil sie Emotionen und sexuelle Gefühle erwecken können. Die Wiederholung eines Rhythmus löst im Körper Reaktionen aus, die mit den verschiedensten Emotionen einhergehen könnten. Diese sollten kontrolliert und verfeinert werden.
Die Streitaxt ist ein Symbol dafür, dass man sich im Leben emporkämpfen muss. Schon in der Bhagavadgītā wird erzählt, wie Krishna den Helden Arjuna zum Kampf für die gerechte Sache ermuntert. Auch das tägliche Leben kann als ein ständiger Kampf gesehen werden, in dem es gilt unsere negativen Anteile zu überwinden und durch positive Faktoren zu ersetzen.
Das Svādhishthāna-Chakra liegt im Energiekanal der Sushumnā, an der Wurzel der Genitalien. Von dort werden auch die inneren Organe der Ausscheidung und der Fortpflanzung beherrscht. Die symbolische Form ist der Halbmond und seine Farbe ist weiß. Das Tiersymbol ist das Krokodil, die Keimsilbe VAM und die zugeordneten Gottheiten sind Vishnu und als Shakti (die niedere) Gottheit Rākinī. Die Konzentration auf das Svādhishthāna-Chakra gewährt Furchtlosigkeit vor dem Wasserelement und lässt psychische Kräfte, intuitive Erkenntnis sowie vollkommene Beherrschung der Sinne und weitere Erkenntnis der astralen Wesenheiten aufkommen. Der Yogi wird damit nach Swami Sivananda zum Sieger über den Tod.
Zum dritten Chakra gehört die Göttin Lākinī mit ihren drei Gesichtern. Jedes Gesicht hat ein drittes Auge in der Mitte der Stirn. Das Gesicht ist der Sitz aller fünf Sinne. Das dritte Auge symbolisiert die Hellsichtigkeit, die erlangt werden kann. In ihren zwei oberen Händen trägt Lākinī rechts den Donnerkeil und links die Feuerwaffe.
Die anderen beiden Hände sind zum Mudrā geformt. Die Geste der rechten Hand bedeutet die »Zerstreuung von Ängsten« (Abhaya-Mudrā), und das Mudrā der linken Hand symbolisiert die Gewährung von Gunst (Varada-Mudrā), auch »gnadengewährender Gestus« genannt.29
Zu den Gegenständen der Göttin Lākinī:
Der Donnerkeil wird bei Swami Radha als Symbol der Macht beschrieben, genauer gesagt, der der mächtigen Ausdruckskraft der Natur, die Blitze und damit Feuer erzeugen kann. Der Schüler des Yoga müsse entscheiden, ob er sich vom Feuer der Begeisterung entzünden lasse und nach Erfolg und Ruhm streben wolle, oder ob er vom Feuer des Strebens nach dem Allerhöchsten verzehrt werden möchte, denn es sei nicht möglich, zwei Herren zu dienen oder zwei Ziele gleichzeitig zu verfolgen.
Im Manipüra-Chakra ist das Feuer der Leidenschaften stark und mächtig, was durch Flammen oder eine Feuerwaffe angezeigt wird, die die Kraft der Zerstörung symbolisiert.
Das Manipüra-Chakra wird in der Nabelgegend lokalisiert, dem körperlichen Zentrum des Solarplexus, und beherrscht auch diesen Bereich, obwohl das Chakra, wie alle anderen auch, feinstofflicher Natur ist. Die Blütenblätter des Lotos – hier sind es zehn – gehen von den zehn energetischen Nādīs aus, die das Dreieck umrahmen. Die Keimsilbe lautet RAM, mit dem Tiersymbol des Widders und den Gottheiten Rudra und Lākinī. Rudra ist in den Veden der Gott der Stürme und wird später identisch mit Shiva. Es heißt, dass der Yogi, der sich auf dieses Chakra konzentriert, Satala-Siddhi erreicht. Das bedeutet, dass er verborgene Schätze findet, von Krankheiten befreit wird und die Angst vor dem Feuer verliert. Swami Sivananda äußert dazu: »Selbst wenn er in brennendes Feuer geworfen wird, bleibt er ohne Todesfurcht am Leben.«
Das Anāhata-Chakra, auch Herzzentrum genannt, weil es auf der Höhe des physischen Herzens liegt, hat zwölf Lotosblätter, die zwei Dreiecke – zum Stern geformt – umrahmt. Die Göttin auf dieser Ebene wird Kākinī genannt; sie reitet auf einer schwarzen Antilope, trägt in einer Hand einen Schädel, in der anderen eine Schlinge und mit ihren zwei weiteren Händen zeigt sie – wie schon Lākinī – zwei Mudrās: Das Abhaya-Mudrā zur Zerstreuung von Ängsten in den drei Welten (der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) und die Geste der Gewährung der Gunst.
Zu den Gegenständen der Göttin Kākinī:
Die Schlinge steht für die hohe Erwartung, die wir in spirituelle Erfahrungen setzen und in der wir uns leicht verfangen.
Wie schon weiter oben beim Stab mit Schädel steht auch hier der Schädel für einen reinen Geist.
Die schwarze Antilope symbolisiert Flüchtigkeit. Sie erinnert und daran, dass spirituelle Erfahrungen flüchtig sind.
Das Anāhata-Chakra beherrscht die gesamte Ebene des Herzraumes. Die zwölf Blütenblätter gehen von zwölf Nādīs aus und wirken auf grob- und feinstoffliche Bereiche. YAM ist die Keimsilbe und das Tiersymbol die Gazelle. Die beherrschenden Gottheiten sind Isha und Kākinī.30
In diesem Zentrum wird der Klang Anahat, der Klang Brahmans, offenbar. Es heißt, dass dieser Klang sehr deutlich vernehmbar sei, wenn man sich auf dieses Zentrum konzentriere, und dem Meditierenden dabei kosmische Liebe und andere göttliche Eigenschaften zuteilwürden.
Dem Herz-Chakra wird als Integrationszentrum in der gesamten Philosophie, Physiologie, Psychologie, Religion und Spiritualität große Bedeutung beigemessen, und es wird in vielerlei Hinsicht interpretiert. Kaum ein Schriftsteller oder Dichter hat das Herzthema ausgelassen. Lange Passagen über das Herz in der Liebe schmücken unzählige Bände. Nach Goethe ist die Liebe das, was die Welt im Innersten zusammenhält.
O Mutter, mach mich verrückt vor Liebe zu Dir!
Was sind mir Gelehrsamkeit und Verstand!
Mach mich trunken vom Wein Deiner Liebe!
O Du stiehlst das Herz Deiner Bhaktas,
ertränke mich in den Meerestiefen Deiner Liebe!
In dieser Welt sind wir alle Narren Deiner Liebe;
einige lachen, andere weinen oder tanzen vor Freude:
Jesus, Buddha, Moses, Gauranga
sind alle trunken vom Wein Deiner Liebe.
O Mutter, wann nimmst du mich auf
in diese glückselige Gemeinschaft?
Ramakrishna31
In dieser Stadt Brahmans, die der Körper ist,
ist eine kleine Stätte in Form eines Lotos,
in der ein kleiner Raum ist.
Was darin ist, soll man erforschen,
das soll man wahrlich suchen zu erkennen.
Chāndogya-Upanishad 3,14
Zum Vishuddha-Chakra, das mit sechzehn Blütenblättern dargestellt wird, gehört die Göttin Gauri oder Shākinī. Sie wird mit fünf Gesichtern und vier Armen abgebildet, trägt in der rechten oberen Hand einen Pfeil und in der rechten unteren Hand einen Bogen. In der linken oberen Hand hält sie einen Stachelstock und in der linken unteren Hand eine Schlinge.
Zu den Gegenständen der Göttin Shākinī:
Das Symbol der Schlinge soll hier davor warnen, sich von Klängen allzu sehr einfangen zu lassen.
Durch diesen Stock soll der Übende zu den letzten Bemühungen angespornt werden.
Der Pfeil symbolisiert eine klare Ausrichtung.
Der Bogen steht für Spannung und Wachheit.
Das Vishuddha-Chakra liegt am unteren Ende des Halses und gehört zum Äther-Element. Die symbolische Form ist der Kreis, die Keimsilbe lautet HAM. Diesem Chakra wird neben der bereits erwähnten weiblichen Gottheit Gauri als männlicher Gegenpart Sadā-Shiva zugeordnet, das heißt Shiva in der Form des reinen Bewusstseins. Das dazugehörige Tier ist ein schneeweißer Elefant. Der Elefant symbolisiert nach Swami Radha den durch Hingabe gebändigten Willen. Wenn die Kontrolle über den Geist und die Emotionen erlangt werden kann und Hingabe an die Stelle des Willens tritt, dann verheißt dieses Chakra beständigen inneren Frieden.
Yoga ist die Kunst, den Bogen
des Leibes in Liebe zu spannen,
dass der Pfeil der Erkenntnis
das Dunkel des Unwissens
durchdringt.
Brihadāranyaka-Upanishad
Das, was man durch das Ohr nicht hört,
wodurch aber dieses Hören gehört wird,
nur das wisse als das Absolute und nicht dieses,
was die Menschen als die Welt verehren.
Kena-Upanishad
Das Ājñā-Chakra mit seinen zwei Blütenblättern überrascht, weil wir meinen könnten, dass sich kurz vor dem Tausendblättrigen Lotos, dem obersten Zentrum, die Zahl der Blüten vermehren müsste. Zu diesem Chakra gehört die Göttin Hākinī. Sie hat sechs Gesichter, was dafür steht, dass ihr Geist stärker und schärfer geworden ist. Auch hat diese Göttin nun nicht mehr nur vier, sondern sechs Arme, was ebenfalls auf höher entwickelte Fähigkeiten hinweist. In vier Händen hält sie Gegenstände, mit zweien formt sie Mudrās. In der rechten oberen Hand hält die Göttin die Trommel. Die Hand darunter zeigt wieder das Abhaya-Mudrā, das Mudrā der Angstfreiheit, und die rechte Hand unten hält einen Rosenkranz. In der linken Hand oben hält Hākinī ein Buch, darunter hält sie Hand in der Geste der Gunstgewährung und in der unteren linken Hand hält sie den Stab mit Schädel.
Zu den Gegenständen der Göttin Hākinī:
Das Buch symbolisiert gespeichertes Wissen.
Mit der Trommel wird der Rhythmus geschlagen, der möglicherweise auch anderen den Weg weisen kann.
Der Schädel, der bis zu diesem Chakra den leeren Geist symbolisierte, weist nun auf die Erlangung eines mit überragenden Kräften begabten Geistes hin.
Die Perlen des Rosenkranzes sollen die miteinander zusammenhängenden früheren Existenzen bezeichnen, die sich mehr oder weniger stark in negativer oder positiver Weise auf das gegenwärtige Dasein auswirken.
Das Ājñā-Chakra hat seine physische Entsprechung im Zwischenraum zwischen den beiden Augenbrauen. Wir nennen diesen Bereich »drittes Auge«. Seine Farbe ist ein milchiges Weiß und die Keimsilbe ein kurzes A. An der Seite der Göttin Hākinī steht hier die männliche Gottheit Parama Shiva, der höchste Shiva. Swami Sivananda äußerte dazu, dass die Konzentration auf dieses Chakra all das Karma aus vergangenen Leben zerstöre und es ermögliche, Jivamukti, also die spirituelle Befreiung zu Lebzeiten, zu erreichen.
OM – die Fülle ist jenes, die Fülle ist dieses. Aus der Fülle geht die Fülle hervor. Wird von der Fülle die Fülle genommen, so bleibt wahrlich die Fülle. OM – Friede, Friede, Friede.
Īshā-Upanisad
Das Sahasrāra-Chakra, auch Kronen-Chakra oder Tausendblättriger Lotos genannt, liegt über dem Scheitelpunkt des Kopfes, außerhalb des grobstofflichen Körpers. Wie der Name besagt, hat dieser »Lotos« tausend Blätter, und es strahlen »unzählige« Nādīs (Energiebahnen) von ihm aus. Die physische Entsprechung ist das Gehirn, seine Keimsilbe ist OM, der heilige Laut.
Eine spezielle Gottheit gibt es hier nicht, denn das Sahasrāra-Chakra ist die Wohnstätte von Shiva und Shakti in Urform – als Einheit der Göttlichkeit. Diese Erfahrung der Einheitlichkeit entspricht dem kosmischen Bewusstsein, welches auch als mystische Hochzeit beschrieben wird.
Arthur Avalon schreibt in Die Schlangenkraft ausführlich, aber auch recht schwer verständlich über die Entfaltung schöpferischer Kräfte im Menschen im Aufstieg durch die Chakras. Zum höchsten Chakra, dem Tausendblättrigen Lotos, heißt es bei ihm: »Über allen diesen, im leeren Raum, in welchem die Shankhini Nadi verläuft, und unter der Visarga, liegt der Tausendblättrige Lotos. Dieser Lotos, strahlend und heller als der Vollmond, hat den Blütenkopf nach unten hängen. Er wirkt zauberhaft. Seine Staubfädenbüschel sind mit der Farbe der aufgehenden Sonne getüncht. Sein Blütenleib erstrahlt in den mit A beginnenden Buchstaben, er gilt als die absolute Wonne.«32
Wie dieses Beispiel zeigt, bedürfen die religiösen indischen Texte, aus dem Tantrismus geboren, einerseits immer wieder der Interpretation, und andererseits sollten sie, wie ein Samenkorn, vorsichtig in westliche Erde gelegt werden, über der die Sonne der Meditation scheinen sollte.
Wie am Anfang diese Buches beschrieben, erscheint mir der Schöpfungsprozess im Herabsteigen der Shakti wie ein Liebesweg. Der Rückweg erfolgt über das Bewusstsein und die zunehmende Erkenntnis des Menschen durch Übung. Dabei werden drei Körper, fünf Hüllen (kosha) und sieben Kraftzentren (chakra) genannt, die es im Laufe dieses Entwicklungsprozesses zu durchdringen gilt:
Sthūla-Sharīra, der grobstoffliche Körper, gebildet aus Annamaya-Kosha, der aus Nahrung zusammengesetzten Hülle, mit den Chakras Mūlādhāra, Svādhisthāna und Manipūra.
Sūkshma-Sharīra, der feinstoffliche Körper, gebildet aus Prānamaya-Kosha, der Hülle der Lebensenergie, und Manomaya-Kosha, der aus Denken und Fühlen gebildeten Hülle, sowie Vijñanamaya-Kosha, der erkenntnishaften Hülle, mit den Chakras Anāhata, Vishuddha und Ājñā.
Kārana-Sharīra, der Kausal-Körper, gebildet aus Ānandamaya-Kosha, der wonnehaften Hülle, mit dem Sahasrāra- oder Kronen-Chakra, dem Tausendblättrigen Lotos.
Dieser Vorgang, der in der tantrischen Auflistung fast technisch erscheint, kann sich nur über ein feinstoffliches Erkennen definieren sowie über Meditation in Erfahrung bringen lassen.
Die Shakti als Kundalinī, erklärt in der weiblich-göttlichen und kosmischen Energie, führt uns so zum Eins-Sein – zu uns selbst. Manchmal führt dieser Weg auch über Umwege.
Im New-Age-Zeitalter sahen sich viele esoterische Gruppierungen dazu ermuntert, zahlreiche unterschiedliche Erklärungen zu den Chakras zu finden, die oft fast nichts mehr mit dem Tantrismus zu tun haben. Oscar Marcel Hinze hat sich da in seinen Ausführungen als Grenzgänger gezeigt und auch Vergleiche zur westlichen Philosophie eingebracht. Hier ein Auszug zum Vergleich charakteristischer Merkmale des Kundalinī-Yoga und der entsprechenden Merkmale bei dem griechischen Philosophen Parmenides: »Das grundlegende Erlebnis im Yoga wie bei Parmenides besteht zunächst darin, dass ein Weg »nach oben« zurückgelegt wird. Außerdem ist dies ein Weg, der aus der Finsternis in das Licht führt. Der Sadhaka (der Übende) fühlt sich dabei durch eine außergewöhnliche Kraft hinaufgetragen, er ist dieser Kraft gegenüber aber relativ passiv.
Aus der Traumpsychologie wissen wir, dass sich die eigenen Seelenkräfte, Neigungen und Regungen oft in symbolische Gestalten kleiden, die als von uns unabhängige, selbständige Personen (auch Tiere) handelnd auftreten. Ähnliches kann erlebt werden in anderen Zuständen als dem gewöhnlichen Traumzustand. Das Ich des Sadhaka spielt dabei die Rolle des Shiva, der ›tatenlos‹ bleibt. Gehandelt wird nur von den Shaktis. Interessant ist, dass auch im Lehrgedicht des Parmenides, gleichsam nach den tantrischen Spielregeln, die weiblichen Personen die Führung haben und überhaupt die handelnden Figuren sind. Göttinnen bringen Parmenides auf den Weg, Mädchen – die sich später als die Sonnenmädchen herausstellen – weisen den Weg. Sie sind es auch, welche die ›Hüllen‹ zurückstoßen. Am ›Tor der Bahnen von Tag und Nacht‹ verwaltet die Göttin Dike die Schlüssel. Es sind wieder die Mädchen, welche die Dike ›mit weichen Worten‹ dazu überreden, den Denker durch das Tor einzulassen. Anschließend lenken die Mädchen Wagen und Rosse mitten durch das Tor. Danach wird Parmenides von einer Göttin angesprochen und belehrt: Eine zweifache Wahrheit wolle sie ihm verkündigen, einmal die volle Wahrheit, dann aber auch ›die sterblichen Schein-Meinungen‹. Im Rahmen der Scheinwahrheit, welche im zweiten Teil des Gedichtes dargestellt ist, wird auch die Kosmogonie, der Prozess der Schöpfung, behandelt. Das Zentrum dieses Prozesses ist wiederum die Göttin, die ›alles lenkt‹ und überall ›unselige Geburt und Paarung‹ anregt. Es ist auch eine Göttin, die das Sein ›in den Banden der Grenze, die es rings umzieht‹, hält.«33
Also gilt auch hier: Göttinnen führen, handeln, sprechen und lenken alles Geschehen.
Sa ham – »Ich bin sie.«
Spenderin höchster Glückseligkeit
und reine Weisheit,
hinter allen Eigenschaften, unendlich wie der Himmel,
hinter allen Worten, rein und ruhig,
hinter allen Veränderungen und Formen,
schweigende Zeugin
unserer Gedanken und Gefühle.
Ich grüße die Wahrheit,
den höchsten Lehrer.
Vedischer Hymnus