8. Kreativität
„Alle Menschen sind hochgeboren; denn alle sind Gott verwandt, alle tragen in sich schöpferische Kraft.“25
Bei der Recherche zu meiner Liste habe ich mich damit auseinandergesetzt, was sich hinter dem allgemeinen Terminus „Werte“ eigentlich konkret verbirgt. Ich stieß auf eine Aufzählung von Begrifflichkeiten, darunter auch „Kreativität“. Das befremdete mich zunächst. „Freiheit“, „Toleranz“, „Loyalität“ … hatte ich erwartet, aber nicht unbedingt „Kreativität“. Je mehr ich mich damit auseinandersetzte, desto klarer wurde mir jedoch, dass dieses für Einfallsreichtum und Schöpferkraft stehende Wort eindeutig einen Platz in der Liste verdient hat. Und zwar nicht nur ganz allgemein, sondern auch ganz speziell in unserer Familie.
Denke ich an „Kreativität“, kommen mir als Erstes künstlerische Tätigkeiten in den Sinn: malen, töpfern, werken. Obwohl ich mich heute als kreativen Menschen bezeichne, begann meine Schulkarriere als völlige Niete in den Fächern Werken und Kunst. Mit Grauen denke ich an zwei linke Hände und eine Laubsäge zurück, die in der dritten Klasse einfach nicht zueinander passen wollten. Später, im Kunstunterricht, wurden vor allem detailgenaues Abmalen und realistische Darstellungen verlangt. Ich mogelte mich so durch. Einmal sollten wir eine Werbeanzeige aus einer Zeitschrift aussuchen, die Seite zerreißen und den fehlenden Teil ergänzen. Ich entschied mich für Reklame, bei der Fred Feuerstein abgebildet war. Eine Zeichentrickfigur halbwegs erkennbar zu ergänzen, erschien mir machbarer als ein Foto. Einigermaßen motiviert ging ich mit Wassermalfarben ans Werk. Man konnte Fred tatsächlich erkennen, allerdings waren nach dem Trocknen alle Farben ein paar Nuancen zu hell. Was für ein Glück, dass mein Vater die famose Idee hatte, das Bild mit einer Taschenlampe zu ergänzen, die den zu hell geratenen Teil beleuchtete. Mein Kunstlehrer hielt es tatsächlich für Absicht und war von „meiner“ kreativen Idee begeistert. Glück muss man haben und einen einfallsreichen Vater. Ein anderes Mal kam ich nicht so glimpflich davon. Die Aufgabe lautete, einen Baum auf Linol zu zeichnen und damit einen Druck zu machen. Ich kann keine Bäume malen, allerdings halbwegs passable Palmen im Comicstil. Auch das befand mein Lehrer gnädig als eine originelle Idee. Bis ich – in Anlehnung an die Palmen-Sonnenuntergangs-Poster in meinem Jugendzimmer – drei Sterne und einen Mond in das Linol ritzte. Sein Entsetzen über so viel Kitsch kannte keine Grenzen. So verliefen also die Höhen und Tiefen meiner künstlerischen Schulkarriere. Am Ende hatte ich es halbwegs akzeptabel hinbekommen, aber in meinem Kopf war eine Sache festgemeißelt: Ich bin künstlerisch nicht begabt und habe keinen Zugang zu Kreativität.
Zum Glück endet die Geschichte hier nicht. Sie fand allerdings erst ungefähr 15 Jahre später eine ungeahnte Wendung als mich eine Freundin zum „Abend des offenen Ateliers“ mitnahm. Eine einheimische Künstlerin teilte in regelmäßigen Abständen ihr Atelier samt Ausstattung mit Menschen, die Lust hatten, sich kreativ auszuprobieren. Gegen eine kleine Kursgebühr und Materialgeld konnte man hier malen, sprayen, drucken …, was das Herz begehrt. Die Offenheit und die Atmosphäre dieses Atelierabends haben mein Innerstes nach außen gekehrt und Schleusen der Schaffenslust in mir geöffnet. In der ersten Zeit sah ich mich erst mal um, saugte Eindrücke auf, guckte den unterschiedlichsten Leuten bei ihrem Tun über die Schultern und atmete Inspiration. Dann traute ich mich. Und wie ich mich traute. Ich wählte eine richtig große Leinwand und experimentierte mit Farben, Übergängen, Verläufen. Keine gegenständliche Darstellung, kein realistisches Abmalen, gar nichts wurde hier verlangt. Alles durfte, nichts musste. Was passierte war einfach nur schön. Ich geriet in einen Flow, erlebte das völlige Versunkensein in kreativem Tun. Und von Zeit zu Zeit sah mir jemand über die Schultern. Was mir entgegengebracht wurde, waren Wertschätzung und Bestätigung. Man fand mein Bild tatsächlich schön. Und das wurde mir so glaubhaft versichert, dass ich es annehmen konnte. Tatsächlich gefiel dieses großflächige Werk sogar meinem Mann und wir hängten es gut sichtbar in unserem Zuhause auf.
Die Schule hatte meinem Selbstvertrauen hinsichtlich kreativer Schaffenskraft gehörige Dämpfer versetzt. Aber dieser eine Abend gab mir Raum und Zeit zum Experimentieren, Inspiration, Mut und Bestätigung. Er brachte meine verschüttete Kreativität zurück und ich hatte plötzlich große Lust, alles Mögliche auszuprobieren. Ich verliebte mich in gefilzte Hausschuhe und verbrachte Stunden mit einer Freundin, die mein feinmotorisches Gedächtnis auffrischte. (Immerhin hatte ich es während der Vorlesungen im ersten Semester geschafft, meinem Freund aus linken und rechten Maschen einen langen Schal zu stricken. Er hat ihn heute noch. An so was erinnern sich Hände.) Ich habe gezittert, als die viel zu groß wirkenden Strickhausschuhe mit einem Tennisball zum Filzen in die Waschmaschine mussten. Man weiß ja nie, wie groß oder klein sie da wieder rauskommen. Sie waren zweimal drin, aber dann passten sie wie angegossen. Hellblaue Filzschuhe, die ich mit weißen Sternen bestickte. (Ein bisschen Kitsch muss sein. Eine Palme kam aber nicht mit drauf.) Es folgte eine überdimensional große Sofadecke, in die ich jede Menge Tränen strickte, weil ich eine Weile brauchte, bis ich mich traute, meinen entzündeten Weisheitszahn ziehen zu lassen. Ich habe es irgendwann gewagt, auch ohne meine Freundin zu stricken. Problematisch wurde das, wenn ich aus Versehen eine Masche fallen ließ und das erst zwei Reihen später bemerkte. Mein Mann, der Ingenieur, ließ sich das Prinzip des Vorwärtsstrickens von mir zeigen und strickte dann für mich zurück. Keine Ahnung, wie er das macht. Hat wohl etwas mit logischem Denken zu tun.
Auch meine „Malkarriere“ ging weiter. Ich traf mich eine Weile ziemlich regelmäßig mit einer Freundin zum Malen oder Filzen. Sie ist Schreinerin und erschafft fantastische Sachen aus Holz. An diesen Werkstoff habe ich mich aber nach wie vor nicht herangewagt. (Die Erinnerungen an die Laubsäge gehören wohl doch zu der traumatischen Sorte.)
2015 kam dann die Offenbarung. Ich habe mit Bible Art Journaling meine künstlerische Nische entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt war ich ziemlich bibelgefrustet. Ich sehnte mich nach einer intensiveren Beschäftigung mit Gottes Wort, aber mir fehlte der Zugang. Im Urlaub hatte ich es mit einer englischen Ausgabe versucht, davor mit Begleitliteratur, nichts motivierte mich, und dennoch wollte ich die Bibel lesen. Dann lief mir ein Zeitschriftenartikel zu dem Thema Bible Art Journaling über den Weg und ließ mich nicht mehr los. Man gestaltet einzelne Verse oder längere Abschnitte in einer Extra-Bibel mit dickerem Papier und breitem Rand. Dabei sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Ich male, klebe, stemple, drucke, schreibe in diese Bibel. Das Material reicht von Spitze, Stickern und Designpapieren bis zu Alltagsmaterialien, wie Pralinenverpackungen oder Mandarinennetze.
Nach der Beschäftigung mit dem Inhalt des Bibeltextes gestaltet man, was einem wichtig geworden ist. Realistisch gezeichnet oder abstrakt, ganz nach eigenem Geschmack und Können. Diese Herangehensweise hat mir einen völlig neuen Zugang zur Bibel eröffnet. Durch die bildnerische Umsetzung verankern sich die Textaussagen tief in meinem Gedächtnis. Bible Art Journaling ist für mich Zeit mit Gott.
Das kann auch in der Gemeinschaft geschehen. Ich habe es in unserem Frauenkreis, bei Workshops und in Zweiergruppen erlebt. Weil jeder individuell von einem Bibeltext angesprochen wird und seine eigene kreative Ausdrucksform hat, entstehen einzigartige Seiten. Keine wie die andere. Das ist wirklich faszinierend. Wenn ich eine Seite neu gestaltet habe, liegt die aufgeschlagene Bibel auf der Wohnzimmerkommode. Etliche Freunde unserer Kinder sind schon daran vorbeigelaufen und haben Blicke hineingeworfen. Manchmal kommentiert die eine oder andere etwas. Das freut mich, denn es bedeutet, dass der Glaube zu unserem Alltag gehört. Hier wird niemand mit der Bibel erschlagen. Sie liegt einfach nur da und lädt zum Reinstöbern ein. Ganz natürlich.
Ganz natürlich und unaufgeregt haben sich über das „Journaln“ auch ein paar kleine Auftragsarbeiten ergeben. Das Erinnerungsalbum für die Konfirmation beschriften, den Taufspruch der Kinder als Bild gestalten, Weihnachtskarten für den Adventsbasar herstellen. Wer hätte das gedacht, damals im Kunstunterricht?
Einige Freundinnen von mir sind sogenannte Basarfrauen, was heißt, dass sie in liebevoller Handarbeit monatelang töpfern, basteln, stricken, buchbinden … – jede nach ihrer Begabung in entsprechenden Gruppen. Die wirklich schönen Resultate werden jedes Jahr auf einem besonderen Weihnachtsbasar verkauft und der Erlös zu 100 % an die Christusträger gespendet, die im Kongo ein Kinderkrankenhaus betreiben. Kinder aus ärmsten Verhältnissen werden behandelt und dürfen leben, weil sich Menschen am anderen Ende der Welt hingebungsvoll um sie kümmern, aber auch weil Anke töpfert, Sanni Armbänder fädelt, Kathrin näht, Tina Bücher bindet …
Einfallsreichtum und Fantasie sind nicht auf bestimmte Bereiche beschränkt. Sie kommen ganz vielfältig daher. Während ich meine Bibeln gestalte und schreibe, schmirgelt mein Mann an hölzernen Rohlingen, lackiert, schleift, lötet und verbaut elektrische Kleinteile, bis er eine einzigartige selbst gebaute Gitarre in der Hand hält. Dann kommt das nächste Projekt. Eine andere Gitarre, es kann aber auch ein Fahrrad sein, das er aus Einzelteilen zusammensetzt, bis es sein Rennrad ist. Im Gegensatz zu mir hat er keine „Angst“ vor Holz. Unser Schreibtisch mit der geschwungenen Front, den es nirgends zu kaufen gibt und die passgenau eingebauten Regale daneben sind sein Werk. Leider fordert ihn sein Broterwerbsjob zeitlich sehr. Wäre das nicht so, ihm wäre es garantiert nie langweilig.
Unserer Tochter Sophia kamen aber weder Fahrräder noch Gitarren oder Möbelstücke in den Sinn, als ich mit ihr über Papas Kreativität sprach. Es waren die von ihm erfundenen Tim- und-Tom-Geschichten aus Kindergarten- und Grundschulzeiten, die sie und ihre Schwester so liebten. Sie wurden nie müde, den Fortsetzungsgeschichten über Tim und Tom – der eine Skifahrer aus den Bergen, der andere Pirat auf der Ostsee (Lina hatte als kleines Mädchen eine Vorliebe für Piraten) – zu lauschen. Die erste Episode entstand irgendwann im Urlaub, die letzte wurde wohl vor etwa fünf Jahren erfunden. Ich war gerührt, wie viel diese Erzählungen den Mädchen noch heute bedeuten. Als Lina vor einiger Zeit ein Jugendzimmer bekam und Spielzeug aussortierte, tauchte Tom (eine Piratenhandpuppe) wieder auf und mit ihm die alten Geschichten.
Während Thilo aus dem Stegreif Geschichten erfinden und zum Besten geben kann, bin ich von Anfang an ein Schreiberling. Sobald die Sache mit den Buchstaben klar war, begann ich Geschichten zu schreiben. Später erwachte mein (ich gebe es zu) noch heute bestehendes Interesse für die Welt der Royals und ich schrieb königliche Klatschspaltenartikel, wie ich sie aus den Zeitschriften meiner Oma kannte. In Teeniezeiten widmete ich mich einem unvollendeten Roman und träumte davon, eines Tages ein Buch zu veröffentlichen. Ich staune noch immer darüber, dass dieser Traum gerade Wirklichkeit wird.
Sophia kommt in dieser Hinsicht ganz nach mir. Ihr Krimi für Jugendliche wartet bereits in der Schreibtischschublade auf seine Entdeckung und ich fiebere schon jetzt der Fortsetzung entgegen. Klar, ich bin ihre Mutter, aber sie hat das wirklich drauf.
Während wir von Sophia bereits im Grundschulalter mit Geschichten beschenkt wurden, zauberte Lina ganze Installationen aus ihrer umfangreichen „Ist das Kunst oder kann das weg?“-Sammlung. Lina macht aus allem etwas. Nicht irgendwas, sondern etwas wirklich Schönes. Sie stürzt sich mit Engagement und Begeisterung in künstlerische Projekte. An ihrer Schule werden jedes Jahr auf einem Adventsbasar Sachen verkauft, die Unterstufenschüler gebastelt, gezeichnet oder gebacken haben. Lina war jedes Mal mit Feuereifer dabei, plünderte (mit Erlaubnis) meine Materialkisten für das Bible Art Journaling und legte los. Besonders schön ist es, wenn wir beide gemeinsam Bibelseiten gestalten. Lina hat ihre eigene Journaling Bible und ich erlebe unsere Mutter-Tochter-Kreativzeit als echten Segen.
Malen, Filzen und Journaln, Gitarren, Möbel und Fahrräder bauen, basteln, Geschichten erzählen und schreiben – ich finde es wunderbar, wie viel Kreativität Gott in unsere Familie gelegt hat. Wir sind keine außergewöhnlichen Menschen. Die kreative Vielfalt ist mir erst beim Schreiben so richtig bewusst geworden. Und ich bin mir sicher, das ginge jeder anderen Familie genauso. Man muss nur ein wenig in Erinnerungen kramen und auf Schatzsuche gehen.
Ich glaube, es ist kein Zufall, dass wir Menschen so kreativ geschaffen sind. Das Wort „Kreativität“ ist verwandt mit den Begriffen „Kreation“ = Schöpfung, „Kreatur“ = Geschöpf. Und im Englischen wird der Schöpfer mit „creator“ übersetzt. Wir haben einen kreativen Gott. Diese Erkenntnis ist eine meiner größten Glaubensargumente, wenn mich Zweifel überfallen. Eine Welt, die per Zufall entstanden ist, würde nicht überall die Handschrift eines liebevollen, einfallsreichen Schöpfers tragen. Warum ist jede Schneeflocke einzigartig geformt? Wozu sind Spinnennetze symmetrisch perfekt? Weshalb malt der Himmel bei jeder Wolkenformation und allen Sonnenauf- und -untergängen wunderschöne Bilder? Für mich lässt das nur den einen Schluss zu: Diese Welt wurde von jemandem geschaffen, der Wert auf Ästhetik legt. Denn für reine Funktionalität braucht es diese Schönheit nicht.