10. Glauben

„Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“27

Einer der wichtigsten Werte, den wir unseren Kindern von Anfang an vermitteln wollten, ist der christliche Glaube. Nach meinem Verständnis sind wesentliche Grundhaltungen wie Dankbarkeit, Respekt, Toleranz und andere durchaus (wenn auch nicht zwingend) Folgen einer christlichen Einstellung. Ist Glaube dann überhaupt ein Wert an sich? Wikipedia definiert christliche Werte als Grundhaltungen mit Bezug zum christlichen Glauben. Darunter werden die Triade Glaube-Liebe-Hoffnung, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit genannt.28

Die Christenlehre in Leipzig säte wohl die ersten Samen meines Glaubens. Danach gab es lange Zeit nichts, bis ich mit siebzehn Jahren eigene Schritte auf meinem persönlichen Weg mit Gott machte. Es war die Zeit, in der ich in der Jugendgruppe ankam und komplett fasziniert davon war, was meinen neuen Freundeskreis dazu bewog, sich wöchentlich zu treffen und missionarische Aktionen zu starten. Ich saugte Bibelarbeiten auf wie ein Schwamm, besuchte christliche Großveranstaltungen und Konzerte und organisierte schließlich die Christothek mit, eine Art Disco im Gemeindehaus. Wir hatten jede Menge Spaß miteinander. Ich empfand es als große Bereicherung, mit Gott zu quatschen wie mit einem ganz normalen Freund. Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, das, was mir vermittelt wurde, infrage zu stellen. Im Gegenteil: Ich gab meinen Glauben in Kindergottesdiensten, Kinderstunde und auf Freizeiten weiter und wurde Mitglied im Leitungsteam der Jugendgruppe. Eine christliche Bilderbuchkarriere. Mir schienen EC, CVJM und die evangelische Landeskirche ziemlich ähnlich zu denken. Ich erweiterte mein „christliches Spektrum“ aber auch ab und zu in Gemeinden mit anderen Ausrichtungen. Einmal nahm ich an einem Hauskreisabend von charismatischen Christen teil und registrierte verblüfft die Emotionen während des Singens und Betens. Ein anderes Mal waren wir zu einer Hochzeit in einer Brüdergemeinde eingeladen, wo die Frauen ihr Haar mit einem Tuch bedeckten und nur Männer predigen und laut beten durften. Gerade Letzteres empfand ich als ziemlich einengend, obwohl wir sehr herzlich aufgenommen wurden. Diese kleinen Ausflüge in andere christliche Welten erweiterten meinen Horizont und verstärkten das Gefühl in mir, dass ich mich in unserer Gruppe geistlich zu Hause fühlte. Auch hier gab es natürlich Überzeugungen, die mir nach bestem Wissen und Gewissen mit auf den Weg gegeben wurden. Eine davon war, dass die Bibel zwar von Menschen geschrieben, aber von Gott eingegeben wurde und ihre Inhalte daher der Wahrheit entsprechen. Letzteres würde ich heute noch unterschreiben. Nun sind die Bücher der Bibel vor sehr langer Zeit verfasst worden und ihre Übertragung auf die heutige Zeit fällt nicht immer leicht. Häufig wurden sie in bildhafter Sprache geschrieben. Zumindest für den theologischen Laien ist nicht immer – wie bei den Gleichnissen – klar erkennbar, ob es sich bei einer Aussage um ein tatsächliches Geschehen oder um eine symbolische Aussage handelt. Selbst unter Fachleuten gehen die Meinungen oft auseinander. Vor Jahren lasen wir im Hauskreis gemeinsam die Offenbarung. Keine leichte Kost, deshalb hatten wir uns Begleitlektüre besorgt. Es waren zwei Bücher von Theologen und wir mussten feststellen, dass sie sich an etlichen Stellen widersprachen.

Als Jugendliche hatte ich die Aussagen meiner Freunde den Glauben betreffend dankbar und unreflektiert aufgenommen. Auch nach unserer Hochzeit und dem Umzug kamen mir keine größeren Zweifel. Ich wurde Mutter und besuchte mit beiden Kindern die Krabbelgruppe der Kirchengemeinde. Später gingen sie in den evangelischen Kindergarten. Ich las ihnen aus der Kinderbibel vor, wie es früher schon meine Mutter bei mir getan hatte. Wann immer es möglich war, brachten Thilo und ich die Mädchen gemeinsam ins Bett. Wir kuschelten uns zusammen und einer las die Gute-Nacht-Geschichte vor. Dann sangen wir „Der Mond ist aufgegangen“ und mir wurde zum ersten Mal bewusst, wie christlich dieses Lied doch ist. „So legt euch nun, ihr Kinder, in Gottes Namen nieder …“. Zum Abschluss beteten wir. Als Lina und Sophia im Kindergarten- bzw. Grundschulalter waren, besuchte Thilo mit einem Freund ein Seminar, bei dem es um christliche Erziehung aus der Papa-Perspektive ging. Danach führte er ein neues Ritual ein. Thilo segnete die Kinder jeden Abend vor dem Einschlafen. Die beiden waren von Anfang an mit Begeisterung dabei. Vor allem Lina forderte jeden Abend ihren Segen ein. War Thilo während der Bettgehzeit gerade Joggen, musste ich ihm beim Nachhausekommen ausrichten, dass er sie unbedingt noch segnen solle. Auch, wenn sie schon längst schlief. Ich durfte ihn nicht ersetzen; Segnen war Papa-Sache. Irgendwann habe ich mal bei den Mädchen nachgefragt, was den Segen so besonders für sie machte. Sie erzählten, dass sie sich im Schlaf behütet und sicher fühlten. Regelmäßige Albträume wurden seltener und traten sie doch einmal auf, schliefen die Kinder schneller wieder ein. Sophia sagte, wenn Papa seine Hand beim Segen auf ihren Kopf legte, fühlte es sich so an als wäre Gott da und würde sie ansprechen.29

Während der Kinderjahre fand ich es ziemlich einfach, den Mädchen ein Stück Glauben mit auf den Weg zu geben. In diesem Alter sind Mama und Papa noch die großen Vorbilder, an denen man sich orientiert. Kinder stellen durchaus Fragen zum Glauben. Aber sie haben auch ein ganz besonderes Vertrauen. Nicht umsonst sagte Jesus: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“30 Ich glaube auch, dass Kinder näher an den rational nicht erklärbaren Geschehnissen zwischen Himmel und Erde sind als wir. Mit zunehmendem Alter ändert sich das und sie beginnen zu hinterfragen.

Nachdem ich als junge Erwachsene begonnen hatte, bewusst zu glauben, erwischte mich meine geistliche Pubertät erst mit Mitte, Ende dreißig. Ich kam ins Grübeln, zweifelte und hinterfragte vieles. Es war keine offene Rebellion. Ich redete mir ein, nicht an dem Großen und Ganzen zu zweifeln. Schließlich hatte ich nicht nur durch Sophias Geburt Gottes Wirken eindrucksvoll erlebt. Andererseits gab es auch dafür eine rational logische Erklärungsmöglichkeit. Also hinterfragte ich doch das große Ganze? Darüber hinaus bekam ich meine Zweifel daran, alles, was in der Bibel steht, wortwörtlich zu nehmen. Es passte nicht mehr für mich. Während einer religionspädagogischen Fortbildung erschloss sich mir der metaphorische Schatz der Bibel. Aber war das dann noch echter, richtiger Glaube, wenn ich biblische Inhalte symbolisch auffasste? Irgendwo hatte sich in mir die Überzeugung festgesetzt, dass nur das wortwörtliche Verständnis wahrer Glaube sei und alles andere Augenwischerei. Mir war bewusst, dass ich mich an einem entscheidenden Punkt befand. Hier hätte es enden können mit Gott und mir. Ich lebte diese widersprüchliche Zeit so, wie ich es immer getan habe, seit ich mit Gott auf Du und Du bin: Er bekam meine Zweifel zu hören und die Bitte, an mir festzuhalten, falls er denn existent wäre. Es gab keinen Donnerschlag, der all meine Zweifel mit einem Mal vom Tisch fegte. Es waren Begegnungen und Gespräche, die mir weiterhalfen, aber auch Bücher wie Torsten Hebels „Freischwimmer“31. Selbst er, der Berufschrist, stellte alles infrage und machte sich auf die Suche nach Antworten, indem er ehemalige Weggefährten nach ihrer Glaubensmotivation befragte. Besonders das Statement von Christina Brudereck hat großen Eindruck bei mir hinterlassen. Sie verurteilte das Infragestellen von Gottes Existenz mit keiner Silbe. Stattdessen erzählte sie, dass sie ja nichts riskiert, wenn sie an einen Gott glaubt, den es gar nicht gibt. Sollte er aber doch existieren und sie glaubte nicht an ihn, würde sie viel verlieren. So einfach kann es sein.

Langsam, Stück für Stück, legte sich Frieden über den Sturm in meinem Inneren. Ich stellte nicht mehr meinen ganzen Glauben infrage, sondern nur die Art und Weise, wie ich ihn lebte. Und ich fühlte mich bei allem Auf und Ab tatsächlich von Gott begleitet. Das Entweder-oder-, Schwarz-oder-Weiß-Denken löste sich auf, denn ich glaubte ja immer noch. Statt mich, wie befürchtet, von Gott zu entfernen, hatte ich mich ihm wieder genähert. Und da bin ich jetzt, immer noch mit vielen Fragen, aber ruhiger und gewisser geworden, dass mein Glaube trägt.

Dieses Fundament ist wertvoll für mich. Denn jetzt sind unsere Töchter, die von Kindesbeinen an mit dem christlichen Glauben aufgewachsen sind, an der Reihe zu hinterfragen. Ich bin froh, dass wir ganz offen darüber ins Gespräch kommen können. Lina hat noch ihre Kids-für-Jesus-Gruppe und die anstehende Konfirmandenzeit bei unserem Pfarrer, der (im Gegensatz zum meinem damals) genau der richtige für diese sensible Zeit der (Glaubens-)Entwicklung ist. Bei Sophia gab es nach der Konfirmation keine christliche Gruppe mehr, in der sie sich wohlfühlte. Sie ringt mit ihren Zweifeln und Fragen. Am liebsten würde ich sie da durchtragen. Stattdessen muss ich lernen loszulassen, auszuhalten und mal wieder darauf zu vertrauen, dass es Gott gibt und dass er auch für unsere Kinder nur das Beste im Sinn hat.