14. Großzügigkeit

„Wir bestreiten unseren Lebensunterhalt mit dem, was wir bekommen, und wir leben von dem, was wir geben.“43

Wir waren erschöpft und hungrig. Den ganzen Tag hatten wir zwischen Rigipsplatten und Spachtelmasse auf dem Dachboden zugebracht. Hier sollte Sophias Kinderzimmer entstehen, weshalb wir auch jeden übrigen Cent in Baumaterial anlegten. Da waren wir also am Ende eines langen Tages und keiner von uns hatte noch Lust und Elan, ein Abendessen zu kochen. „Ich würde jetzt am liebsten Pizza bestellen“, machte ich meinen Gedanken Luft. Unsere Tochter war begeistert und ich erklärte ihr, dass wir gerade ganz schön viel Geld für den Dachbodenausbau ausgäben und deshalb … Da beschloss das damals achtjährige Kind, der Familie von seinem ersparten Taschengeld Pizza auszugeben. Eine großzügige Äußerung. Wir haben dieses Angebot angenommen und uns einladen lassen. Nicht, weil wir das arme Mädchen ausnutzen wollten. Nicht, weil wir uns mit der Pizza in Schulden gestürzt hätten. Eher aus dem Gespür heraus, dass wir hier gerade einen besonderen Moment erlebten. Mehr als eine Geste, eher der Ausdruck einer Herzenshaltung. Großzügigkeit ist ein Wert, der uns als Familie wichtig ist. Gleichzeitig sorgt die unterschiedliche Wahrnehmung, wieviel Großzügigkeit gut ist und wo die eigenen Grenzen beginnen, auch immer wieder für Diskussionsstoff zwischen Thilo und mir. Mein Mann ist ein äußerst großzügiger Mensch. Mit allen Vor- und Nachteilen. Wenn er am Wochenende Frühstücksbrötchen für uns kauft, versorgt er die Nachbarn gerne mit. Ich finde das hin und wieder eine nette Geste, aber nicht, wenn wir selbst gerade einen finanziell eher knappen Monat haben. Er liebt es auch, mit unseren Töchtern einkaufen zu gehen. Dabei macht er ihnen dann gerne mal eine Freude. Kürzlich brachten Lina und Thilo Skistöcke für 90 Euro nach Hause. Ich hätte nach gebrauchten oder zumindest günstigeren geguckt. Das gut geschulte Verkaufspersonal im Sportgeschäft hatte aber unschlagbare Argumente und hübsch waren die Stöcke auch noch. Lina strahlte beim Nachhausekommen, bis ich meine Meinung äußerte und die Laune dämpfte. Mist, ich hatte mal wieder die Rolle des Spielverderbers übernommen. Ich bin kein Geizhals, aber insgeheim glaube ich, die Verantwortung dafür zu tragen, unsere finanziellen Ausgaben im Rahmen zu halten. Dabei ist mir bewusst, dass es uns gut geht. Ich will auf gar keinen Fall jammern. Aber ich fühle mich einfach besser, wenn am Ende des Monats noch etwas Geld auf dem Konto ist und wir kleine Rücklagen bilden können. Das haben wir jahrelang nicht geschafft, weil wir uns entschieden hatten, dass einer von uns nach Kindergarten bzw. Schule für die Mädchen da ist und dass wir nervlich nicht auf dem Zahnfleisch kriechen wollten. Ich halbierte meine Stunden in der Schule. Dieser Weg war für unsere Familie genau richtig, auch wenn er finanzielle Einbußen bedeutete. Manchmal, nach besonders anstrengenden Tagen, gingen wir abends alle vier essen, obwohl das Konto schon ziemlich geleert war. Und wir genossen es mit Leib und Seele. Das sind die Momente, in denen auch ich mir denke: Es ist doch nur Geld.

Thilo ist nicht nur in finanzieller Hinsicht ein großzügiger Mensch. Er verschenkt auch gerne seine freie Zeit. Als der Sportverein dringend Schiedsrichter suchte, machte er eine entsprechende Schulung. Inzwischen ist er regelmäßig im Einsatz, koordiniert die Einteilung der Unparteiischen, organisiert Schulungen und springt an manchen Wochenenden mehrfach ein, wenn kurzfristig jemand ausfällt. Nein-Sagen gehört nicht zu seinen Stärken. Ich glaube, es gefällt ihm auch ein Stück weit, gebraucht zu werden. Das verstehe ich. Nachdem mein Mann aber wochentags fast zwölf Stunden außer Haus ist, würde ich ihn am Wochenende auch gerne mal außerhalb der Turnhalle sehen. Andererseits macht es ihm Spaß und ist ein Ausgleich zum Bürojob.

Die richtige Balance finden – ein Kunststück. Zwischen Geben und Nehmen, Zeit verschenken und Nein sagen können, Einsatzbereitschaft und Burn-out, großzügig sein und Grenzen setzen, gibt es so viele Nuancen auszuloten.

Ich würde mich weder als geizig noch als besonders egoistisch bezeichnen. Aber ich kenne meine Grenzen und kann sie ganz gut kommunizieren. Ich glaube, Gott hat Thilo und mich absichtlich zusammengeführt. Wir haben unsere Reibungspunkte, was das Thema Großzügigkeit angeht, aber wir ergänzen und brauchen einander in unserer Unterschiedlichkeit. Und die Kinder? Sophia gibt grundsätzlich gerne, weiß aber auch für sich zu sorgen. Da kommt sie wohl eher nach mir. Über meine Kleinkindzeit existiert eine alte Familiengeschichte. Ich wurde als Dreijährige von meiner Mutter gefragt, ob ich ihr etwas von meiner Schokolade abgeben würde. Daraufhin nickte ich, besah mir die Süßigkeit etwas näher, biss noch einmal ab und teilte erst dann.

Lina ist sehr freizügig im Geben und auch im Vergeben. Wenn ich diese Worte lese, fällt mir auf, dass da vielleicht ein Zusammenhang besteht. Vergebung braucht Großzügigkeit. Als Jugendliche las ich zum ersten Mal Corrie ten Booms Lebensgeschichte. Die niederländische Christin und ihre Familie retteten während der Nazizeit etlichen Juden das Leben, indem sie sie in ihrem Zuhause versteckten. Im April 1944 flogen sie durch einen Verrat auf, wurden verhaftet und deportiert. Corries Vater und die Schwester überlebten das Konzentrationslager nicht. In dem Buch „Die Zuflucht“ beschreibt Corrie, wie sie nach dem Krieg einem früheren Wärter aus Ravensbrück begegnete und ihm vergab: „In einem Gottesdienst in München sah ich ihn, den früheren SS-Mann, der vor der Tür zum Dusch­raum in Ravensbrück Wache gestanden hatte. Er war der erste unserer wirklichen Kerkermeister, den ich seit damals wiedersah. Und plötzlich war das alles wieder lebendig – der Raum voll spottender Männer, die Kleidungshaufen, Betsies [Corries Schwester, Anm. d. Autorin] vom Schmerz gezeichnetes Gesicht.“ Der Mann kam auf Corrie zu und bat sie um Vergebung. Doch verständlicherweise war das alles andere als einfach für sie. „Er streckte die Hand aus, um meine zu schütteln, aber ich, die ich in Bloemendaal den Menschen so oft gepredigt hatte, dass sie vergeben müssten, ließ meine Hand herunterhängen.“ Corrie ten Boom erkannte, dass sie aus eigener Kraft nicht in der Lage war, diesem Mann zu vergeben. „Und so hauchte ich wieder ein stummes Gebet: ‚Jesus, ich kann ihm nicht vergeben. Schenke mir deine Vergebung.‘ Und als ich seine Hand nahm, geschah etwas ganz Unglaubliches. Von meiner Schulter herunter, an meinem Arm entlang und durch meine Hand schien ein Strom von mir auf ihn überzugehen, während in meinem Herzen eine Liebe zu diesem Fremden aufloderte, die mich fast überwältigte. Und so entdeckte ich, dass die Heilung der Welt weder von unserer Vergebung noch von unserer Güte abhängt, sondern allein von seiner.“

Diese Passage am Ende des Buches berührt und beeindruckt mich bis heute. Auch lehrt sie mich etwas über das Wesen unseres Gottes. „Ich bringe Leben und dies im Überfluss“, heißt es in Johannes 10,10. Und tatsächlich, wenn man die Bibel liest, begegnet einem immer wieder ein Gott, der großzügig körperliche und seelische Nahrung, Verständnis, Gnade und Vergebung schenkt.

Einer der vielen hebräischen Bezeichnungen für Gott ist Jahwe Jireh. Das heißt so viel wie „Der Herr sieht“ und wird oft mit „Gott versorgt“ übersetzt. Es bedeutet also, dass Gott die Dinge vorhersieht und uns das gibt, was wir brauchen. Ich denke nicht, dass damit ein Freibrief gemeint ist, sich um nichts mehr selbst kümmern zu müssen. Eine ausgewogene Balance zwischen Selbstfürsorge und Großzügigkeit ist wichtig. Dennoch passiert es immer wieder, dass wir genau zum passenden Zeitpunkt von Gott versorgt werden. Als wir nach Bayern zogen und meinem Vater auf dem Weg zur Wohnungsbesichtigung eine Arbeitsstelle angeboten wurde, zum Beispiel. Ich glaube, wenn wir bewusst nach solchen Segnungen in unserem Leben Ausschau halten, fällt es uns leichter, großzügig zu sein.

„Wir bestreiten unseren Lebensunterhalt mit dem, was wir bekommen, und wir leben von dem, was wir geben“, soll Winston Churchill gesagt haben. Auch ich habe erlebt, dass Segen zurückkommt, wenn wir von unserem Überfluss abgeben. Sei es Zeit oder Geld. Als unsere ältesten Kinder drei Jahre alt waren, habe ich mit zwei Freundinnen eine Gruppe gegründet, in der gesungen, gebastelt und Geschichten von Gott erzählt werden. Berufsbedingt zog ich mich nach einiger Zeit zurück. Ich bin allen Mitarbeitern so dankbar, dass sie diese Arbeit seit weit über zehn Jahren fortführen. Sie haben unseren Kindern damit ein stabiles Glaubensfundament auf den Weg gegeben. Dafür verschenken sie jeden Mittwochnachmittag etwas von ihrer freien Zeit. Eine von ihnen fährt außerdem seit Jahren regelmäßig mit ihrem Mann nach Peru, wo sie als Architekten das Missionskrankenhaus Diospi Suyana und die dazugehörigen sozialen Einrichtungen ehrenamtlich unterstützen. Egal, in welcher Lebenssituation wir uns befinden, jeder von uns hat die Möglichkeit, etwas von Gottes Großzügigkeit in die Welt zu bringen. Sei es als Entwicklungshelferin, Kindergottesdienstmitarbeiter oder bei der liebevollen Erziehung unserer Kinder. Manche müssen aufpassen, sich dabei nicht zu überfordern. Andere brauchen den Wink mit dem Zaunpfahl, damit sie erkennen, wo Not am Mann oder an der Frau ist. Deshalb sind wir nicht allein auf der Welt, sondern haben Menschen um uns, die uns auch mal Wegweiser sein können.