Kapitel 9
Juli war völlig durch den Wind, als sie am Morgen in seine Wohnung zurückkehrten. Sie hatten Nils nach Hause gebracht, und es war wohl gut, dass der kaum noch die Augen offen halten konnte. So bekam er vielleicht wenigstens ein paar Stunden Schlaf, trotz der Sorge um Jan. Immerhin war Nils’ Wut jetzt verraucht. Irgendwann während der langen Stunden des Wartens war es deshalb fast zum Streit gekommen.
Ja, Juli konnte durchaus nachvollziehen, dass Nils sauer auf Jan gewesen war. Das war er selbst ja auch, wenn auch aus völlig anderen Gründen. Jan verkroch sich in seinem Kummer wieder einmal irgendwo allein und lief vor seinen Freunden weg, statt sich mit seinen Problemen an sie zu wenden. Dabei sollte er es inzwischen wirklich besser wissen. Nils hingegen war vor allem wütend gewesen, weil Jan ihm nicht vertraute, und das wiederum wurmte Juli ganz gewaltig. Als Nils seinem Ärger laut Luft gemacht hatte, war es Juli sehr schwer gefallen, ihn nicht anzuschnauzen. Aber schließlich hatte er es doch geschafft, und Nils nur gefragt, wie es ihm im umgekehrten Fall gegangen wäre. Das hatte ihn ziemlich schnell wieder runtergebracht, die Wut war verschwunden und zurück blieb die Sorge um Jan.
Juli konnte sich nur allzu gut vorstellen, was Jan gedacht haben musste. Wenn er Lars in einer solchen Situation erwischen würde – sein Herz zog sich bei dem Gedanken schmerzhaft zusammen. Ihre Beziehung war einfach noch zu neu. Da waren zwar offenbar auch auf Lars’ Seite Gefühle im Spiel, aber Juli hatte keine Ahnung, wie tief das wirklich ging und ob er Lars in jeder Hinsicht vorbehaltlos vertrauen konnte. Der hatte ihm zwar gesagt, dass er keinen anderen wollte und verliebt war, aber etwas Ähnliches hatte Juli von seinem Ex damals auch gehört, und trotzdem hatte der ihn betrogen. In der Beziehung war Juli nun mal ein gebranntes Kind. Daher ja, er konnte Jan gut verstehen.
Das änderte aber nichts daran, dass Juli es nicht okay fand, was sein bester Freund da abzog. Verdammt, hatte Jan denn gar nichts dazu gelernt? Er musste doch wissen, dass sie sich alle riesige Sorgen machten. Während Lars mit der Agentur telefonierte, versuchte Juli es nochmal auf Jans Handy, doch es meldete sich wieder nur die Mailbox und auf die Textnachrichten hatte Jan auch nicht reagiert. Frustriert gab Juli es für den Moment auf und konnte einfach nur hoffen, dass bei seinem Freund alles okay war.
Während er rasch im Büro Bescheid sagte, dass er einen Tag frei brauchte, beendete auch Lars sein Telefonat und fasste nach Julis Hand. »Lass uns ins Bett gehen. Im Moment können wir nichts tun außer abzuwarten.«
»Mir ist jetzt nicht nach Sex!«, erwiderte Juli scharf und zog seine Hand zurück, bereute seine Reaktion aber sofort, als er sah, dass Lars die Lippen zusammenpresste und tief Luft holte.
»Stell dir vor, mir auch nicht! Wir sind beide übermüdet und machen uns wegen Jan Sorgen, also lass uns versuchen, ein paar Stunden zu schlafen.« Lars drehte sich abrupt um, ohne eine Antwort abzuwarten.
Innerlich fluchte Juli und folgte ihm dann sofort. »Es tut mir leid«, entschuldigte er sich und schlang von hinten die Arme um Lars. Der seufzte und schaute ihn über die Schulter an. »Mir auch.«
»Ich wollte dich nicht so anfahren«, murmelte Juli und gab seinem Freund einen sanften Kuss.
Wieder seufzte Lars leise und nickte. »Das wollte ich auch nicht. Wir sind im Moment wohl beide etwas gereizt.«
Juli küsste ihn noch mal und ließ ihn dann zögernd los. Schweigend zogen sie sich aus und krochen ins Bett. Diesmal war es kein angenehmes Schweigen, und Juli wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Er zog Lars eng an sich und war froh, als sein Freund es zuließ.
»Es tut mir wirklich leid«, murmelte er. »Sei bitte nicht sauer.«
Juli spürte und hörte, wie sein Geliebter tief Luft holte. »Ich bin nicht sauer. Eher traurig, weil du immer noch nicht kapiert hast, dass es mir nicht nur um Sex geht.«
»Doch, das habe ich, und ich weiß nicht, was mich da eben geritten hat. Denn eigentlich war mir klar, was du gemeint hast. Ich …« Juli suchte vergeblich nach den richtigen Worten und war erleichtert, als Lars sich enger an ihn kuschelte.
»Schon okay. Lass uns jetzt einfach schlafen.«
Juli hoffte aus tiefstem Herzen, dass es wirklich in Ordnung war, aber sie waren im Moment wohl beide zu müde, um jetzt noch lange darüber zu reden. Wenigstens war Lars nicht einfach gegangen, und wenn sie ausgeschlafen hatten, würde er sich noch mal richtig entschuldigen. Doch jetzt brauchten sie erst einmal Schlaf, und später konnten sie dann in Ruhe reden. Er zog Lars noch ein wenig enger an sich, vergrub das Gesicht in den weichen Haaren und entspannte sich allmählich. Trotzdem lag er noch eine ganze Weile wach und lauschte auf Lars’ Atem, der jetzt tief und ruhig ging, nachdem er eingeschlafen war. Es war ein schönes Gefühl, ihn so nah bei sich zu haben.
***
Als Lars einige Stunden später aufwachte, musste er dringend aufs Klo, deshalb löste er sich vorsichtig aus Julis Umarmung. Der brummte unwillig, schlief dann aber weiter, während Lars aufstand und ins Bad ging. Beim Händewaschen schaute er sich einen Moment lang im Spiegel an und seufzte dabei. Er sah genauso fertig aus, wie er sich fühlte. Ausgeschlafen hatte er nicht, aber er wollte nicht noch mal ins Bett gehen. Es war fast drei Uhr nachmittags, und er würde völlig aus dem Rhythmus geraten, wenn er sich jetzt noch mal hinlegte.
Nach einer kurzen Dusche zog er sich im Schlafzimmer leise an, um Juli nicht zu wecken. Während er Kaffee machte, musste er wieder an die Reaktion seines Freundes denken. Auch wenn Lars es nicht zugegeben hatte, das hatte ihn ziemlich verletzt. Er hatte eigentlich gedacht, es wäre längst geklärt, dass es zwischen ihnen ernst war. Julis Reaktion ließ da aber etwas anderes vermuten, und das verursachte Lars ein ziemlich flaues Gefühl im Magen.
Was war das für Juli? Doch nur Bettsport? Okay, Juli hatte ihm gesagt, dass er in ihn verliebt war. Aber war er das auch so richtig? Oder war das eher nur verknallt sein? Ich bin bis über beide Ohren in dich verliebt, falls du das noch nicht gemerkt hast
. Das waren Julis Worte beim DVD-Abend gewesen. Nur was genau bedeutete das? Waren das Gefühle, die tiefer gingen, so wie bei ihm selbst? Oder ging es Juli doch nur um eine heiße Affäre? Bei dem Gedanken wurde Lars ganz anders.
Was, wenn Juli ihm in einigen Wochen den Laufpass geben würde? Lars hatte nicht vorgehabt, sich zu verlieben, aber es war passiert. Er liebte Juli. Die Angst, dass der andere Mann diese Gefühle vielleicht nicht erwiderte, schnürte ihm die Kehle zu. Seine Hand krampfte sich um den Kaffeebecher, ohne dass er es richtig wahrnahm. Er holte tief und zittrig Luft.
»Scheiße! Wie siehst du denn aus? Hat Nils angerufen? Ist was mit Jan? Was ist passiert?« Lars hatte Juli nicht bemerkt, bis der ihn an den Schultern fasste, während er ihn mit Fragen bombardierte.
»Du bist passiert«, brachte er heraus, ohne Juli anzusehen. »Du hättest das auch von mir gedacht, oder?«
»Was meinst du?«, fragte Juli und klang ziemlich verwirrt.
»Wenn du an Jans Stelle wärst und ich an der von Nils … Du hättest das Gleiche gedacht, oder? Dass ich fremdgehe.«
»Keine Ahnung. Ja, wahrscheinlich schon. Hör mal, ich –«
»Schon gut.« Das tat unglaublich weh und er wollte den Rest nicht hören. Lars schluckte den harten Kloß in seinem Hals hinunter. Ganz sicher würde er jetzt nicht anfangen zu heulen. »Ich habe nichts von Nils oder Jan gehört.« Mit einem Schritt zurück machte er sich von Juli los. »Ich fahre in die Firma.«
»Wieso denn das? Ich dachte, du hast dir den Rest des Tages frei genommen?«
»Hatte ich, aber ich muss erst mal hier raus.«
»Warum? Was zum Teufel ist denn los?«, wollte Juli wissen und hielt Lars sanft am Arm fest.
»Was zum Teufel los ist?« Zorn kochte in Lars hoch. »Bei mir offenbar mehr als bei dir! Du denkst, es geht mir nur um Sex? Du würdest einfach glauben, ich gehe fremd, ohne auch mal nur zu fragen? Scheiße! Du kapierst es einfach nicht, oder?«
»Nein, im Moment kapiere ich ehrlich gesagt gar nichts!« Jetzt wurde auch Juli laut. »Wovon redest du?«
Lars schüttelte nur den Kopf, machte sich los und ging in den Flur. Als er sich nach seinen Schuhen bückte, war Juli schon neben ihm.
»Das ist deine Antwort? Du haust einfach ab?«
Plötzlich fühlte sich Lars total ausgelaugt. Er richtete sich auf und lehnte sich an die Wand. »Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll, Juli.«
»Wie wäre es denn mit reden?«
»Was nützt mir reden, wenn ich dich liebe und du mich nicht? Daran ändert reden gar nichts.«
Einen Moment lang war es so still, dass man wahrscheinlich eine Stecknadel hätte fallen hören können. »Du Idiot«, stieß Juli dann hervor. »Du bist wirklich ein Idiot.« Gleich darauf lag sein Mund fordernd auf dem von Lars, während er ihn an sich zog.
Lars wollte sich wehren und konnte es einfach nicht. Er sollte Juli besser nicht noch näher an sich heranlassen, weder auf emotionaler noch auf körperlicher Ebene, aber er kam einfach nicht dagegen an. Ihn ganz nah zu spüren, ihn zu küssen und sich an ihn zu schmiegen, das war in diesem Moment alles, was er wollte.
»Hast du
es jetzt kapiert?«, fragte Juli leise an seinem Ohr, als sie wieder halbwegs ruhig atmeten.
Lars grinste und genoss das Gewicht von Julis warmem Körper auf seinem eigenen. »Du meinst, dass ich ein Idiot bin? Ja, ich glaube, das habe ich begriffen.«
»Bist du. Aber ein süßer Idiot und meiner.« Juli stützte sich ab und schaute ihn an. Bei diesem Blick hätte es der Worte gar nicht bedurft, die tiefen Gefühle waren offensichtlich. Es war trotzdem schön, es zu hören.
»Ich liebe dich«, flüsterte Juli und küsste ihn zärtlich.
»Ich dich auch«, gab Lars glücklich zurück, als sie den Kuss beendeten.
»Das will ich auch hoffen.« Juli küsste ihn nochmal, dann zog er sich vorsichtig aus Lars zurück, legte sich neben ihn und nahm ihn fest in seine Arme. »Reden hilft eben manchmal doch«, murmelte er in das verschwitzte Haar.
»Hm. Tut mir leid.« Lars hauchte seinem Geliebten einen Kuss auf die nackte Schulter.
»Versprich mir, dass du es mir das nächste Mal gleich sagst, wenn etwas ist, okay?«
»Ja, okay, mache ich. – Juli?«
»Hm?«
»Da wäre noch was.«
»Was denn?«
»Ich muss dringend unter die Dusche. Kommst du mit?«
Einen Moment lang hatte sich Juli neben ihm deutlich angespannt, doch jetzt lachte er leise. »Noch fünf Minuten, okay? Ich will dich jetzt noch nicht loslassen.«
»Hm, einverstanden«, murmelte Lars und kuschelte sich an ihn.
»Ich hab fast ein schlechtes Gewissen«, sagte Juli leise. »Mein bester Freund ist wie vom Erdboden verschluckt, und ich könnte gerade trotzdem die Welt umarmen.«
»Geht mir genauso. Ich hoffe nur, Jan taucht unbeschadet wieder auf, und das bald, sonst dreht Nils durch.«
***
Es vergingen endlos lange Tage, bis sie von Jans Eltern endlich Entwarnung bekamen. Die wussten zwar nicht, wo er war, aber er hatte gemailt, dass es ihm gut ging. Juli hätte seinem Freund am liebsten den Hals umgedreht. Er ahnte mittlerweile, wo Jan steckte, aber er behielt dieses Wissen für sich, so schwer es ihm auch fiel. Denn wenn er es Nils erzählte, würde der sich womöglich in den nächsten Flieger setzen, so verzweifelt, wie er war. Falls Jan wirklich auf den Jungferninseln war, würde Nils vergeblich hinreisen. Juli war mal mit seinen Freunden da gewesen, und Nils würde Jan dort nur finden, wenn er zufällig über ihn stolperte. Was wahrscheinlich nicht noch mal passieren würde.
Aber vor Lars wollte er seine Vermutung nicht mehr länger verheimlichen. Als sie am Samstagmorgen zusammen frühstückten, seufzte Juli. »Schatz, ich muss dir was sagen.«
»Oh oh, das hört sich nicht gut an.«
»Ist es auch nicht, denn wenn ich dir das erzähle, bringt dich das in eine ziemliche Zwickmühle gegenüber Nils.«
»Also geht es um Jan. Hat er sich bei dir gemeldet?«
»Nein, aber ...« Juli fing an zu reden, und nachdem er Lars im Internet eine Karte von den Inseln gezeigt hatte, stimmte der seinem Geliebten zu.
»Du hast recht. So schwer mir das auch fällt, das behalten wir besser für uns. Dort würde Nils ihn wahrscheinlich nie finden. Besser, wir warten ab, bis Jan sich endlich bei ihm meldet. Was hoffentlich bald ist, denn ich kann mir das nicht mehr sehr lange anschauen.«
Juli nickte bedrückt. Aber was blieb ihnen anderes übrig? Letztendlich dauerte es drei lange Wochen, und Nils war so kurz vorm Durchdrehen, dass sie immer öfter davon redeten, ihm doch von Julis Vermutung zu erzählen. Doch dann kam endlich der ersehnte Anruf, wenn auch nicht von Nils, sondern von seinem Schwager, denn Nils war bereits dabei, seine Reise zu organisieren.
Viel Zeit hatten sie nicht bis zum Abflug der Spätmaschine nach Puerto Rico, so dass Lars auf der Autobahn ordentlich Gas geben musste. Zum Glück war die Strecke frei und sie kamen gut voran. Einen Stau konnten sie jetzt wirklich nicht gebrauchen. Kurz vor der Ausfahrt zum Flughafen fasste Juli sich ein Herz und drehte sich halb zu Nils um. Eigentlich hätte er schweigen können, aber das war nicht seine Art. Als er dem Freund erzählte, dass er vermutet hatte, wo Jan war, tickte Nils fast aus.
»Du wusstest das die ganze Zeit und lässt mich wochenlang schmoren? Warum zum Teufel hast du nichts gesagt?!«
»Ich kann verstehen, dass du sauer bist«, erwiderte Juli sehr ruhig. »Aber ich war mal mit dort und wusste, dass du ihn allein niemals gefunden hättest. Sollte ich dich voller Hoffnung in die Karibik fliegen lassen, nur damit du dann nach zwei oder drei Wochen verzweifelt und unverrichteter Dinge wieder hier auftauchst? Dazu mag ich dich zu sehr.«
Nils ließ noch einige Flüche vom Stapel, doch zum Glück fuhren sie in diesem Moment auf das Flughafengelände, und es blieb einfach keine Zeit mehr, darüber zu streiten. Sobald das Gepäck eingecheckt war, eilten sie zur Sicherheitskontrolle. Nils blieben nur noch wenige Minuten, bis er am Gate sein musste, der Flug war bereits zum zweiten Mal aufgerufen worden. Er drückte Lars kurz und fest an sich, für Juli hatte er nur einen wütenden Blick und einen kurzen Abschiedsgruß übrig. Juli nahm es einfach hin und wünschte Nils viel Glück.
Hand in Hand kehrte er mit Lars zum Auto zurück. »Ich hoffe, die beiden können das klären«, meinte er leise, während sie sich auf den Heimweg machten.
Lars fasste nach seiner Hand und hielt sie fest. »Ich auch, und ich hoffe, dass die beiden genauso glücklich werden wie wir.« Er warf Juli einen kurzen Seitenblick zu, lächelte ihn an und drückte sanft seine Finger. »Ich liebe dich.«