1910–1917

Urteil des Militärbezirksgerichts Odessa, Stadt Jekaterinoslaw, vom 22. März 1910:

Wegen der Zugehörigkeit zu einer übelgesinnten Bande, die zur Durchführung von Raubüberfällen gebildet wurde, und wegen zwei Raubüberfällen auf ein Wohnhaus … wird Nestor Machno zum Tod durch Erhängen verurteilt.

Aus Machnos Aufzeichnungen

Ab dem 26. März 1910 wurden die Genossen und ich in der Todeszelle untergebracht.

Diese Todeszelle mit der niedrigen gewölbten Decke, 2 x 5 Meter groß, und noch drei gleiche Zellen befanden sich im Keller des Jekaterinoslawer Gefängnisses. Die Häftlinge, die in dieser Todeszelle saßen, fühlten sich mit einem Bein im Grab. Wir hatten das Gefühl, uns krampfhaft am Rande der Erdkugel festzuklammern, ohne uns halten zu können.

Die zum Tode Verurteilten verloren nach und nach, ohne es zu merken, jegliche Verbindung zur Außenwelt. Ob im Sitzen, Stehen oder Gehen, dachten sie nur an ihre Hinrichtung. Sie versuchten, in sich die Kraft zu finden, dem Henker mit Standhaftigkeit und Mut gegenüberzutreten. Dies war der letzte Wunsch, der Traum, der größte Trost für alle, die bewusst den Weg des revolutionären Kampfes gewählt hatten.

Es gab natürlich auch solche – nicht nur unter den Kriminellen, sondern auch unter den Revolutionären –, die ihre Taten bereuten, je näher die letzten Minuten des Lebens rückten. Reumütig fanden sie nicht zu ihrem alten Mut zurück, konnten sich mit dem Gedanken an den Tod nicht abfinden: Sie begannen zu weinen und den Verstand zu verlieren. Auch wenn es unter den Revolutionären nur wenige davon gab, durfte man sie wegen der großen Last, die auf sie eingestürzt war, nicht verachten. Man musste versuchen, sie moralisch zu unterstützen, sie nicht sich selbst zu überlassen.

Im Frühling 1910 saßen im Jekaterinoslawer Zuchthaus viele zum Tode Verurteilte. Allein in unserer Zelle Nr. 23 befanden sich außer Bondarenko, Kiritschenko, Orlow und mir noch sieben Menschen. Unsere Tage vergingen in der Erwartung, abgeholt und zum Galgen geführt zu werden. Wir waren jung und voller Kraft und unendlich traurig beim Gedanken daran, was wir im Namen unseres Ideals alles hätten verwirklichen können. Aber keiner von uns fürchtete sich – weder vor dem Henker, noch vor dem Schafott –, denn wir wussten, worauf wir uns eingelassen hatten.

Mein Kamerad Bondarenko war sich sicher, dass er bald gehängt würde. Aber zu mir sagte er: »Nestor, du hast eine Chance, dass die Todesstrafe durch Lebenslänglich ersetzt wird. Und dann wirst du durch die kommende Revolution befreit werden, und ich bin tief davon überzeugt, dass du die Fahne der Anarchie sehr hoch halten wirst.«

Dann haben Kiritschenko und ich ihn unterbrochen und seine Worte angezweifelt. Wir sprachen über meine fehlenden geistigen Voraussetzungen und meine körperliche Schwäche, zudem litt ich damals an Magenschmerzen und konnte kaum etwas essen.

Doch Bondarenko fuhr fort: »Wenn du es nicht tust, bist du ein Verräter. Denn um den Glauben und die innere Kraft zu bewahren, um die Henker zu hassen und zu handeln, benötigt man keine großen geistigen oder körperlichen Fähigkeiten. Der Wille und die Ergebenheit für die Sache reichen aus.«

Unsere Gespräche dauerten Stunden. Wir redeten über die Vergangenheit und die Zukunft, nur nicht über die Gegenwart. Trotzdem konnten diese Debatten den Gedanken an die Hinrichtung, der über allem schwebte, nicht verdrängen.

Ich verspürte den wahnsinnig starken Wunsch, all jene, die andere zum Tode verurteilen und dann bis zur Schicksalsstunde warten und hoffen lassen, den grauenvollsten Qualen auszusetzen.

Doch meine Hände und Füße waren in Ketten. Ich konnte denken, aber nicht handeln.

Am Abend des 26. April 1910 tauchten die Wächter wieder in unserer Zelle auf und führten meinen besten Freund Bondarenko ab. Mein anderer Kamerad, Kiritschenko, wurde krank und an jenem Abend ins Gefängniskrankenhaus verlegt. Ein Sanitäter warnte ihn, dass er zur Hinrichtung abgeholt würde. Kiritschenko beschloss, Gift zu nehmen, und starb im Bett. Am nächsten Tag kamen die Eltern der beiden Genossen zu Besuch. Es gibt keine Worte, um das Leid der Mütter und Väter zu beschreiben, als sie von deren Tod erfuhren. Sie kamen von weit her und brachten auch meine Mutter mit. Es war unsagbar traurig. Meine Mutter fragte mich, wie viel Geld sie mir dalassen solle. Ich antwortete, dass sie mir nichts zu geben bräuchte: »Ich weiß nicht, was mit mir geschieht. Vielleicht bin ich schon heute Abend an der Reihe.« Sie antwortete: »Verlier nicht den Mut, bleib stark. Du bist weder der Erste noch der Letzte, der hier sterben muss.« Mit diesen Worten auf den Lippen und den Tränen auf den Wangen verabschiedete sie sich von mir.

Lange wartete ich, immer noch in derselben Zelle, auf meine Hinrichtung.

Telegramm vom 5. April 1910

von Artilleriegeneral van der Vliet, Oberbefehlshaber

des Heeres im Landkreis Odessa, an den Präsidenten des

Russischen Reiches und Innenminister Stolypin

Nestor Machno ist der Zugehörigkeit zu einer Bande, die zur Ausführung räuberischer Überfälle gebildet wurde und zweier räuberischer Überfälle für schuldig befunden worden. Diese Verbrechen hatten kein Blutvergießen zur Folge. Den Sachumständen entsprechend schlage ich vor, die Hinrichtung durch lebenslange Zwangsarbeit zu ersetzen.

Telegramm vom 7. April 1910

vom Präsidenten des Russischen Reiches und

Innenminister Stolypin an den Artilleriegeneral van der Vliet,

Oberbefehlshaber des Heeres im Landkreis Odessa

Für die Urteilsminderung in dem vorgeschlagenen Maße sehe ich keine Hindernisse.

Aus Machnos Aufzeichnungen

Eines Tages war meine Geduld zu Ende, und ich schrieb einen Protestbrief an den Staatsanwalt, in dem ich fragte, warum ich nicht zum Galgen geschickt würde. Die Antwort bekam ich durch den Gefängnisdirektor: Aufgrund meines jugendlichen Alters wurde ich zur Katorga verurteilt. Er sagte aber nicht, für wie viele Jahre. Bald danach erkrankte ich schwer an Typhus und lag zwei Monate im Gefängniskrankenhaus. Von dort schrieb ich an meine Mutter. Sie antwortete, dass sie beim Gouverneur gewesen war (er besiegelte mit seinen Unterschriften die Todesurteile) und dort erfahren hatte, dass die Todesstrafe aufgrund des jungen Alters durch lebenslange Katorga ersetzt worden war.

Pjotr Arschinow, russischer Anarchist

Die Strafe verbüßte Machno im Moskauer Zentralen Deportationsgefängnis (genannt Butyrka). So schwer und hoffnungslos das Leben in der Katorga auch war, war Machno dennoch bemüht, seinen Aufenthalt dort zur Förderung seiner Bildung zu benutzen, und er legte in dieser Hinsicht einen ungemeinen Eifer an den Tag. Er lernte russische Grammatik, beschäftigte sich mit Mathematik, mit russischer Literatur, Kulturgeschichte und politischer Ökonomie. Das Gefängnis war eigentlich die einzige Schule, in der Machno sich seine historischen und politischen Kenntnisse erworben hat.

Aus Machnos Aufzeichnungen

Am 2. August 1911 traf ich im Butyrka-Gefängnis ein. Ich wurde in die Zelle Nr. 4 im 7. Flur eingewiesen. Jede Zelle war mit zwei bis drei Menschen belegt, aber wir Ukrainer wurden voneinander getrennt, weil wir als Aufrührer galten. Ich kam in eine Zelle mit dem Sozialrevolutionär Josif Aldir, einem litauischen Juden aus Kauen. Unsere Temperamente passten ausgezeichnet zueinander, und wir blieben zusammen wie Brüder bis zur Revolution.

Im Gefängnis befanden sich 3.000 Häftlinge und einige Hundert zweibeinige Hunde – die Wärter.

Nachdem ich mich in der Zelle eingelebt hatte, widmete ich meine Zeit dem Lesen. Ich verschlang ein Buch nach dem anderen, las alle russischen Klassiker. Besonders von Belinskij und Lermontow war ich begeistert. Diese Bücher sammelten sich im Gefängnis dank der Generationen von politischen Häftlingen, die auf diese Weise eine hervorragende Bibliothek aufgebaut hatten, die wesentlich umfangreicher war als in vielen Provinzstädten. Ich brachte mir die russische Geschichte bei, lernte auch die Programme der sozialistischen Parteien und sogar die Berichte von ihren Untergrund-Parteitagen kennen. Später fiel mir Gegenseitige Hilfe von Kropotkin in die Hände. Ich verschlang es und trug das Buch immer bei mir, um es mit den Kameraden zu erörtern.

Leider wurde mein leidenschaftlicher Bildungsdrang bald durch eine langwierige und schwere Krankheit – eine Lungenentzündung – unterbrochen, weshalb ich ins Krankenhaus kam. Zuerst wurde bei mir eine Rippenfellentzündung festgestellt, drei Monate später Lungentuberkulose. Das war sehr ernst, und ich blieb acht Monate im Krankenhaus. Nachdem ich mich ein bisschen kuriert hatte, setzte ich das Studium meiner Lieblingsdisziplinen fort: Geschichte, Geografie und Mathematik.

Bald lernte ich den Genossen Arschinow kennen, über den ich früher vieles gehört hatte. Diese Begegnung war für mich eine große Freude. Er war einer der wenigen Anarchisten im Gefängnis, die der Praxis den Vorrang gaben. Sogar im Gefängnis blieb er aktiv und pflegte die Verbindung zur Außenwelt. In allen Angelegenheiten belästigte ich ihn mit meinen Notizzetteln. Er zeigte sich sehr beherrscht und kam mir immer entgegen. Bis zum Ende der Haftzeit hatten wir ein enges Verhältnis, und danach wurde dieses Verhältnis noch enger.

Pjotr Arschinow, russischer Anarchist

Machno, der damals noch sehr jung war, hat seine Gesundheit im Gefängnis eingebüßt. Hartnäckig wie er war, konnte er sich nicht mit der völligen Rechtlosigkeit der Persönlichkeit abfinden, die jeder Gefangene in der Katorga über sich ergehen lassen muss; stets hatte er Streit mit der Gefängnisobrigkeit und wurde immer wieder mit Kerker bestraft; durch dieses Sitzen im kalten Kerker hat er sich auch seine Lungentuberkulose zugezogen. Für »nicht-lobenswertes Betragen« musste er im Verlauf von neun Jahren, bis zum letzten Tag der Haft, Ketten an Händen und Füßen tragen.

Aus Machnos Aufzeichnungen

Mein Gesundheitszustand besserte sich dank der gut organisierten Selbsthilfe unter den politischen Häftlingen. Wir alle bekamen Geld vom Roten Kreuz und konnten damit im Magazin Lebensmittel kaufen. Die Leitung wusste davon nichts, da uns das Geld illegal übergeben wurde. Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre und Anarchisten arbeiteten in dieser Sache ohne Probleme zusammen. Die Summen, die wir bekamen, waren bescheiden, aber ausreichend, um sich normal zu ernähren. Schon aufgrund meiner Krankheit bekam ich bessere Nahrung als die anderen. Trotz allem verbrachte ich in der folgenden Zeit zwei bis drei Monate pro Jahr im Krankenhaus, um mich auszuruhen und ein wenig zu kurieren, was besonders nach den »Bestrafungen« notwendig war. Sie wurden oft nach Schriftwechseln mit der Außenwelt oder Störungen der Gefängnisordnung verhängt. Es gab zwei Arten von Bestrafungen: Isolation oder Kerker. Einmal musste ich einen ganzen Monat im Kerker verbringen; danach ging es direkt ins Krankenhaus. Und was ein- oder zweiwöchige Strafen angeht, so bekam ich die sehr häufig.

1916 begannen wir Ukrainer von der Rückkehr in unser Land in naher Zukunft zu träumen. Wir besprachen die spezifisch ukrainischen Probleme. Im Allgemeinen hielt ich mich abseits, mischte mich aber, ohne zu zögern, häufig ein und war einer Meinung mit meinen Landsleuten. Ich kann nicht sagen, woher meine Sympathien für die Ukraine kommen; natürlich habe ich viel über ihre Geschichte gelesen. Meine Mutter erzählte mir oft über das Leben der Saporoger Kosaken, über ihre einstigen freien Gemeinschaften. Ich hatte auch Taras Bulba von Gogol gelesen und war begeistert von den Sitten und Traditionen der Menschen jener Zeit. Doch niemals hätte ich vermutet, dass ich mich eines Tages als deren Nachkomme fühlen würde und sie für mich zur Quelle der Inspiration für die Wiedergeburt dieses freien Landes werden würden.

Aufgrund meiner Überzeugungen hielt ich mich von den separatistischen Tendenzen fern und ließ mich nicht von der Idee eines unabhängigen ukrainischen Staates verführen, trotz des besonderen Gefühls der Verwandtschaft, das ich gegenüber meinen ukrainischen Mitgefangenen empfand.

Pjotr Arschinow, russischer Anarchist

Während seines Aufenthaltes im Zuchthaus unterschied er sich in nichts von den anderen, er lebte wie alle anderen, trug Ketten, hatte Kerker-Strafen zu verbüßen, musste strammstehen, wenn die Kontrolle kam. Das Einzige, wodurch er die Aufmerksamkeit auf sich lenkte, war seine Unrast. Stets hatte er Streit mit irgendjemandem, oder es waren irgendwelche Anfragen, die er zu stellen hatte, oder er überschüttete das Gefängnis mit seinen Schreibereien. Es war seine Leidenschaft, über politische und revolutionäre Themen zu schreiben. Außerdem liebte er es, während der Gefangenschaft Verse zu schreiben, und auf diesem Gebiet hatte er größere Erfolge zu verzeichnen als in Prosa. Er legte großen Wert darauf, zu den Anarchisten zu gehören, denn er war überzeugt, dass es keine erhabeneren und schöneren Ideen als die anarchistischen gäbe. Als der imperialistische Krieg entbrannte, war ihm jedes patriotische Fieber, an dem, nebenbei bemerkt, wohl gut die Hälfte der politischen Gefangenen krankte, vollkommen fremd. Kropotkins Aufrufe, in denen er eine der kämpfenden Parteien unterstützte, betrübten ihn sehr, konnten ihn aber keineswegs schwankend machen.