1920–1921

Wsewolod Volin, russisch-französischer Anarchist

Gegen Mitte Januar 1920 erklärten die Bolschewiki Machno und die Kämpfer seiner Armee aufgrund ihrer Weigerung, sich an die polnische Front zu begeben, als vogelfrei. Mit Hilfe zahlreicher Aufklärungskommandos nahm die Rote Armee planmäßig die Dörfer und Ortschaften ein, wo die machnowistischen Abteilungen schwach oder nicht vorhanden waren. Die bolschewistischen Truppen eroberten diese Ortschaften ohne Verteidigung und besetzten sie fast ohne Kampf. Überall, wo die Bolschewiki sich niederließen, begannen sie sofort den »Krieg«, nicht gegen die Aufständische Armee, sondern gegen die bäuerliche Bevölkerung im Allgemeinen. Sofort begannen Verhaftungen und Hinrichtungen in Mengen. Die Denikinsche Repression verblasste vor der der Bolschewiki.

Das Dorf Gulajpole ging viele Male von einer Hand in die andere. Nebenbei sei bemerkt, dass während der ersten Überfälle Machno – der krank und ohne Bewusstsein war – so manches Mal knapp daran vorbeikam, in die Hände des Feindes, der ihn suchte, zu fallen. Er dankte seine Rettung – und auch seine Heilung – der famosen Hingabe der Bauern, die sich oft freiwillig opferten, um den Kranken an einen sicheren Ort zu transportieren.

Galina Kusmenko, Machnos zweite Ehefrau; Tagebuch

19. Februar 1920

Heute Morgen haben wir das Dorf Husarki verlassen und erreichten um 11 Uhr morgens das Dorf Konskije Rasdory. Hier haben unsere Burschen um die vierzig »Rote« entwaffnet. Einige Männer aus dem Dorf haben sich uns angeschlossen. Wir hielten uns hier nicht lange auf – etwa drei Stunden, und zogen dann nach Fjodorowka.

20. bis 21. Februar

Haben am Nachmittag Fjodorowka verlassen. Unterwegs trafen wir unseren Kundschafter, der uns mitteilte, dass sich in Gulajpole etwa 200 bis 300 Rotarmisten aufhielten. Die Unseren beschlossen, die Roten in der Nacht zu überfallen und zu entwaffnen. Gegen 24 Uhr fuhren wir los. Unterwegs wurden wir über die Position der feindlichen Truppen unterrichtet. Schnell sind wir nach Gulajpole hineingefahren, und alle kampftauglichen Burschen gingen sofort ins Zentrum und dann auch weiter, um die ungebetenen Gäste zu entwaffnen. Die Rotarmisten protestierten nicht wirklich und gaben geschwind die Waffen ab. Dagegen setzten sich die Kommandeure bis zum letzten Atemzug zur Wehr und wurden auf der Stelle umgebracht. Somit haben 70, 75 von unseren Burschen in wenigen Stunden 450 bis 500 Feinde überwältigt, fast alle Kommandeure getötet, viele Gewehre, Patronen, Maschinengewehre, zweirädrige Wagen, Pferde und anderes mehr mitgenommen. Als die Burschen mit dieser Sache fertig waren, gingen sie auseinander – manche schlafen, manche nach Hause, manche Bekannte besuchen. Auch Nestor und ich fuhren ins Zentrum. Haben das eine oder andere gekauft, ein paar Besuche abgestattet, und kehrten in unsere Wohnung zurück. Wir wollten gerade Mittag essen, als Gawrjuscha ins Haus hineinplatzte und sagte, dass wir unverzüglich die Pferde einspannen sollten, denn aus der Richtung Pologi komme die feindliche Kavallerie. Wir haben uns schnell fertiggemacht und sind losgefahren. Im Zentrum blieben Sawka Machno (Bruder von Nestor, A.d.Hg.), Worobjow und Skromnyj. Als wir aus dem Dorf hinausfuhren, fand im Zentrum eine äußerst heftige Schießerei statt. Zwei Stunden später waren wir bereits in Sanscharowka.

24. Februar

Aus Gulajpole sind die Mitglieder der Kommission für Propaganda und Erziehung nachgekommen, die es nicht geschafft hatten, mit uns wegzufahren. Sie erzählen, dass es Gerüchte gibt, dass Sawka getötet wurde. Nach dem Mittagessen verließen wir Gawrilowka und fuhren über Andrejewka nach Komar. Dort fand eine Kundgebung statt. Die Griechen wollten unbedingt den Batjko sehen, aber er weigerte sich rauszugehen.

25. Februar

Verließen Komar Richtung Bolschoj Janisel. Nachmittags zogen wir nach Majorskoje. Heute hat ein Mann aus Gulajpole das Gerücht bestätigt, dass Sawka und noch irgendein Bursche, der bei ihm war, von den Kommunisten getötet wurden.

6. März

Sind nach dem Frühstück aus Fjodorowka nach Nowosjolki gefahren. Haben uns in der alten Wohnung einquartiert. Der Hausbesitzer ist ein sehr sympathischer Mensch. Heute hat er Schnaps gebrannt und uns eingeladen. Nestor hat getrunken und sich sehr frech mir gegenüber verhalten.

7. März

Um 8 Uhr morgens fuhren wir los nach Gulajpole. Die Straße war in einem unmöglichen Zustand. Sechs Pferde schafften es nicht, eine Tatschanka zu ziehen. Noch in Nowosjolki fing der Batjko an zu saufen. In Schagarowo begann er Unsinn zu treiben – fluchte unverschämt laut, dass ihn die ganze Straße hörte, kreischte wie ein Wahnsinniger, fluchte auch im Haus vor den kleinen Kindern und Frauen. Schlussendlich setzte er sich auf ein Pferdchen und ritt nach Gulajpole. Unterwegs ist er fast in den Dreck gefallen. In Gulajpole angekommen, begannen sie unter dem Kommando des betrunkenen Batjko, unfassbare Dummheiten zu veranstalten. Die Kavalleristen begannen alle ehemaligen Partisanen, die sie auf den Straßen trafen, mit den Peitschen und Gewehrkolben zu hauen. Heute ist Sonntag, ein wolkenloser, warmer Tag, und viele Menschen sind auf den Straßen. Alle sind draußen, schauen auf die Ankömmlinge, und die Ankömmlinge – wie eine tobende wilde Horde – stürzen sich auf unschuldige Leute, schlagen sie grundlos zusammen und sagen dabei: »Das hast du davon, wenn du nicht kämpfen willst!« Zwei Burschen wurden am Kopf verletzt, einen Burschen haben sie bis zu den Schultern in den Fluss getrieben, in dem noch Eis schwamm. Die Menschen erschraken und liefen auseinander. Die Gulajpoler murren leise vor sich her, haben aber Angst, ihre Unzufriedenheit mit den Machnowzy offen auszusprechen. Alle fürchten sich … Und tatsächlich, wie sollen die – von allen möglichen Herrschern – unterdrückten, eingeschüchterten, gepeinigten, ausgeplünderten, entkräfteten Bauern gegen die Gewalttätigkeiten betrunkener Machnowzy protestieren? Wer die Macht hat, hat das Recht.

12. März

Diese Tage hielten wir uns in Gulajpole auf. Am 11. März fand eine Theateraufführung zum Gedenken an Taras Schewtschenko statt. Viele von uns waren dort. Alles verlief gut. All diese Tage wurde viel getrunken. Auch viel gestritten. Angetrunken, wurde der Batjko sehr gesprächig und war an der »Reinheit und Heiligkeit der aufständischen Bewegung« interessiert. Heute zogen wir nach Uspenowka.

13. März

Halten uns in Uspenowka auf. Batjko hat auch heute getrunken, redet sehr viel. Streift betrunken mit einem Harmonikaspieler herum und tanzt. Ein reizendes Bild. Nach jedem Wort flucht er unflätig. Nachdem er genug geredet und getanzt hatte, schlief er ein.

16. März

Morgens sind wir nach Komar gefahren. Kaum hatten wir das Dorf verlassen, erhielten wir die Nachricht, dass in Mariental eine Einheit der Weißen stationiert war, die unsere Leute, die dort Pferde tauschen wollten, beschossen und einen Burschen umgebracht hatte. Es wurde beschlossen, sofort zu diesem Weiler zu fahren und die Weißen zu schlagen. Kurz bevor wir den Weiler erreichten, sahen wir einige Leute, die zu Pferd und zu Fuß flüchteten. Schnell rückten wir in den Weiler vor und begannen, die Häuser zu beschießen. Die Fliehenden wurden eingeholt und auf der Stelle erschossen. Am Rande steckte irgendjemand Heu in Brand. In einige Häuser wurden Bomben geworfen. Das Ganze war schnell zu Ende. Es stellte sich heraus, dass es hier überhaupt keine Truppen gab, sondern nur den lokalen Selbstschutz, der unseren Kosaken getötet hatte. Für diesen unüberlegten Mord musste Mariental teuer bezahlen; fast alle Männer – mit Ausnahme von sehr alten und sehr jungen – wurden umgebracht; man sagte, dass es auch getötete Frauen gab. Etwa eine Stunde lang fühlten sich unsere Leute als Gutsherren, nahmen viele Pferde und andere Sachen mit. Nachdem wir den Weiler verlassen hatten, fanden wir in der Steppe zwei Menschen mit Gewehren, die sich im Gebüsch versteckten. Sie wurden niedergemetzelt. Wir erreichten Komar. Hier übergaben uns die Griechen einen Deutschen, der zuvor den Fluss überquert und sich bei ihnen versteckt hatte. Der wurde auch umgebracht. Das Wetter war sonnig, warm und trocken. Nach dem Mittagessen gingen wir alle am Fluss spazieren. Am Ufer haben wir ein wenig herumgetollt, den einen oder anderen mit Wasser bespritzt und gingen nach Hause. Dort erfuhren wir, dass sich, etwa 20 Werst von uns entfernt, im Dorf Andrejewka, eine bolschewistische Vergeltungseinheit aufhielt. Wir beschlossen, morgen mit ihnen unsere Kräfte zu messen.

17. März

Wir sind morgens nach Bogatyr und dann weiter nach Andrejewka gefahren. In Andrejewka stand tatsächlich die dritte Kompanie des 22. Vergeltungsregiments. Unsere Kavallerie mit Batjko an der Spitze stürmte los. Bald sagte man uns, dass unsere Leute etwa vierzig Rotarmisten gefangengenommen hatten. Als wir im Dorf eintrafen, sahen wir einen Haufen Menschen, von denen manche auf der Erde saßen und manche standen oder lagen. Unsere Burschen flitzten – auf Pferden oder zu Fuß – um sie herum. Das waren Gefangene. Vor der Erschießung wurden sie ausgezogen. Sie waren alle Großrussen, junge gesunde Kerle. Viele Bauern kamen zusammen. Sie schauten zu, wie die Gefangenen zuerst ausgezogen und dann einzeln erschossen wurden. Nachdem einige auf diese Weise erschossen wurden, stellte man die restlichen in einer Reihe auf und gab eine Maschinengewehrsalve ab. Einer versuchte zu fliehen. Er wurde eingeholt und niedergemetzelt. Die Bauern standen da und schauten zu. Schauten zu und freuten sich. Sie erzählten, wie die Truppe sich in diesen Tagen aufgeführt hatte; betrunken fuhren sie durch die Dörfer, schlugen die Bauern mit der Riemenpeitsche, schlugen zu und ließen sie nicht zu Wort kommen.

Rudolf Rocker, deutscher Publizist und Anarchist

Will man sich über den wahren Charakter jener maßlosen Verleumdungen, welche die bolschewistische Presse in jenen Jahren über Machno und seine Bewegung verbreitete, von wo sie in die kommunistische Presse der ganzen Welt übergingen, ein klares Bild machen, so braucht man bloß den Vertrag zu lesen, den die bolschewistische Regierung im Oktober 1920 mit Machno abgeschlossen hatte. Dieser Vertrag kam zustande, als die Regierung von dem Weißen General Wrangel schwer bedrängt wurde und sich deshalb zu einem Bündnis mit Machno entschließen musste. Im politischen Teil verpflichtete sich die Sowjetregierung, sofort alle gefangenen Anarchisten und Machnowzy, sofern sie die U.S.S.R. nicht mit den Waffen in der Hand bekämpft hatten, in Freiheit zu setzen und ihnen völlige Versammlungsfreiheit, Freiheit der Presse und ungestörte Mitarbeit in den Sowjets zu garantieren. Tatsächlich wurde damals eine große Anzahl bekannter Anarchisten freigelassen, aber nur, um, nachdem die militärische Gefahr beseitigt war, von Neuem verhaftet zu werden. Kann man auch nur für einen Augenblick annehmen, dass die Sowjetregierung einen so weitgehenden Vertrag mit Machno abgeschlossen hätte, wenn ihre Vertreter wirklich überzeugt gewesen wären, dass Machno in der Tat ein »Bandit«, ein »Pogromtschik«, ein »Konterrevolutionär« war?

Dass es den Machthabern im Kreml niemals ernst mit ihrem Vertrag war, zeigte sich, als mit der Niederlage Wrangels, zu der Machno nicht wenig beigetragen hatte, die letzte Weiße Armee endgültig geschlagen war. Kaum war auch diese Gefahr überwunden, da griff die Rote Armee plötzlich ihre früheren Verbündeten an, was sicher auf vorherige Verabredung geschah. Machno, der in den schweren Kämpfen mit Wrangel große Verluste erlitten hatte, war dem neuen Angriff nicht mehr gewachsen.

Michail Frunse, bolschewistischer Heerführer, Befehl vom 23. Januar 1921

Die Einheit Machnos ist qualitativ und quantitativ merklich geschwächt, nachdem unsere Truppen sie über 1000 Werst verfolgt hatten. Die Gefangenen und Überläufer berichten über einen großen Mangel an Waffen und Munition. Die Aufgabe für die Truppen, die Machno verfolgen, bleibt gleich: Machno bis zur völligen Erschöpfung treiben, um dem größten Aufständischen in der Ukraine ein für alle Mal ein Ende zu setzen.

Semjon Budjonny, Marschall der Sowjetunion, 1921 Kommandant der Ersten Roten Reiterarmee

Fast einen Monat schon jagten wir Machno, aber wir erzielten keine wesentlichen Ergebnisse. Ein Zustand der äußersten Gereiztheit erfasste mich. Innerhalb von zehn Tagen hatten unsere Truppen die reguläre, schwer bewaffnete Wrangel-Armee zerschlagen, und hier können dieselben Einheiten irgendeine Räuberbande nicht bezwingen. Wir schämten uns einander anzusehen. Es schien, als würde Machno jeden Augenblick erwischt werden, aber anstatt der Siegesmeldung erreichten uns neue unangenehme Meldungen.

Im Sommer 1921 schrumpften Machnos Truppen zusehends. Aufgrund der Neuen Ökonomischen Politik Lenins, die den Bauern gestattete, die Produkte, die ihnen über das Ablieferungssoll hinaus verblieben, im freien Handel mit Preisen des freien Marktes zu veräußern, und der versprochenen Amnestie legten immer mehr Aufständische die Waffen nieder. Aber auch immer mehr Bauern wandten sich offen gegen Machno. Sie hatten genug vom Krieg, zudem die Neue Ökonomische Politik den Interessen der Bauern durchaus entsprach.

Die Bauern ahnten weder, dass die Neue Ökonomische Politik nach sechs Jahren verboten und eine Welle der ZwangsKollektivierungen auf sie zurollen, noch dass in zehn Jahren durch die Wirtschaftspolitik und Repressalien der Sowjetischen Regierung in der Ukraine, der Kornkammer Europas, Millionen Menschen vor allem in ländlichen Gebieten (unter anderen auch mehrere Neffen und Cousins Machnos) an Hunger sterben würden. Und niemand konnte sich vorstellen, dass der von Lenin initiierte Terror in stalinistischen Säuberungen mit geschätzten 20 Millionen Opfern seine Vollendung finden würde.

Viktor Belasch, Machnos Generalstabschef

Im Dorf Issajewka im Kreis Taganrog fand die Sitzung des Armeestabs statt. Ich war dafür, in die Türkei zu gehen, Machno dagegen bevorzugte Galizien. Am Ende sind wir auseinandergegangen, ohne uns auf einen gemeinsamen Entschluss geeinigt zu haben. Der größere Teil der Truppe war auf meiner Seite. Machnos Idee wurde von 400 und meine von 700 Leuten unterstützt. Wir führten eine Kundgebung durch.

Machnos Rede bei der Kundgebung in Issajewka, Juli 1921

Der Kommunismus, den wir anstreben, beabsichtigt die Freiheit der Persönlichkeit, Gleichheit, Selbstbestimmung, Eigeninitiative, Wohlstand. Wir haben versucht, die Gesellschaft mit gewaltlosen anarchistischen Prinzipien aufzubauen. Aber die Bolschewiki haben es nicht zugelassen. Den Kampf der Ideen verwandelten sie in einen Kampf zwischen den Menschen. Der dem Volk verhasste Staatsapparat mit seinen Vertretern, Zuchthäusern usw. ist nicht liquidiert, sondern nur reorganisiert worden. Die Bolschewiki haben die Gewaltanwendung zur Rechtsnorm erklärt. Das Fundament der Gesellschaft, das die Bolschewiki gelegt haben, hat nichts mit dem Kommunismus gemein. Sie haben alle Parteien, alle Konkurrenten vernichtet. Diese halbmilitärische Sekte der Marx-Soldaten, mit ihrer blinden Disziplin, dem Anspruch auf Unfehlbarkeit, der NichtDuldung eines Widerspruchs hat einen totalitären Staat zum Ziel, ohne Freiheiten und Rechte der Bürger. Sie propagiert einen eigenartigen ideologischen Rassismus, teilt die Menschen als »unsere« und nicht »unsere« auf. Vieles grenzt an Absurdität. Sie berauben die werktätigen Menschen aller Illusionen über ein besseres Leben, sie erschaffen eine Polizei-Gesellschaft, die elendste, die ungerechteste Gesellschaft, wo jede Freude an der Arbeit, jede Schaffenslust, jede Eigeninitiative ausgeschlossen sind. Ihre Experimente werden endlos sein. Ihre Herrschaft wird eine verantwortungslose Generation an Demagogen und Diktatoren ausspucken. Sie werden alle und alles vernichten, was nicht ihrer Partei oder Ideologie entspricht. Genossen! Gebt die Waffen nicht ab! Vertraut den Bolschewiki nicht. Danke euch für alles!!!

Viktor Belasch, Machnos Generalstabschef

Die Trennung und der Abschied waren sehr dramatisch. Sie blieben nicht ohne Männertränen. Am 17. Juli 1921 trennten wir uns für immer.