5. Seltsame Vorfälle

Am Freitagmorgen war der Weg zum Schultor von einem Polizeiauto versperrt, das auf dem engen Vorplatz geparkt hatte. Noch nicht ganz wach, quetschte ich mich durch die kleine Lücke zwischen Auto und Mauer. Unglücklicherweise streifte ich mit meiner Schultasche den Außenspiegel, der sich dadurch um ein paar Grad verbog.

Oh nein! dachte ich und blickte mich nervös um, bevor mir wie Schuppen von den Augen fiel, dass ein Polizeiauto vor unserer Schule ja überhaupt nichts zu suchen hatte. Was um alles in der Welt ging hier vor?

Ich blickte mich um. Der Pausenhof war fast leer. Ich war ja auch unverschämt spät dran. Hinter den Fahrradständern bewegte sich jemand, aber ich konnte nicht erkennen, wer es war. Achselzuckend wandte ich mich der Schultür zu und streckte meine Hand nach der Klinke aus ...

... und fasste ins Leere. Die Tür wurde aufgerissen, und eine schmuckbehangene Person stolzierte klimpernd an mir vorbei. Sie sah fast aus wie Lara Croft mit ihrem armdicken, schwarzen Zopf. Janet Bonaventura. Zum Glück hatte sie mich nicht beachtet. Ich folgte ihr mit meinen Augen und entdeckte plötzlich Domenico neben den Fahrradständern. Er stand cool da in seiner James-Dean-Pose, mit Lederjacke und Zigarette und hängendem Kopf, so dass ihm das Haar ins Gesicht fiel.

Janet ging schnurstracks auf ihn zu. Ich hielt die Luft an. Die Neugier brannte fast Löcher in meine Magengegend. Janet war nur noch wenige Schritte von Domenico entfernt, als er sein Gesicht hob und einen warnenden Blick auf mich abschoss.

Sofort wirbelte ich herum, bevor seine Augen mich in einen Wackelpudding verwandeln konnten. Es war besser, von der Bildfläche zu verschwinden, als zu erfahren, dass Domenico vielleicht mit dieser zwielichtigen Janet verkehrte. Im Grunde genommen wollte ich es auch gar nicht wissen. Es hätte irgendwas Ungutes in mir aufgewühlt.

Ich kam auf den allerletzten Drücker. Herr Lenz betrat gleichzeitig mit mir das Klassenzimmer und verteilte sofort nach der Begrüßung ein langweiliges Übungsblatt mit hochkomplizierten Algebra-Formeln. Auch das noch! Mich hätte viel mehr interessiert, was dieses Polizeiauto vor unserer Schule verloren hatte. Hatten die anderen das auch gesehen?

Domenico kam eine Viertelstunde später und setzte sich cool wie immer an seinen Platz. Ich beneidete ihn echt um seine Gabe, so zu tun, als könnte ihn nichts erschüttern.

Wir begannen zu rechnen, aber die Zahlen wollten einfach nicht aufgehen. In Mathe war ich kein Held. Domenico rührte sein Blatt gar nicht an und tippte stattdessen auf seinem Handy rum. Seine Zigaretten lagen offen auf dem Tisch, fast schon auf meiner Seite. Ich schob sie vorsichtig zu ihm rüber und schielte dabei auf sein Handy-Display. TT2 stand da. Ziemlich komisch. War das eine Geheimsprache? Die konzentrierte Stille wurde jäh durch das schrille Piepsen seiner SMS unterbrochen. Der arme Herr Lenz zuckte zusammen, und seine Kreide zerbrach an der Tafel und flog in die Klasse.

Als wäre diese Störung nicht genug, folgte gleich darauf ein hartes Klopfen an der Tür. Herr Lenz runzelte ärgerlich die Stirn. Er hasste nichts mehr, als in seinen Mathematikträumen unterbrochen zu werden. Für uns wiederum war natürlich jede Abwechslung sehr willkommen.

«Entschuldigen Sie bitte!» Frau Galianis Erscheinen war allerdings nicht unbedingt das, was wir uns erhofft hatten. Das roch verdächtig nach etwas sehr Ernstem. Hinter ihr tauchte mit hochrotem und verschwitztem Gesicht Herr Biedermann, unser Hausmeister, auf.

Domenico versteckte blitzschnell sein Handy und seine Zigaretten unter dem Tisch. Frau Galianis strenges Gesicht schien ausnahmsweise Eindruck auf ihn zu machen. Etwas tief Besorgtes lag in ihren Augen, und ihre Stirnfalte war auffallend lang. Sie ging auf Herrn Lenz zu und redete leise mit ihm, während Herr Biedermann sich schnaubend an uns wandte. Seine schwarzen Knopfaugen irrten ziellos herum und wussten nicht, bei wem sie landen sollten. Seine Nasenflügel bebten, und es hätte mich nicht gewundert, wenn Rauch aus ihnen aufgestiegen wäre. Wie die meisten anderen konnte ich ihn nicht ausstehen. Sein ekliger Mundgeruch haute einen schon aus zehn Metern Distanz aus den Schuhen, und wenn man ihn grüßte, entblößte er knurrend seine ungepflegten, fauligen Zähne.

Frau Galiani wandte sich schließlich an uns und schüttelte leise den Kopf. Das alles sah nach einer bevorstehenden Katastrophe aus.

«Es tut mir leid, dass ich euren Unterricht unterbrechen muss, aber ich habe eine wichtige Mitteilung zu machen. Die Sache ist die ...» Ihre Augen glitten forschend durch die Reihen, als suchten sie etwas, was sie nicht fanden. «Tja, es ist so, dass heute in aller Früh jemand in die leere Wohnung von Herrn Biedermann eingebrochen ist und fast zweitausend Euro geklaut hat. Die Polizei war heute Morgen hier.»

Eine düstere Stille wie bei einer Beerdigung trat ein, in der nur Herrn Biedermanns rhythmisches Schnaufen zu hören war. Ein paar blickten verlegen zu Boden, als wären sie die Schuldigen. Ich schaute zu Domenico hinüber. Seine Augen wirkten richtig eingefroren.

Frau Galiani wartete keine Reaktion ab und fuhr fort: «An dem vermissten Schlüsselbund befindet sich neben den Turnhallenschlüsseln auch der Ersatzschlüssel zur Hausmeisterwohnung. Es ist somit leider anzunehmen, dass diese Schlüssel bewusst gestohlen wurden, um in die Wohnung einzubrechen. Ich bin unterwegs, um sämtliche Klassen zu informieren. Es macht mich traurig zu wissen, dass sich anscheinend so ein skrupelloser Dieb in unserer Schule befindet!»

«Traurig? Ha! Das ist eine bodenlose Frechheit!» bellte Herr Biedermann wütend und ruderte mit seinen Armen, als müsste er sich durch hohe Fluten kämpfen. «Aber bei dieser Bande wundert mich ja nichts mehr!» Er deutete mit einem verächtlichen Kopfnicken auf uns.

Frau Galiani räusperte sich. «Bitte, Herr Biedermann, bleiben Sie sachlich! Wir werden unser Möglichstes tun, um den Schuldigen zu finden. Auf jeden Fall möchte ich euch alle bitten, sämtliche verdächtigen Hinweise unverzüglich an mich weiterzuleiten und keine falschen Gerüchte zu verbreiten. Das wäre alles für den Moment.»

Die ganze Klasse schwieg betroffen. Frau Galiani verabschiedete sich mit einem knappen Gruß und setzte ihren Weg in die anderen Klassen fort. Herr Biedermann bedachte uns mit einem weiteren vernichtenden Blick und folgte ihr.

Herr Lenz konnte sich den Rest des Mathematikunterrichts abschminken und schaute wehmütig seine sorgfältig ausgeklügelten Algebra-Aufgaben an. Denn natürlich war nun keiner mehr an seinen Formeln interessiert. Bis zum Klingelzeichen wurden die wildesten Vermutungen über den Einbruch aufgestellt. Allen voran von André, Dani und Ronny, deren Fantasie vor lauter Krimi- und Science-Fiction-Konsum Purzelbäume schlug.

«Voll krass, ey, endlich kommt mal Leben in diesen Saftladen! Sogar mit Bullen!» johlte Dani und machte das Siegeszeichen. Natürlich, diese Idioten fanden so was noch lustig, während sogar Delia mit ihrer nicht gerade phänomenalen Gehirnmenge ziemlich nachdenklich wirkte.

«Hab heute früh so 'nen Typen vor dem Schulhaus gesehen. Sah ziemlich auffällig aus! Hatte braunes Haar und eine Trainingsjacke!» rief Ronny eifrig, dem vor lauter Erregung Speichel aus dem Mundwinkel quoll.

«Dumpfbacke! So sieht doch fast jeder aus!» brummte André.

«Natürlich, das war sicher ein getarnter Purolitaner!»

«Schnauze!» André gab Ronny einen derben Klaps, so dass dessen Beine wegsackten. «Sabber' hier nicht so eklig rum, Mann! Was soll das überhaupt sein, ein Purolitaner?» Tja, es war überall bekannt, dass Ronny sich ständig selber Fantasiewesen und Fantasienamen ausdachte.

Die Algebra-Aufgaben schafften es nicht mehr, meine Konzentration in Anspruch zu nehmen. Ich grübelte über diesen Einbruch nach. Zweitausend Euro! Das war ja eine gewaltige Summe. Wem war so was zuzutrauen? Sicher keinem aus unserer Klasse, das war mir klar. Niemand, nicht mal Delia, Isabelle oder André, hielt ich für so niederträchtig. Für so eine Tat brauchte es noch mehr. Für so was musste man innerlich total heruntergekommen sein.

Fast automatisch traf mein Blick Domenico, aber ich wollte diesen Gedanken unter keinen Umständen zulassen.

Janet Bonaventura natürlich!, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die hatte ja schon ausreichend solche Dinger gedreht. Dass sie hier überhaupt noch geduldet wurde, verdankte sie wohl dem Einfluss ihres Vaters, der ein angesehener Chefarzt in einer Psychiatrischen Klinik war. Mein Vater kannte ihn sogar persönlich.

Domenico schickte eine weitere SMS los. Seine Lippen waren zu einem spöttischen Grinsen verzogen. So ein Blödmann. Der hatte sie doch echt nicht mehr alle!

Im Deutschunterricht erhielt er das Diktat zurück, das Frau Galiani wie angedroht benotet hatte. Ich erhaschte einen flüchtigen Blick darauf und sah, dass es mit roten Korrekturmarkierungen übersät war.

Er riss grinsend die Seiten aus seinem Heft, zerknüllte sie und warf sie vor Frau Galianis Augen in hohem Bogen in den Abfalleimer. Ich schüttelte den Kopf. Es war nicht zu fassen! War es ihm denn völlig schnurz, wenn er im Herbst nochmals eine Klasse zurückgestuft werden würde? Er spielte mit seinem Leben, und eines Tages würde es ganz bestimmt in einer Sackgasse enden.

Ich rutschte mit meinem Stuhl ganz an den Rand des Pults. Wie lange würde ich es noch neben diesem Vollidioten aushalten?

«Wie du meinst, Domenico!» kommentierte Frau Galiani kühl. «Ich an deiner Stelle würde mich nun gewaltig auf den Hosenboden setzen, um diese Fünf wieder auszubügeln.»


Ich war nicht die Einzige, die Janet verdächtigte. André, Dani und Ronny waren so eifrig dabei, einen Schlachtplan auszubrüten, wie sie ihr eine Falle stellen konnten, dass André sogar fürs Erste seine Wut über Domenicos Sieg vom Vortag vergaß.

Domenico ging inzwischen zu Delia, die an der Tür ungeduldig auf ihn wartete. Ihre knallrosa geschminkten Lippen waren herzförmig gespitzt.

«Hast du Zigaretten?» hörte ich sie fragen, als Domenico neben ihr stand. Er nickte. Ich riss meine Jacke von der Stuhllehne und schlich mich vorsichtig hinter ihnen her. Hoffentlich haftete noch so viel Unsichtbarkeit aus früheren Zeiten an mir, dass sie mich nicht bemerkten.

Sie hielten Händchen, als sie durch den Flur schlenderten. Gut sahen sie aus, musste ich mit einem Stich im Herzen feststellen. Ein Traumpaar. Domenico ließ ihre Hand los und legte seinen Arm um ihre Hüften, und seine Hand rutschte langsam unter ihr T-Shirt.

Ich holte noch ein paar Schritte auf, so dass ich ihr Gespräch mitbekam.

«Voll heavy, das mit dem Einbruch, was?» sagte Delia.

«Phh, der Dämel ist doch selber schuld, wenn er nicht auf seinen Kram aufpassen kann!» meinte Domenico. «Ich finde das voll geil.»

Ich schüttelte mich vor Abscheu. Irgendwo hörte echt alles auf. Das war der Gipfel der Widerwärtigkeit.

«Janet Bonaventura macht so Sachen», meinte Delia. «Kennst du sie? Diese schwarzhaarige Brasilianerin mit den grünen Augen.»

«Ich weiß schon, wer Janet ist», winkte Domenico ab. «Lass uns nicht mehr davon reden, Süße!»

Sie blieben vor den Toiletten stehen. Domenico drückte Delia auf einmal in die Nische neben den Putzschränken und begann sie leidenschaftlich zu küssen. Mir wurde richtig übel. Ich stellte mich hinter die Wand neben den Toiletten und lugte um die Ecke. Hier konnten sie mich nicht sehen, solange sie sich nicht umdrehten, aber ich hatte sie voll im Blickfeld. Seine Hand glitt hinten unter ihr T-Shirt und fummelte dort herum. Delia warf den Kopf zurück und rieb ihre Hüften an ihm. Dass sie sich nicht gleich ganz nackt auszogen, war ein Wunder! Neidisch betrachtete ich Delias wohlgeformten Körper, der sich unter dem dünnen Stoff ihres Oberteils deutlich abzeichnete. Klar, dass Typen wie Domenico auf so was abfuhren. Und ebenso klar, dass ich mit meinem bisschen Oberweite nie eine Chance haben würde.

Er küsste ihren Hals und zog eine Kette mit einem roten Herzen aus seiner Jackentasche. Delia strahlte und nahm sie in die Hände. Er gab ihr zu verstehen, dass sie sich umdrehen sollte, und legte ihr dann die Kette um den Hals. Auch das noch. Wieso hatte dieses Mädchen immer solches Glück? Dabei war sie doch so boshaft und dumm. Ich hatte definitiv genug gesehen und trollte mich. Mehr ertrugen meine Nerven heute nicht mehr. Das war mit Abstand der bescheuertste Tag seit langem gewesen.

Mit all diesen Eindrücken ging ich ins Wochenende und schrieb mein Tagebuch voll. Ich erzählte meinen Eltern nichts mehr über Domenico. Und auch nichts über diesen komischen Einbruch beim Hausmeister. Paps hätte sich ja doch nur unnötig aufgeregt.