ZWEI

ETTORE TRINKT SEINEN KAFFEE AUS, wäscht im Spülbecken die Tasse ab und wendet sich zum Kinderzimmer, wo Pietro immer noch weint. Er umgeht die Spielsachen auf dem Boden, hebt manche auf, räumt andere weg, schaut den Flur entlang und endlich in das Zimmer. Pietro hat die Augen zu und sieht ihn nicht.

Ettore hält inne und betrachtet seinen Sohn, die Gesichtszüge, die zur Faust geballten Hände, die nach oben gestreckten Arme, die Beine im Laken gefangen, aus dem er sie nicht befreien kann, die vor Wut gerötete Haut; er beugt sich zu ihm hinunter und hebt ihn sanft hoch.

Pietro öffnet die Augen, sieht seinen Vater und hört zu weinen auf, öffnet die Hände und greift nach Ettore Gesicht, der lächelnd leise mit ihm spricht und sagt, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.

Sie gehen ins Bad, und das durch die pastellfarbenen Vorhänge fallende Licht färbt die Wände, die sie unbedingt blau streichen wollte, die getrockneten Lavendelblüten neben dem Spiegel.

Er setzt das Kind auf die Wickelkommode, still ist es jetzt im Haus, und draußen, in Fabbrico, scheint sich nichts zu rühren, durch die Fenster kommt kein Geräusch herein, es gibt nur sie beide, Ettore und Pietro, der sich ohne einen Laut die Windeln wechseln lässt, ab und zu ein wenig strampelt, sich waschen lässt und mit den Händen fuchtelt, um die Dinge zu greifen, die er sieht, die Zahnbürsten, immer noch zwei, das Parfüm von ihr, das noch hier steht.

Immer noch lächelnd, steigen sie ins Auto, machen Späße, das Kind streichelt den Schnauzbart seines Vaters, die Sonne ist prall, und die bauschigen weißen Wolken am Himmel scheinen über einem bergigen Horizont heraufzuziehen. An der Bar machen sie halt, Bice reicht dem Kind eine Brotrinde, es lächelt und beginnt zu knabbern, während Ettore im Stehen an der Theke ein Stück Mangoldtorte verzehrt.

Pass auf, sagt er, während er Pietro mit seinem Krümelmund betrachtet.

Auf einer dieser Straßen, die er auswendig kennt, fahren sie aus dem Dorf hinaus, Straßen, die er schon in allen Lebenslagen gefahren ist, die ihn zu ihr brachten, als sie noch ein Liebespaar waren, bevor sie zusammenzogen.

Er sieht die Häuser und die Gärten, sieht das Kind, das auf die an den Zäunen rankenden Blumen zeigt, die dunkelgrün leuchtenden Hecken, die in der nun hoch stehenden Sonne zu schwitzen scheinen. Gleich nach dem Ort beschleunigt er, Pietro ist neugierig, reckt den Hals, betrachtet aus dem Autofenster die Häuser und Felder. Ettore dagegen achtet nicht darauf, er fühlt nichts auf dieser Strecke, er wohnt nicht mehr gerne dort, denkt zurück an die Wälder, die frische, saubere Luft, die man auf den einsamen Wanderungen im Gebirge atmete.

Die Schwiegereltern sind umgezogen, sie wohnen jetzt in einem Reihenhaus gleich außerhalb des Dorfs, das Viertel rundherum dehnt sich mitten auf dem Land aus, es ist ganz neu und ganz sauber.

Er parkt im Hof, gegenüber vom Eingang, neben dem Auto der Schwiegereltern, das vor der Garage steht. Vor dem Aussteigen hupt er.

Zuerst erscheint nicht Ester, sondern Livio, er schaut heraus, öffnet die Tür und läuft ohne ein Wort strahlend auf das Auto zu, auf Pietro, der ihn sieht und genauso lächelt wie sein Großvater, kindlich.

Livio beugt sich zum Fenster, lächelt weiter, und das Kind, schon nervös vom Warten, streckt seinem Großvater, der ihn immer noch bewegungslos anschaut, die Hände entgegen; es quengelt, und Ettore, der die Szene im Rückspiegel beobachtet, stellt sich vor, dass Pietro, wenn er könnte, zum Großvater sagen würde, lass mich sofort aussteigen, mach dich nicht über mich lustig.

Endlich öffnet Livio die Autotür, und auch Ettore steigt aus, jetzt stehen sie im Hof, der Großvater hat das Kind auf dem Arm und lacht, sie lachen zusammen, und auch Ettore lacht mit und hört ihrem Gebrabbel zu, bis er Livio sagen hört, komm, in der Garage habe ich ein Geschenk für dich, es ist eben fertig geworden.

Ester hat hinten im Garten gedeckt, im Haus ist es kühl, die Rollläden sind heruntergelassen, die Gardinen zu. Nach dem Eintreten überläuft Ettore ein Schauder, er wünschte, jemand brächte ihm bei, wie auch er sein Haus kühl halten kann. Alte Fotos stehen herum, Ester und Livio, die sich auf einem Bootssteg umarmen, der, könnte man meinen, ins Meer ragt, doch vielleicht ist es nur ein Fluss. Die beiden gehören einer Generation an, die nicht reist, die daheimbleibt und für die die Welt ein kleiner, enger Ort ist.

Es gibt Fotos von Pietro gleich nach der Geburt, er hat ein blaues Mützchen auf, die Augen geschlossen. Die Bilder, auf denen sie, Pietros Mutter, ihre Tochter, dabei war, sind verschwunden, versteckt, nicht mehr da.

Ester öffnet die Tür, die nach hinten zum festlich geschmückten Garten führt, zur Sonne dieses Sommers. Dann dreht sie sich um, schließt sie wieder und geht auf Ettore zu, der noch steif dasteht, legt diesem von der geballten Abwesenheit auf diesen Bildern gebannten Mann die Hand ans Gesicht und streichelt ihn.

Ettore sagt nichts zu dieser ungewöhnlichen Geste, er lässt es zu, dass seine Schwiegermutter ihn an der Hand nimmt, ihn hinausführt.

Es ist heiß trotz des schattigen Laubengangs unter dem Ziegeldach, das sie in der Hoffnung auf solche Gelegenheiten gebaut haben. Im Garten blühen Blumen, es gibt Kletterpflanzen, die Magnolie, die sich überall ausbreitet mit ihren Ästen und ihren glänzenden Blättern, Ettore schaut sie an und denkt, wie schade es ist, dass ein so schöner Baum nur so kurz blüht. Er denkt, dass er gern eine in ihrem Garten pflanzen möchte, dann sagt er sich, lieber nicht.

Auf dem Tisch liegt eine makellos weiße Tischdecke, man hört den Gesang der Zikaden, wer weiß wo versteckt auf der anderen Seite der wenig befahrenen Straße, die den Garten von einem Feld voller Heuballen trennt.

Ettore setzt sich ans Kopfende des Tisches, Ester geht wieder ins Haus und kommt mit einer Flasche zurück, Weißwein, den mag Ettore nicht, doch er öffnet ihn schweigend, als Ester ihm den Korkenzieher reicht, sie haben noch kein Wort gewechselt. Er gießt sich ein Glas des kalten Weins ein und trinkt es in aller Ruhe, die Beine ausgestreckt, lauscht er der Stille, hört die Geräusche, die Ester bei den letzten Vorbereitungen in der Küche macht, die Worte, die Livio zu Pietro sagt, als sie näher kommen, das Knirschen von etwas, das den Gehweg entlangrollt; dann sieht er Pietro in einem Holzauto sitzen, die Füße von den Pedalen weggestreckt, die sich ins Leere drehen, während Livio ihn anschiebt.

Das Auto ist schön, mit vielen Extras, aufgemalte Scheinwerfer, das Lenkrad ein echtes Lenkrad, die Reifen echte Reifen, und Pietro lacht, rot im Gesicht, aufgeregt, glücklich.

Ettore hebt die Hände, ruft begeistert Bravo!, und Livio freut sich, auch er ist glücklich.

Toll, sagt Ettore, nachdem er einen Schluck Wein getrunken hat.

Ich bin ein Künstler, antwortet sein Schwiegervater.

Sie essen, Ester füttert das Kind, sie hat eine freundliche, alberne Stimme, spielt Flugzeug.

Achtung, Achtung, schwer beladener Frachter setzt zur Landung auf deinem Flughafen an, sagt sie.

Sie lässt den Löffel durch die Luft fliegen, ein paar Nüdelchen fallen auf die weiße, gar nicht mehr so makellose Tischdecke, man sieht jetzt Flecken vom Essen, Brotkrümel, Ringe vom Wein, der fast alle ist.

Ettore steht auf, will abräumen, Ester sagt, lass nur, ruh dich aus, und daraufhin setzt er sich wieder, mustert die Hecke, die das Haus von den anderen Häusern, den anderen Gärten, den anderen Familien trennt, und Livio, der sich mit der Serviette den Mund abwischt.

Ein Spatz landet auf der weißen Tischdecke, pickt mit dem Schnabel einen Krümel auf, fliegt davon, die Magnolienblätter bewegen sich, obwohl kein Wind geht, Sonne und Himmel sind verborgen, Pietro schwenkt die Hände, es sieht aus, als würde er singen, Livio kratzt sich am Arm und fragt Ettore, ob ihm der Wein schmeckt.

Ausgezeichnet, antwortet er.

Der Geburtstagskuchen ist mit Erdbeeren und Kiwi belegt, darunter eine Creme; Pietro sitzt auf den Knien seines Vaters und lacht, als Livio das blaue Kerzchen in der Mitte anzündet, klatscht in die Hände, als es ausgeht, als sie es wieder anzünden und dann wieder auspusten.

Ettore flüstert seinem Sohn Glückwünsche ins Ohr, und während die Sonne wandert und die Zweige der Magnolie sie nicht mehr vor der Sommerhitze schützen können, nimmt er das Stück Kuchen, das Ester ihm abgeschnitten hat, und isst es, als Einziger.

Die Schwiegereltern fischen Kirschen aus dem Korb in der Mitte des Tisches, und das Kind beobachtet sie, ihre Bewegungen, ihr Lächeln, wie hypnotisiert, ganz still, wie alles um sie herum.

Auch Ettore streckt die Hand aus, um eine Kirsche zu nehmen, die größte im Korb. Mit Mühe schneidet er sie entzwei, verschmiert seine Hände, löst den Kern heraus.

Pietro nimmt die Kirsche von der Tischdecke, führt sie an die Lippen, beginnt zu lutschen und langsam zu kauen.

Plötzlich stockt er, läuft rot an, die Hände zu Fäusten geballt, die Arme wie versteinert. Auch Ettore ist versteinert, starr, regungslos, entsetzt schaut er sein Kind an, das erstickt, ihm ist, als sei nichts mehr möglich, alles Angst und Schrecken, nichts zu machen.

Ihm ist, als könne Stillhalten den Augenblick ins Unendliche ausdehnen, und während er seinem Kind starr in die Augen sieht, es hat die gleichen Augen wie seine Mutter, reißt ihm jemand mit einem Ruck den kleinen Kinderkörper vom Schoß, und alles geht auf einmal schneller, bewegt sich rascher, so als müsste die Zeit wieder mit dem Rest der Welt in Einklang kommen.

In der reglosen Luft des Nachmittags hält Ester das Kind am Fußgelenk und schüttelt es mit aller Kraft, Ettore, der es nicht schafft aufzustehen, greift sich an den Kopf, krallt die Hände in die Haare und schaut, nur schauen kann er und hat keine Zeit zu hoffen, denn vor seinen Augen spuckt sein Sohn etwas aus, das im Bogen zu Boden fällt, und dann lacht Ester, dreht das Kind um, drückt es ans Herz und streichelt es; und Ettore, vielleicht aufgerüttelt von dem Ton, den das Etwas beim Aufkommen gemacht hat, erhebt sich, nimmt der Schwiegermutter sein Kind ab und presst es an sich.

Er umarmt es ganz fest, während er Ester sagen hört, er solle es atmen lassen, er drücke ihm ja die Luft ab; er lockert seinen Griff ein bisschen, hört aber nicht auf, es zu streicheln, weiß nicht, was er sagen soll, will nur so bleiben und still dem Weinen seines Sohns zuhören, der noch lebt, diesem heftigen, gesunden Weinen.

Rund um sie fahren Autos und Fahrräder vorbei, keiner der drei verjagt die Spatzen, die auf den Tisch zurückgekehrt sind, um die Krümel und das Obst vom Kuchen aufzupicken.

Keiner sagt ein Wort, kein Laut kommt aus den Nachbarhäusern oder von der Straße.

Ettore hört, wie sich jemand räuspert, es ist Livio, er will etwas sagen, seine Stimme klingt gepresst, seltsam, er räuspert sich noch einmal und setzt erneut an.

Lass ihn hier, sagt er, lass ihn bei uns, gönn dir ein paar Tage für dich.

Es klingt nicht anklagend, sondern freundlich und väterlich, Ettore fühlt, dass er aufatmen kann, dass er ihm vertrauen kann.

Wieder betrachtet er seine Schwiegereltern, ihre Gesichter, ihre Augen, betrachtet ihre Hände und dann seine, betrachtet seinen Sohn, die spärlichen Haare, die Augen, die ihn jetzt suchen, die Haut, die allmählich wieder die gewohnte Farbe annimmt, er betrachtet dieses Gesicht und begreift, dass er für immer sie darin sehen wird, sein Leben lang.

Jetzt lächelt sein Sohn, strengt sich an, die Augen offen zu halten, kämpft gegen den Schlaf, scheint alles vergessen zu haben, als gehöre die Angst von vorher zu einer Welt, die es nicht mehr gibt.

Ettore sieht ihn an und drückt ihn, steht auf und hält Ester das Kind hin. Sie lächelt.

Nimm du ihn, sagt er zu ihr.