SECHS

DIE SCHULGLOCKE LÄUTET, Pietro läuft als Erster hinaus, stellt das Handy an, bewegt sich in der Menge von Jugendlichen wie er, zwischen ihren Rucksäcken, ihrem Gelächter, ihrem Geschrei, ihrem Gerangel, ihrem Wir sehen uns später, ihrem Sichzuwinken von Weitem. Er sieht sie auf ihren Skootern davonfahren, zu zweit, ohne Helm, er mustert die Fahrräder, die Mädchen.

Er mustert die Gesichter, und alle scheinen hübscher zu sein, netter, Teil von etwas.

Der Bus bringt ihn nach Hause, er schläft nicht ein, hat Hunger, betrachtet die Straße, die aus der Stadt hinausführt, über Land, die Häuser werden kleiner, es gibt keine Wohnblocks mehr, sondern Felder, Fabriken, Parkplätze und Tankstellen, man sieht wieder den ganzen Himmel bis zum Horizont, wo die Berge sind, die man nicht sieht.

Der Bus bringt ihn zurück nach Fabbrico, und er steigt als Letzter aus, er ist der Einzige, der von dort kommt, geht die Stufen vor dem Bahnhof, vor den Graffiti voller Grammatikfehler, den Liebessprüchen, den Beleidigungen hinunter, schultert den Rucksack und macht sich auf den Heimweg, während das Handy summt, es ist eine SMS von Miriam.

Komm heute Nachmittag zu mir. Meine Eltern sind nicht da.

Er lächelt, hält bei Ercole an, um Zigaretten zu kaufen, geht über die Piazza und am kommunalen Kindergarten vorbei, betrachtet die Kleinen, wie sie schreien und spielen, nimmt die Straße am alten Industriegebiet, vorbei an der Bank, an der Fabrik von Miriams Vater.

Zu Hause ist niemand, sein Vater hat ihm einen Zettel hingelegt, dass er in der Werkstatt arbeitet, dass er einen kranken Arbeiter vertreten muss, dass Pietro den Rasen mähen soll; er hat ihm das Mittagessen vorbereitet, das Pietro sich in der Mikrowelle aufwärmt, während er an Miriam denkt, daran, wie sie ihn anschaut, an ihre kurzen Haare, an ihren Busen, an die Bemerkungen seiner Freunde über sie, daran, dass alle überzeugt sind, sie habe schon Sex gehabt.

Er denkt an die Heftchen, die er und seine Freunde unter der Kanalbrücke verstecken, wo sie sich manchmal treffen, um zu rauchen und ein paar Bier zu trinken, zusammen mit den Größeren, die dort immer herumlungern, die rauchen und lachend erzählen, wie die Frauen wirklich seien, dass man sie an den Haaren packen müsse, sie auf den Arsch hauen und schlecht behandeln müsse, es gefalle ihnen nämlich, mit Gewalt und Entschlossenheit genommen zu werden, man dürfe sie niemals zurückrufen, bis Anela sie dann irgendwann zum Teufel schickt und zu ihm sagt, er solle nicht hinhören, die hätten ja keine Ahnung.

Beim Essen, während er durchs Fenster seinen Vater beobachtet, der mit dem Gabelstapler über den Werkstatthof fährt und einen dort geparkten Lastwagen ablädt, während er sieht, wie der Vater mit dem Fernfahrer lacht, fragt er sich, ob Miriam solche Sachen von ihm erwartet, ob er fähig ist, sie zufriedenzustellen, er stellt sie sich nackt vor, umgeben von den Jungen, mit denen sie es schon getan hat, er möchte ihr schreiben, dass er nicht kommt, dass er einen Termin hat, dass er nicht kann, dass sein Vater ihn nicht weglässt.

Er räumt den Tisch ab und spült das Geschirr, geht ins Bad, kämmt sich, betrachtet sich prüfend im Spiegel und überlegt, ob er sich umziehen soll, ob er sich rasieren soll, erinnert sich an seinen Vater an jenem Nachmittag vor einigen Monaten.

Pietro war ins Bad gekommen, als Ettore sich gerade mit einem Handtuch die letzten Spuren von Rasierschaum abwischte, er hatte sich entschuldigt und zum Gehen gewandt, doch sein Vater hatte ihn zurückgerufen.

Komm nur herein, hatte er gesagt.

Nebeneinander hatten sie sich vor das Waschbecken gestellt und sich im Spiegel gesehen, Ettores Schnauzbart, um den Pietro ihn beneidete, den Ernst in den Blicken, während Pietro sein Gesicht einschäumte, mit der Klinge den Anflug von Bart abrasierte und sich dabei kleine Schnittverletzungen beibrachte, während sein Vater auf dem Badewannenrand sitzend zusah, ihm das Klopapier hinhielt und sagte, nimm das, bevor er ging und ihn allein ließ.

Als er aus dem Badezimmer kommt, schaut Pietro auf die Uhr, es ist noch früh, er setzt sich aufs Sofa und legt eine CD ein, klopft mit den Füßen auf den Boden, schaut sich um, tut so, als würde er lesen, die Unordnung in der Wohnung beseitigen, sein Zimmer aufräumen, dann bricht er auf und hofft, dass sein Vater ihn nicht sieht, ihn nichts fragt.

Er beschließt, zu Fuß zu gehen, zündet sich eine Zigarette an und bereut es, keinen Kaugummi mitgenommen zu haben; da noch Zeit ist, wählt er den längeren Weg, er will nicht zu früh kommen, nicht ungeduldig wirken, sondern selbstbewusst, wie ein Mann, erwachsen, sicher. Er malt sich aus, wie es sein wird, Miriam nackt auf ihm, die schreit, ihn auffordert, ihr wehzutun, er hofft, dass er dazu fähig ist.

Er stellt sich vor, wie er sie gegen die Wand gedrückt küsst, wie sie ihm die Tür öffnet, schon nackt oder nur mit einem durchsichtigen Höschen und Stay Ups bekleidet.

Er geht Richtung Supermarkt und merkt, dass er aufgeregt ist, seine Hände schwitzen und er überlegt, wieder heimzugehen, da sieht er plötzlich die Hexe von Fabbrico auf einer Bank sitzen, wie gewöhnlich schwarz gekleidet, eine Kapuze über dem Kopf, sieht, wie sie altes Brot zerbröckelt, sieht die Tauben unter ihr herumflattern und die Krümel zwischen ihren Schuhen aufpicken, die von grauem Klebeband zusammengehalten werden. Er sieht, dass sie ihn anschaut, und erstarrt, ihre Augen sind wie Stecknadelköpfe und zugleich tiefe Seen, ihre Hände hören auf, das Brot zu zerbröckeln, er sieht das Lächeln, das sich in dem runzligen Gesicht ausbreitet, die Haut wirkt dick und hart, er sieht ihre Goldzähne, die Hände, die sich wieder heben und das Brot fallen lassen. Er sieht, dass sie auf ihn zeigen, ihm winken, hört die Stimme, die flüstert, komm, komm her, wie ein Kratzer klingt die Stimme, wie wenn die Nadel auf der Schallplatte springt.

Pietro rührt sich nicht, und sie ruft ihn noch einmal, er hat keine Angst, spürt nicht den Drang davonzulaufen, spürt in sich die Neugier, zu erfahren, was diese Frau will, er ist sich sicher, dass sie ihm von seiner Mutter erzählen wird, dass sie ihre Stimme nachahmen kann, dass sie sich in sie verwandeln kann, in das Lächeln auf dem Foto, und dass sie ihn in ein kleines Kind verwandeln kann, das sie auf die Schulter nimmt und streichelt.

Er schaut und schweigt, schaut sie an und wendet sich dann zum Haus von Miriam, die ihn erwartet.

Er klingelt und wartet, so scheint ihm, unendlich lange, bis sie ihm das Gittertor öffnet und in der Türe am Ende des Gartenwegs erscheint, zwischen Tonfiguren, die die sieben Zwerge sein sollen und wie Ungeheuer aussehen.

Die Sonne beleuchtet ihr Lächeln und den abgebrochenen Zahn, sie geniert sich nicht, ihn zu zeigen, ab und zu fährt sie mit der Zunge darüber, wenn sie auf einer Bank sitzen und nicht wissen, was sie sagen sollen, wenn er versucht, die Hand unter ihre Kleider zu schieben und sie Nein sagt, jetzt nicht.

Sie begrüßt ihn, und es ist, als hätten sie noch nie Stunden damit zugebracht, Spucke auszutauschen, wie sie es nennt, als hätten sie noch nie ein Wort gewechselt, sie ist rot im Gesicht, und Pietro schwitzt, fühlt die Nässe auf seinen Händen und seiner Stirn, denkt, er hätte sich duschen sollen, das hätte sie verdient gehabt.

Sie tritt beiseite, um ihn hereinzulassen, er geht an ihr vorbei, riecht das Parfüm, das sie aufgelegt hat, und mag es nicht, er würde es ihr gern sagen, schweigt aber und küsst sie nicht, meint, sie könnte enttäuscht sein, dreht sich um und streckt sich zu ihr hin. Es ist ein flüchtiger, verlegener Kuss, und verlegen geben sie sich dann die Hand in der Stille dieses Hauses, in dem es genauso riecht wie bei Pietro, nach Werkstatt und Eisen und Spänen, ein Geruch, der nicht mehr weggeht, und nach Blumen und Pflanzen, die Miriams Mutter hegt und pflegt, die überall auf den Fensterbrettern und im Flur stehen, den sie durchqueren, um in Miriams Zimmer zu gelangen.

Verlegen stehen sie voreinander, wissen nicht wohin mit den Händen, die Gedanken überstürzen sich, und verlegen beginnen sie sich zu küssen, verlegen werden sie allmählich sicherer in den gewohnten Gesten, den Zärtlichkeiten, die sie austauschen. Sie sind verlegen, als sie aufhört, ihn zu küssen, um ihren Pullover auszuziehen, um ihn anzusehen wie noch nie, um ihm zu sagen, er solle sich hinlegen.

Und jetzt ist nur noch Pietro verlegen, weil Miriam über ihm ist, sein Gesicht und seinen Bauch streichelt, ihn behutsam auszieht, und alles, was er gedacht hatte, alles, was er gerade denkt, die Heftchen, die verzerrten, unproportionierten Darstellungen in diesen Comics, das Gelächter und die Kommentare der größeren Jungen, alles hört zu existieren auf, und er ist jetzt allein, zusammen mit Miriam, auf diesem Bett, auf den Decken, die sie über sich ziehen, und den Laken, die am Boden landen, in denen sie sich verheddern, als sie ihre Hosen ausziehen bis auf den Slip, zwischen den Stofftieren auf dem Schreibtisch, den aufgeschlagenen Büchern, den an der Wand hängenden Fotos und denen auf dem Nachttisch.

Nur noch er ist verlegen, da er ihr endlich das Höschen auszieht und es nebenhin legt, damit sie es nachher wiederfindet, wenn sie fertig sind, wenn sie ihn gelehrt hat, wie es geht, und zudem ist er verlegen, da er sie endlich nackt sieht, die vollen Brüste in seinen Händen hält, sie mit den Lippen berührt, sich fragt, ob es ihr gefällt, ob er es gut macht in dem Schweigen, das nur von ihrem Stöhnen unterbrochen wird und von Miriams Stimme, die sagt, er solle langsam machen, es sei ihr erstes Mal.

Er betrachtet sie, während sie sich aufrichtet, die Augen niederschlägt und unter ihm wegrutscht, das Sperma von Pietros Orgasmus auf ihrem Bauch mit den Fingern auffängt und mit der freien Hand das Laken hochzieht, um sich nicht anschauen zu lassen, und er nicht versteht, warum.

Wunderschön, dieser Rücken, den Pietro sieht, diese Schultern, diese Haare, dieses Profil, das Miriam ihm zugesteht, als sie sich einen Augenblick umdreht im Nachmittagslicht, das durch die Vorhänge fällt, der Busen, noch kurz unbedeckt, bevor sie aufsteht, um ins Bad zu gehen, und sagt, warte, ich komme gleich wieder, zieh dich nicht an.

Jetzt liegen sie nackt auf dem Bett, Miriam hat ihren Kopf auf Pietros Brust gelegt, er streichelt ihre Haare, ihr Gesicht, ihre Nase und tastet ab und zu mit den Fingern nach ihrem abgebrochenen Zahn.

Lass mich in Ruhe, sagt sie zu ihm.

O nein, das kann ich nicht, antwortet Pietro.

Ich war doch grade am Einschlafen.

Was?!

Er beugt sich über sie, küsst sie auf die bloße Haut, und Miriam zieht ihn an den Haaren, während er sie kitzelt und sie beide lachen, während er sie in den Bauch beißt und prustet, bis sie sich wieder küssen und es ganz sanft noch einmal tun, bis Pietro ihr das Gesicht streichelt, die Nase, bis er sie auf die Wange küsst und sich wieder neben ihr ausstreckt und sie ihm wieder den Kopf auf die Brust legt.

Jetzt schweigt er, betrachtet still die Haare, die Haut, die aus dem Laken hervorschaut, die Schulter, die Unvollkommenheiten, den Fuß, der nicht bedeckt ist, wie Miriam die Zehen bewegt.

Er mustert das Zimmer, die Pastellfarben, das Rosa des Schranks, das Weiß des Bettes, das Licht, das zum Fenster hereinfällt, von draußen kommen Geräusche, das Reden der Leute auf der Straße vor dem Fotogeschäft, Autos, die beschleunigen und bremsen, die Fotos auf dem Nachttisch und die an der Wand: Miriam im Tennisdress, lächelnd, den Schläger in der Hand, Miriam als Kind, im Schnee, dick eingemummt auf den Schultern ihres Vaters, daneben die Mutter, die ihn auf die Wange küsst.

Pietro fragt, wann ihre Eltern zurückkommen, sie erwidert, sie hätten noch Zeit, er sagt, er wolle ausgehen, eine Zigarette rauchen, in die Bar gehen. Miriam hebt den Kopf und schaut ihn an, Pietro ist zum Fenster gewandt, betrachtet das Foto.

Wenn du willst, kannst du hier rauchen, wir machen das Fenster auf.

Nein, ich will raus, ausgehen, antwortet er, ohne sie anzusehen, mit dem Rücken zu ihr, den sie streichelt und küsst.

Na gut, ich stecke die Laken in die Waschmaschine, und dann gehen wir.

Schweigend ziehen sie sich an, wortlos, Pietro schaut Miriam nicht an, sie dagegen fixiert ihn, während er aufhört, nackt zu sein, dann lächelt er sie an und küsst sie auf die Wange, sagt Danke zu ihr, und sie schüttelt den Kopf.

Auch draußen schweigen sie noch, nebeneinander auf dem Gehsteig, gehen unter den fallenden Blättern, die allmählich die Straße bedecken, nah an den Zäunen der Häuser entlang, an den Hunden vorbei, die bellend durch die Gärten rennen, unter der Sonne, die in den Augen schmerzt.

Miriam will Pietros Hand nehmen, doch er zieht sie weg und schiebt sie in die Tasche, ohne etwas zu sagen, ohne zu lächeln.

In der Bar riecht es nach abgestandenem Rauch und nach Halbwüchsigen, man hört die Geräusche der Videogames, das Geschrei der sich drängenden Jungen, das Murren von Bice, die alle kopfschüttelnd betrachtet und sich weigert, ihnen Bier und Campari auszuschenken, weil sie noch zu jung sind.

Es duftet nach einem Herbst, der sich noch nicht durchsetzen kann, nach Sonne, die den Asphalt und die zur Straße hinausgehenden Fenster der Häuser wärmt.

Pietro ist über den Billardstock gebeugt, er zielt auf das Loch ganz hinten, das in der Ecke, er fühlt Miriams Blick im Rücken, den abgebrochenen Zahn, den man sieht, während sie lächelnd mit ihren Freundinnen plaudert, die Röte auf ihrem Gesicht einer Sechzehnjährigen. Er fühlt, wie der Rauch der Zigarette, die er zwischen den Lippen hält, über seine Wangen streicht, in seinen Augen brennt, und hört die Stimme seines Freundes, der an der Wand lehnt und sagt, da ist dein Vater.

Er hebt den Blick zum großen Fenster der Bar, die braunen Vorhänge sind zur Seite geschoben, und sieht die mitten auf der Straße geparkte Ape seines Vaters, sonst sieht er niemanden, nicht einmal seinen Vater, der schon drinnen ist, schon hier. Plötzlich steht er vor ihm, noch im Arbeitsanzug, mit Stiefeln, einer Jeansjacke, Pietro hört, wie er sagt, er solle die verdammte Zigarette ausmachen, ihn am Arm packt und sagt, er solle nach Hause kommen.

Pietro fühlt den Atem seines Vaters über das hypnotische Chaos in der Bar hinweg, die Wut, die zwischen ihnen aufsteigt.

Einige Sekunden, die viel länger wirken, starren sie sich an, die Bar rund um sie steht still, die Stimmen schweigen, Bice erhebt sich von ihrem Hocker, als wolle sie einen Schritt tun, dann bleibt sie stehen, alles bleibt stehen. Pietro wünschte, er könnte reagieren, den Billardstock nehmen und ihn auf dem Gesicht seines Vaters zertrümmern, Blut sehen, er wünschte, er könnte ihm wehtun, ohne Schuldgefühle zu haben.

In diesen Sekunden erkennt Ettore seinen Sohn nicht wieder, die Gesichtszüge, die Augen, die denen seiner Mutter so ähnlich sind, die Backenknochen, die denen seiner Mutter so ähnlich sind, die Lippen, der Raum, wo eines Tages vielleicht ein Schnauzbart wachsen wird, die Nase, die seiner eigenen so ähnlich ist, kommen ihm fremd vor.

Gehen wir nach Hause, sagt er.

Pietro dreht sich nicht zu Miriam um, die sitzen bleibt und sich nicht rührt, er schaut seine Freunde nicht an, schaut niemanden an, lehnt den Billardstock an die Wand, senkt den Kopf und sieht die Arbeitsschuhe seines Vaters, betrachtet diese Füße und dann seine eigenen und geht los, an seinem Vater vorbei.

Es ist noch heiß, über die Piazza von Fabbrico streicht ein Wind, der nicht erfrischt und Pietros Haare durcheinanderwirbelt, als er in die Ape seines Vaters einsteigt. Jetzt wird es sehr eng, sie müssen sich unvermeidlich berühren, und Pietro rutscht zur Tür hin, als Ettore nachkommt, sich neben ihn setzt und ihn noch weiter hinüberschiebt.

Ihm wird übel bei diesem Kontakt, diesem Schweigen, dieser Sonne, die einem den Atem nimmt, der sonderbaren Hitze dieses Herbstes. Er öffnet das Fenster und atmet, Ettore startet den Motor und sie fahren heim, ihren Atem hört man nun nicht mehr, nur den Motor und den Wind, der hereinweht.

Fabbrico ist schöner denn je, die Farben der Häuser und des Himmels über ihren Köpfen sind schöner, der Asphalt leuchtet in einem anderen Licht, Pietro fällt sein Großvater ein, der zu ihm sagt, an Tagen wie diesem kommt das Erdbeben.

Schöner sind auch die Farben der Felder, die hinter den Baustellen schimmern, hinter den neuen Vierteln, die hier hochgezogen werden, hinter den Grünanlagen und der riesigen Fabrik, hinter den Hecken und dem Kindergarten, wo die Kleinen immer noch spielen.

Schöner ist auch ihr Haus, als sie davor anhalten und Pietro darauf wartet, dass sein Vater sagt, er solle aussteigen und das Tor öffnen, als sein Vater schweigt, die Ape abstellt und selber aussteigt, während Pietro still sitzen bleibt, auf einmal wieder viel Platz hat und seinen Vater beobachtet, den Rücken, die Arme, die am Tor ziehen und die Luft mit einem metallischen Geräusch erfüllen, dann sieht, wie er umkehrt, mit gesenktem Kopf zurückkommt und die Sonne auf seinen Haaren glänzt, die weiter hinten aufgetürmten Wolken sich auflösen und bedrohlich wieder verdichten. Er sieht, wie Briciola sie schwanzwedelnd erwartet, glücklich, sie wieder heimkommen zu sehen.

Schweigend setzt sich sein Vater wieder ans Steuer, und unterdessen öffnet Pietro auf seiner Seite die Tür, steigt aus und geht zu Fuß durch das Tor, beugt sich zu Briciola, um sie zu streicheln, sich lecken und freudig begrüßen zu lassen.

Ettore fährt die Ape in die Garage, Pietro schaut ihn nicht an, achtet nicht einmal auf den Hund, der sich zu seinen Füßen wälzt, japst und knurrt, schaut zum Himmel, der weit hinten am Horizont immer dunkler wird, sieht das gleichförmige, bleierne, tief hängende Grau, sieht die Blitze, die kommen, ihm ist, als höre er den Donner, spüre die Elektrizität in der Luft; er denkt an Miriam unter ihm, daran, wie sie gesagt hat, er tue ihr weh, wie er sie um Verzeihung gebeten hat, er denkt an ihre glänzenden Augen, daran, dass er sich nicht verändert fühlt, er denkt, ob das wirklich alles ist, denkt, wie sie sich fühlen muss, denkt an das, was sie verloren hat, an das, was sie ihm geschenkt hat, daran, wie es ihm geht, er weiß es nicht.

Er hört, wie sein Vater sich nähert, hört seine Stimme, gib mir die Zigaretten, sagt er.

Er dreht sich zu seinem Vater um, der fröstelnd in einer zu leichten Jacke im Wind steht, da er nicht gemerkt hat, dass es kühl geworden ist, er sieht ihn und denkt an ihn in dem Krankenhausbett, stellt ihn sich vor, wie er sich als Kind an die Stalltüre gekettet hatte, in Tränen aufgelöst wegen seinem Schwein.

Am liebsten möchte er ihm erzählen, was passiert ist, möchte fragen, wie das heißt, was er im Bauch spürt, den Mut haben, ihn zu umarmen, zu drücken, möchte ihm sagen, dass er seine Hilfe braucht.

Er steht auf und schiebt ihm das Päckchen hin.

Es wäre besser gewesen, wenn du mich verlassen hättest, sagt er.

Er blickt seinen Vater an, der nicht reagiert, sich nicht bewegt, er betrachtet seine Augen und sein Gesicht, sieht, dass er schluckt, dass er das Päckchen nicht nimmt, das zwischen ihnen liegt, dass er sagt, du musst den Rasen mähen, bevor er sich umdreht und geht.

Jetzt wendet Pietro den Blick ab, schaut nicht zu, wie sein Vater ins Haus geht, hört ihn, als er sagt, er werde am Abend ausgehen, Pietro werde allein sein, sich selbst um sein Abendessen kümmern müssen, er hört ihn, während der Donner kracht mitten in diesen Wolken, die jetzt ganz tief über ihnen hängen, über Fabbrico.

Er hört, wie sein Vater sich wäscht und ankleidet, er sieht, wie er sich im Spiegel begutachtet, er hört, wie er sich fertig macht, er sieht, wie er auf den Speicher hinaufgeht, wie er wiederkommt, in eine Jacke schlüpft, die er noch nie an ihm gesehen hat, er beobachtet, wie er sich kämmt, die Frisur zerzaust, das Hemd zurechtrückt.

Er fragt ihn nichts, sie wechseln kein Wort.

Draußen regnet es weiter, ins Haus dringt das Geräusch des Wassers, das auf den Asphalt klatscht, aufs Dach, auf den durchnässten Boden, auf die Bäume und die Magnolie, die in der Mitte des Gartens wächst, auf den Rasen, den Pietro gemäht hat.

Sie verabschieden sich nicht, als Ettore das Haus verlässt.

Pietro öffnet die Tüte, die sein Vater für ihn im Kühlschrank deponiert hat, verschließt sie wieder und lässt sie liegen, setzt Wasser auf, um sich eine Pasta zu kochen, schneidet ein paar Scheiben Salami ab, isst bei laufendem Fernseher, ohne hinzuschauen, nur, weil sein Vater ihn immer aus haben will, er hört sich nicht die Lokalnachrichten an, wechselt den Kanal nicht, der bei ihnen immer eingestellt ist.

Starr schaut er das Bild an, das sie als Kind von ihm gemacht haben, sucht nach Ähnlichkeiten mit seinen Eltern, sieht in diesen präzisen, realistischen Zügen die Augen seiner Mutter, das hofft er.

Die Nase ist die seines Vaters, auch die Haare, die Augenbrauen, er fragt sich, wann sie wohl beginnen, ihm auszufallen, ob er dann verheiratet ist, eine Familie hat, ob Miriam ihn dann auch ohne Haare noch liebt, alt und mit Glatze. Ob er sie noch lieben kann, wenn sie altert.

Er fragt sich, ob er es schaffen wird, zu bleiben.

Er räumt ab und geht in sein Zimmer hinauf, draußen regnet es weiter, er fragt sich, wo sein Vater ist, mit wem, was er macht, schlägt das Buch auf, das er gerade liest, nimmt das Foto seiner Mutter, das er als Lesezeichen benutzt, betrachtet es, streichelt es, er kann sich nicht aufs Lesen konzentrieren, kann nicht einschlafen, liest eine SMS, die Miriam ihm geschickt hat, weiß nicht, was er antworten soll, möchte ihr schreiben, dass sie sich morgen wieder treffen sollen, möchte zu ihr gehen, mit ihr einschlafen, den Kopf auf ihren Bauch legen, sie küssen, das Muttermal küssen, das sie unter der Achsel hat, er möchte, dass sie ihm über die Haare streicht, dass sie ihm etwas zu essen macht, und kann nichts anderes tun als da auf dem Bett liegen und an die Decke starren, sich hin- und herwälzen.

Ein durchdringender Schrei, der von draußen kommt, weckt ihn, ruckartig springt er auf, greift nach dem Baseballschläger, der an einer Schlaufe an seiner Zimmertür hängt.

Im Gang trifft er seinen Vater, der die Tür zu seinem Schlafzimmer schließt, während er sich einen Pullover über die Trainingshose zieht, sie sehen sich wortlos an, verständigen sich mit den Schultern, mit den Augen.

Sein Vater führt ihn ins Wohnzimmer, legt ihm eine Hand auf die Schulter, warm und tröstlich; Pietro bleibt wartend stehen, als Ettore sich bückt, um eine Taschenlampe mitzunehmen, die Schreie halten an, Briciola bellt verzweifelt, es scheint, als hätte es zu regnen aufgehört.

Sie ziehen Schuhe an und laufen hinaus, hasten keuchend die Treppe hinunter, Pietro hinter seinem Vater, und an der frischen Luft frösteln sie in der Dunkelheit des Hofs, im trüben Licht, das von den Straßenlaternen herüberkommt, in der Kühle dieser Nacht, im Geruch nach Regen und Asphalt.

Der Himmel ist hell vom Mond, verborgen hinter einer Wolke, die reglos über ihren Köpfen steht, und hier und da blinkt ein Stern, die Schreie sind jetzt hoch und schrill, klingen menschlich, wie von einem Kind.

Sie tauschen einen Blick, nicken, Briciola kommt zu ihnen und setzt sich, da vor der Tür, legt sich hin, den Kopf auf den Vorderpfoten, die Augen irgendwie schuldbewusst. Vater und Sohn machen sich zur Rückseite der Werkstatt auf, von wo immer noch dieses Geräusch herkommt, dieses Weinen, sie sind jetzt vorsichtig, Ettore geht voraus, Pietro hinter ihm, auf dem Boden voller Pfützen schleichen sie durch das nasse Gras, der Vater jetzt vorn, den Kopf eingezogen zwischen den Schultern, die gebeugt und schwer sind.

Als sie um die Ecke biegen, ist das Weinen schwächer geworden, klingt nun kläglich in dem Wind, der aufgekommen ist und den Himmel leer fegt, den Halbmond befreit, einen Mond, der ein unförmiges Etwas beleuchtet, das sich bewegt, sich vorwärtsschleppt.

Es ist eine Katze, die Vorderpfoten krallen sich in das Gras, in die Erde, die Hinterpfoten zeigen zum Himmel, das Rückgrat gebrochen, aus dem Maul, aus dem immer noch Klagelaute kommen, läuft ein Blutfaden, der zuerst im Licht der Sterne und dann der Taschenlampe glänzt.

Pietro dreht sich zum Haus um, weg von dem sinnlosen Leiden dieses Tiers, dreht sich um zu dem Teil des Hauses, den man von dort sieht, das Fenster des Zimmers seines Vaters, das Licht der Nachttischlampe, die Ettore angelassen haben muss, er dreht sich um zu der Silhouette einer Frau, die da drinnen steht.

Sie fällt ihm auf, als ein Blitz die Ruhe des Himmels zerfetzt, der wolkenlos wirkt, als es wieder zu regnen anfängt und Pietro nicht begreift, woher diese Tropfen kommen, dieser unvermutete Wind und dieser Blitz, der alles taghell erleuchtet.

Er blickt zum Himmel, jetzt ist plötzlich alles wieder von Wolken bedeckt, die mitten in diesem Gewitter funkeln, im Licht der weißen Blitze und im Geräusch des Regens, der auf sie herunterrauscht, auf die Katze, auf die Fensterscheibe, hinter der noch immer die Frau steht, doch ihr Gesicht, ihren Ausdruck kann er nicht erkennen, er sieht die Haare, die glatt sind, sieht etwas, das einem Lächeln gleicht, die weißen Zähne.

Er wischt sich das viele Wasser aus den Augen, weiß nicht mehr, was wahr ist und was nicht, ob sein Vater wirklich da steht, ob da wirklich diese Katze ist, die immer noch miaut und jammert, ob diese Frau, die die Hand zu heben scheint, als winkte sie ihm zu, wirklich da ist, ob es Fabbrico und Miriam wirklich gibt.

Er hofft, dass alles explodiert, dass sich die Erde auftut und sie verschlingt, die Katze verschlingt, ihr Haus verschlingt, sie beide da mitten im Regen verschlingt, mitten in diesem Donner, der nicht aufhört, dass sie Fabbrico verschlingt und seine Mutter, wo immer sie gerade sein mag.

Jetzt hat Pietro Angst, er hat Angst und möchte sich zu seinem Vater umdrehen, ihn fragen, ob auch er diese Frau sieht, fragen, wer sie ist, ob sie seine Mutter ist, fragen, warum sie da steht, warum sie ihn denn nicht begrüßt hat; aber er starrt nur wie angewurzelt auf diese Silhouette, die verschwindet, als ein Blitz über den Himmel zuckt und irgendwo in der Nähe einschlägt und im ganzen Umland nachhallt, als die Lichter ausgehen, alle, die der Straßenlaternen, die in den anderen Häusern, die im Schlafzimmer, als nur noch die auf die Katze gerichtete Taschenlampe brennt, und die Stimme seines Vaters zu ihm sagt, tötest du sie?