ER HAT DEN GANZEN TAG GESCHLAFEN, hat nicht zu Mittag gegessen, ist vor einem dieser Nachmittagsfilme erneut eingeschlafen, und jetzt flimmern Cartoons über den Bildschirm, die er schon als Achtjähriger nicht mehr mochte. Er hört, wie sie zurückkommt, ins Schlafzimmer geht, er hört, wie sie ihre Arbeitskleidung auszieht.
Er weiß, dass Miriam nun duschen wird, dass ihr der Job nicht gefällt, dass sie sich nach der Arbeit schmutzig fühlt und es kaum erwarten kann, sich gleich nach dem Heimkommen zu waschen. Er stellt sich ihren Gesichtsausdruck vor, nebenan im Schlafzimmer; sie sind ja nur wenige Meter voneinander getrennt, aber es gefällt ihm, sie sich vorzustellen, mit müdem Gesicht, in Gedanken noch beim Geschrei des Chefs, seinen Stimmungsschwankungen, den Missverständnissen mit den Kollegen.
Er stellt sich vor, wie sie nackt aus dem Zimmer tritt, hört die Schritte auf dem Fußboden, dann sieht er sie, da vor ihm, angezogen, und beobachtet, wie sie die Tür zum Badezimmer öffnet und hinter sich zumacht, hört das Geräusch der Dusche.
Er erhebt sich vom Sofa, zieht sich aus, wirft die Hose auf den Boden, samt Unterhose und T-Shirt, die er als Pyjama trägt, geht ein paar Schritte, kehrt dann um und sammelt die Kleider schnaufend ein, faltet sie und legt sie ordentlich auf die Sofalehne.
Unterdessen hört er, wie hinter der Badezimmertüre das Wasser rauscht, er weiß, dass sie länger unter dem siedend heißen Strahl stehen wird als zum Waschen nötig, er stellt sich ihre Haare vor, unter der fuchsienroten Badehaube versteckt, damit sie nicht nass werden, das Wasser auf ihrem Hals, wie es den Rücken hinunterrinnt, über die Schultern, wie es um den Bauchnabel kreist und einen winzigen Wirbel erzeugt, bevor es ihr über Leisten und Schenkel läuft. Schon erregt, öffnet er lächelnd die Tür, schiebt den Duschvorhang beiseite, betrachtet ihren Rücken, die Schultern, die von dem heißen Schwall gerötete Haut, betrachtet die Linien, die Grübchen am Ende des Rückens, die Wirbelsäule. Die Hände an die Wand gestützt, steht sie da, den Blick gesenkt, mit geschlossenen Augen.
Das Wasser spritzt auf ihn und sie merkt es, dreht sich um, fragt ihn, was er da wolle, sagt, er solle den Vorhang zumachen, es komme kalt herein, sie müsse sich entspannen.
Geh weg, sagt sie zu ihm.
Pietro antwortet nicht und umfasst ihr Gesicht mit den Händen, um sie zu küssen, sie sagt Nein, sie habe keine Lust, sie wolle allein sein.
Hör auf, sagt sie zu ihm.
Er macht schweigend weiter, fährt mit den Händen über ihren Körper, während sie ernst ihr Nein bekräftigt.
Drüben, in dem, was sie Wohnzimmer nennen, zieht er sich wieder an, schaltet auf einen anderen Kanal, wartet, bis sie schon angezogen aus dem Bad kommt, ihn nicht ansieht, nichts als Gleichgültigkeit zeigt.
Er weiß nicht, was er tun oder sagen soll, sitzt einfach da und zappt durch die Programme, drückt wahllos mit dem Finger die Tasten der Fernbedienung, die Ohren gespitzt, um die Geräusche zu hören, die aus dem Schlafzimmer kommen, bei geschlossener Tür.
Dann steht er vom Sofa auf, geht hin und legt sein Ohr an die Mattglasscheibe, er lauscht und hört nichts, sieht nur das Licht brennen, hebt die Hand, um zu klopfen, um zu fragen, ob er hereinkommen darf, um sich umarmen zu lassen.
Er denkt wieder an Miriams Ausdruck unter der Dusche, an diesen entschlossenen Blick, an das Nein, an den Schaum, der ihre Brust, ihren Bauch bedeckte, an den geröteten Hals, das blassere Gesicht. Daran, wie viel sie unter diesem Wasserschwall schon gelacht haben, daran, wie sie einmal ausgerutscht sind und er sich das Knie verstaucht hat, an ihre Art, darüber zu reden, sich manchmal vor dem Einschlafen daran zu erinnern, bei einem Film oder wenn sie abendfüllende Fußballspiele im Fernsehen über sich ergehen lässt.
Die machen sich bestimmt nicht das Knie kaputt, wenn sie unter der Dusche vögeln, sagt sie manchmal zu ihm.
Pietro geht wieder zurück aufs Sofa vor den Fernseher, es gibt eine Sendung über ein Tierheim, Welpen mit traurigen Augen. Er schaut auf die Wanduhr, wie spät es ist, eine Mickymaus-Uhr, die Miriam unbedingt hatte kaufen wollen auf einem Flohmarkt, wo sie ihn hingeschleppt und er sich tödlich gelangweilt hatte, er lächelt und steht auf.
Er macht sich zurecht, um zur Arbeit zu gehen, schlüpft wieder in die Kleider vom Vortag, hofft, dass es niemand bemerkt, dass ihn niemand fragt, warum er denn nicht etwas anderes angezogen habe.
Fast drei Jahre leben sie nun schon zusammen, drei Jahre seit jenem Tag, an dem sie zusammen im Bett gefrühstückt und aus derselben Kaffeetasse getrunken hatten, nicht in der jetzigen Wohnung, sondern in der, wo er damals wohnte und wo sie ihn an den Wochenenden besuchte. Die Mitbewohner schliefen noch an jenem Morgen, er hatte die Rollläden hochgezogen und den strahlend blauen Tag gesehen, die Sonne leuchtete auf den Dächern, auf dem Taubendreck in den Nischen der Häuser gegenüber.
Er hatte sich noch nicht an die Farben der Stadt gewöhnt, sie kamen ihm anders vor, irgendwie plastisch: Manchmal gab es Sonnenuntergänge, die waren wie zum Anfassen, dachte er, hätte er einen Finger ausstrecken und über diese Schattierungen von Violett und Orange streichen können, wäre der Finger fleckig geworden.
Alles schien lebendig, auch die Verschmutzung, der Verkehr, auch die Gerüche nach Müll und den Abgasen der Autos, die an den Ampeln hupten. Miriam meinte spöttisch, er käme ihr vor wie der Protagonist eines alten Films, in dem ein Bauer in die Stadt zieht und sich nicht eingewöhnen kann.
Sie hatten sich an jenem Morgen geliebt, und es hatte Pietro befremdet, dass Miriam ihn an den Haaren gepackt, ihn in den Hals gebissen, ihm den Rücken zerkratzt hatte, aber hinterher hatte er den Eindruck, ihre Augen wären feucht und sie kämpfte mit den Tränen.
Er hatte sie nichts gefragt, war aufgestanden und hatte ihr den Kaffee ans Bett gebracht.
Sie hatten sich angezogen, sich auf dem Gehsteig an der Hand gehalten, während sie an der Ampel warteten, dem gedämpften Lärm zuhörten, der sie umgab, den Rufen der Ladenbesitzer vor ihren Schaufenstern.
Es gab Bäume, die aussahen, als stünden sie zufällig da, die Blätter grün und krank, feiner als die, die er kannte.
Sie waren schöner, genau wie die großen Mietskasernen, die ihm wie Wolkenkratzer vorkamen, die Tristesse dieser immer gleichen Fenster, die früher farbig umrandet waren, um gemütlicher zu wirken, und auch die bröckelnden Fassaden, denen die Abnutzung und die Zeit zugesetzt hatten, waren schöner, gewissermaßen realer, echter, selbst die Farben der sie bedeckenden Graffiti wirkten echter.
Vorwiegend handelte es sich um unverständliche Schriftzüge, Wörter, geformt aus lang gezogenen Buchstaben, die sich über häufig apokalyptische Bilder schlängelten, Bombenexplosionen und zerstörte Städte, Buchstaben, die in Schieflage einen Anspruch auf Tiefe erhoben, Schriftzüge, die ihm komplexer und sinnvoller erschienen als die auf den Mauern seines Dorfes, nachdrücklicher, glaubwürdiger.
Sie hatten sich unterhalten und einander zugehört, waren Leuten begegnet, die ihre Hunde ausführten, Alten, die in der Mitte trostloser Parkplätze auf Bänken saßen. Miriam erzählte ihm, was in Fabbrico los war, den Klatsch, die tödliche Langeweile des Lebens in der Provinz, die verkehrsberuhigte Piazza, die Demonstration der Ladenbesitzer vor dem Rathaus, dass jemand Bananenschalen im Eingang der Kommune verstreut hatte, sie fragte, ob er an Weihnachten und zum Fest am 27. Februar nach Hause käme.
Beim Erzählen fuhr sie sich ab und zu spielerisch mit der Zunge über den abgebrochenen Zahn, während er auf den dreckigen Gehsteig starrte, auf das Unkraut und die Blumen, die in den Ritzen des Belags wuchsen, der gar kein Asphalt zu sein schien.
Pietro hatte angefangen, ihr von den Vorlesungen an der Uni zu erzählen und wie er sich dabei fühlte, und ihr zu erklären versucht, dass er spürte, wie er nach und nach alle Zusammenhänge begreifen würde.
Er hatte nie ihre Hand losgelassen, nicht einmal, als sie in die U-Bahn hinuntergingen und ihnen Leute entgegenkamen oder langsamer gingen, nicht einmal, als er gezwungen war auszuweichen, um nicht mit dieser unbekannten, verführerischen Menschenmasse zusammenzustoßen.
Sie waren in den Zug gestiegen, hatten Sitzplätze gefunden, er hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt und sie an sich gedrückt und auf die Haare, die Wange und die Nase geküsst, sie hatte mit der Hand ihre Nase gerieben und gefragt, was denn los sei.
Du bist komisch.
Nichts, hatte er erwidert, alles ist gut.
In der U-Bahn hatten sie aus dem Fenster geschaut, auf die Dunkelheit im Tunnel und dann die künstliche Helligkeit in den Stationen, wenn sich die Türen öffneten. Pietro zwang sich immer noch, niemanden anzuschauen, er wollte sein Staunen nicht zeigen, seine Verwunderung über die Menschen, die so anders, so exzentrisch waren, seine Freude darüber, sich zwischen all diesen Leuten zu befinden, die in den Zähnen stocherten, Ohrringe an Stellen trugen, die er nicht für möglich gehalten hätte, und absurd gefärbte Haare hatten, so bunt gemischte Menschen neben diesen anderen, graueren Leuten, elegant, gleichgültig, mit ihren Aktenköfferchen und dem Zwang, ständig auf die Uhr zu schauen.
Er wollte sich tarnen, als einer gesehen werden, der er nicht war, ein Städter, gewöhnt an die Andersartigkeit. Er dachte an seinen Vater, an die Ape, lächelte bei der Vorstellung, ihn in diesen Straßen herumfahren zu sehen.
Oben an der Treppe hatte die Sonne sie geblendet, er hatte seine Augen mit der Hand abgeschirmt und Miriam hatte ihre geschlossen, einen Moment waren sie so stehen geblieben, bis sich der Blick an das Licht dieses Tages gewöhnt hatte.
Es gehörte zu ihren Ritualen, zu warten, bis das Viertel sich allmählich zeigte, dazustehen und zu überprüfen, ob alles noch an seinem Platz war, denn sie hatten immer das Gefühl, dass sich alles ändern könnte, dass die Stadt unablässig in Bewegung war, sich ständig weiterentwickelte.
Sie waren froh, den Zeitungskiosk wiederzuerkennen, den jungen Blumenverkäufer dort auf dem kleinen Platz mit dem Taxistand, die Straßenbahnhaltestelle und die Geräusche. Es war herrlich, wie unterschiedlich dieselbe Stadt von einem Ort zum anderen wirkte, die Strecken schienen ihm unendlich weit, die Viertel so charakteristisch, dass er sie instinktiv als die Arme, die Beine, die inneren Organe ein und desselben Organismus empfand.
Es gab alte Palazzi und Blumen an den Fenstern, breite Straßen, in deren Mitte Bäume wuchsen, es roch nach Essen, nach Menschen, nach dem Frühling, der seit Wochen keinen Tropfen Regen zugelassen hatte.
Hier umgab sie eine ganz andere Farbe als dort, woher sie kamen, heller, stärker auch die Schatten in den Gärten, eine Helligkeit, die der Angst nicht einmal im Dunkeln Raum ließ, eine Luft, die die Lungen mit Möglichkeiten erfüllte.
Sie waren lange gelaufen, waren über gelb blinkende Ampeln gerannt und waren Menschen gefolgt, die es nicht eilig hatten. Sie hatten in die Fenster im Erdgeschoss gespäht, die geschlossenen Büros gesehen, jemanden, der etwas kochte, und eine Frau, die ein Lied sang, ein Kind, das auf dem Sofa saß und fernsah. Sie hatten vierspurige Straßen überquert, waren hupenden Autos ausgewichen, hatten gelacht und sich an der Hand gehalten und sich an roten Ampeln geküsst.
Pietro hatte Miriams Hand losgelassen, hatte den Schritt beschleunigt, und sie hatte gelächelt, er betrat gern als Erster den Palazzo, der ihr Geheimnis war, lief auf den Steinplatten durch den Gang, der in einen efeuumrankten Innenhof mit Beeten und Primeln und süßen, farbigen Düften mündete.
Innen, im blauen, von Dächern eingerahmten Rechteck des Himmels, hatte er sich auf die eiserne Bank gesetzt, hatte auf sie gewartet und dabei den Kopf auf die Rückenlehne gestützt.
Er hatte ihre Schritte gehört und mit geschlossenen Augen ihr sich näherndes Parfüm wahrgenommen, hatte gespürt, wie sie ihn auf die Wange küsste und sich dann neben ihm ausstreckte und den Kopf auf seine Beine legte. Ein paar Sekunden hatten sie geschwiegen, in der Stille des Innenhofs, im Sonnenschein, der die Efeublätter rundherum grün leuchten ließ, dann hatte er sich eine Zigarette aus der Hosentasche geangelt, sie hatte sich aufgesetzt, er hatte den Rauch ausgestoßen, hatte sie angelächelt und sich zu ihr gebeugt, um sie zu küssen.
Sie hatte ihm die Hand auf die Brust gelegt, die Augen feucht wie an jenem Morgen.
Warte, hatte sie gesagt, ich muss dir was sagen.
Pietro hatte gewartet, bis sie aufhörte, mit der Zunge an ihrem abgebrochenen Zahn zu spielen, bis sie die richtigen Worte gesucht und gefunden hatte, er hatte weitergeraucht und sich auf die Steine, auf die Beete, die Blumen und den Efeu konzentriert, der an diesen Mauern hinaufkletterte, auf eine Amsel, die sich nicht um ihre Anwesenheit scherte.
Er hatte ihre Schwierigkeit gespürt, ihren Duft in der Nase.
Er hatte gedacht, sie wolle ihn verlassen, sie habe sich in einen anderen verliebt, und hatte geschwiegen, an seinen Vater gedacht und daran, dass es schon drei Monate her war, seit er ihn zum letzten Mal gesehen hatte.
Bei dem Gedanken, keine Bindungen mehr zu haben, wenn nun auch Miriam ihn verlassen würde, hatte er gelächelt dort auf der Bank, dann würde er keine Wurzeln mehr haben.
Noch immer lächelnd, hatte er sich zu ihr umgedreht, ihr Profil und ihre gesenkten Augen betrachtet, als sie zu ihm sagte, dass es schön wäre, im nächsten Jahr zusammenzuziehen, wenn sie sich an der Universität einschrieb.
Jetzt betritt er den Pub, und Riccardo mustert ihn und schüttelt den Kopf. Pietro sagt nichts zu ihm, geht zur Garderobe und bindet sich die Schürze um, beginnt zu arbeiten, nimmt Bestellungen auf, zapft Biere und serviert Hamburger auf immer zu vollen Tabletts, scherzt mit den Gästen, denkt an Miriams Gesicht, an ihre Züge, an den unmissverständlichen Blick, mit dem sie ihn aus der Dusche vertrieben hatte, an das Zusammenleben mit jemandem, den man selbst nach drei Jahren noch nicht ganz kennt.
Riccardo ermahnt ihn, wach auf, sagt er zu ihm und deckt ihn, wenn er sich im Tisch irrt, Sachen vergisst; in einer Pause legt er ihm die Hand auf die Schulter, fragt, was er denn habe, und Pietro antwortet nicht und arbeitet wortlos weiter.
Nach der Arbeit treffen sie sich draußen zum Rauchen, die Straße ist menschenleer, abgesehen von Taxis und ein paar Leuten, die warten. Riccardo versucht es jedes Mal, Pietro lehnt immer ab, ich habe doch aufgehört, ich will keine Zigarette von dir, Riccardo zündet sich eine an und sagt, dass sie jetzt auf ein Fest gehen.
Du siehst aus wie einer, der ein Fest braucht.
Da hast du wohl recht, erwidert Pietro.
Sie gehen durch das Dunkel der Stadt, begegnen Gruppen, die Arm in Arm singen, grölen und lachen, auch sie singen und grölen, und jetzt, unterwegs, erzählt Pietro Riccardo von Miriam, spricht über das Zusammenleben, die Zweifel, das Gesicht, die Gleichgültigkeit an diesem Nachmittag, die Tatsache, dass sie die Erste ist, bei der er sich sicher und aufgehoben fühlt. Riccardo bleibt stehen, und Pietro dreht sich um, sie sehen sich an, und die Stadt schweigt, abwartend, gespannt.
Und Pietro dreht sich zur Straße hin, zu den Bäumen, den orangefarbenen Blättern und dem Chaos, das aus den geöffneten Fenstern über ihnen kommt; mitten auf diesem Gehsteig denkt er darüber nach, warum er und Miriam zusammen sind, er wippt mit den Füßen, fragt sich, ob der Grund ist, dass er keine Mutter gehabt hat, seine Angst, niemanden mehr zu finden, dass ihn niemand will, und denkt, dass er jetzt doch gern eine Zigarette hätte.
Woher soll ich das wissen, antwortet er.
Sie drücken auf eine Klingel und gehen in einem alten Mietshaus mit umlaufenden Balkonen lachend die Treppe hinauf, der Abend duftet, und aus der Wohnung, die sie jetzt betreten, hört man Gesang. Eine Wohnung voller Leute, die Pietro noch nie gesehen hat, alle lächeln ihn an, klopfen ihm auf die Schulter, Mädchen küssen Riccardo auf die Wange, umarmen ihn, drücken ihn, jemand sagt ihm, er freue sich sehr, dass sie gekommen sind.
Aus Plastikbechern trinken sie Bier und Cocktails, bewegen sich in einem rötlichen Licht durch die Räume, und es riecht nach Haschisch, man hört Gelächter und diesen Song der Blues Brothers, der gerade anfängt.
Pietro tanzt mit einem Mädchen, das ihn an der Hand nimmt, er weiß nicht, wie sie heißt, und es interessiert ihn auch nicht, er hält sie an den Fingern, sie ist leichtfüßig, er lässt sie Pirouetten vollführen, sie hüpfen, drücken sich und lachen, als sie mit ihren langen, nach Rauch duftenden Haaren sein Gesicht peitscht.
Als der Song zu Ende ist, sind sie außer Atem, und Riccardo ruft ihn aus dem Zimmer heraus. Sie weichen Leuten aus, die sich im Flur drängen, die vor der Toilette Schlange stehen, die sich an die Wand gelehnt küssen.
An der Decke in der Küche hängt eine nackte Glühbirne, die jemand rot angemalt hat, die Luft ist elektrisiert, ein Junge, der auf dem Boden sitzt, klimpert an den Kühlschrank gelehnt auf einer Gitarre, zwei andere starren auf einen leeren Teller, den sie bei kleinster Flamme auf dem Herd erhitzen, Riccardo winkt dem Mädchen, sich auf einen der freien Stühle zu setzen, Pietro verneigt sich vor ihr und sagt, ich werde dich Gaia nennen, sie lacht und er lacht auch.
Gaia hatte er auf dem Gymnasium kennengelernt. Er hatte sich gemeldet und um Erlaubnis gebeten, aufs Klo zu dürfen, war hinausgegangen, hatte durch die Fenster im Flur die Straße betrachtet, war vor dem Kaffeeautomaten stehen geblieben, hatte gewartet, bis die beiden Lehrer sich bedient hatten, sie hatten ihn nicht beachtet, nichts gesagt.
Mit einer Grimasse hatte er seinen Kaffee ausgetrunken, war in der Toilette verschwunden, die sie stillschweigend das Raucherklo getauft hatten, und hatte sich eine Zigarette angezündet. Er hatte das Fenster zum Hof geöffnet, mit Blick auf die abgestellten Fahrräder, die Skooter, den Fußballplatz hinter der Turnhalle, das Grün des Grases, das an diesem Oktobertag unter riesigen weißen Wolken leuchtete, und davor die schief wachsenden Bäume, deren Blätter gelb zu werden begannen. Er hatte sich gefragt, warum er rauchte.
Mit hochgeschobenen Ärmeln hatte er dagestanden, auf das Fensterbrett gestützt. Als sie hereinkam, hatte Pietro sie nicht gehört, gehört hatte er das Geräusch des Feuerzeugs und des ausgestoßenen Rauchs.
Er hatte sich umgewandt und sie gesehen, die Augen vom Weinen gerötet, hohe, vorstehende Wangenknochen, die Lippen zum Schmollmund gekräuselt. Er hatte gesehen, wie sie sich an der Wand hinuntergleiten ließ, sich auf den Boden setzte, aus dem Spiegel verschwand, in dem er sie beobachtete. Er fürchtete sich davor, ihren Augen zu begegnen, ohne dass eine Fläche sie trennte.
Willst du ein Foto, hatte sie ihn gefragt. Ihre Stimme klang seltsam, tief, zittrig.
Das ist das Männerklo, hatte er gesagt.
Störe ich dich?
Nein, vielleicht wusstest du es nicht.
Danke, Bauernlümmel.
Entsch…
Ich, ich bin von hier. Für wen hältst du mich, verdammt noch mal?
Entschuldige.
Nein, ich muss mich entschuldigen. Scheißtag heute.
Tut mir leid.
Schluss mit Leidtun. Lass es sein.
Entschuldige.
Ich heiße Gaia, und du?
Pietro.
Okay, ciao Pietro. Jetzt gehe ich, die Scheißdrogenabhängige muss zurück in den Stall.
Ciao.
Er hatte zugeschaut, wie sie aufstand, sich durch die Haare fuhr, hatte ihre Ohren, ihre Finger, ihr Profil betrachtet, hatte gesehen, wie sie hinausging, vorbei an dem Schild, auf dem stand, KEINE KIPPEN AUF DEN BODEN WERFEN. Sie hatte die Zigarette zu Ende geraucht und auf dem Fußboden ausge treten.
Auf dem Fest an Weihnachten hatte er sie wiedergesehen, sie trug eine weiße Bluse und Hosenträger, befestigt an einem grauen Rock, dazu rote Schuhe, rot wie die Unterwäsche, die man im Flackern der phosphoreszierenden Lampen aufblitzen sah. Er hatte ihren Blick in seinem Rücken gefühlt, hatte sich umgedreht und war Gaias Augen begegnet, während sie von der kleinen Couch aufstand, auf der sie gesessen hatte; er hatte gesehen, wie sie durch die Menge ging, die sich, so schien ihm, bei ihrem Vorübergehen öffnete, er hatte seine Haare zurückgestrichen, die zu schwitzen begonnen hatten, unfähig, den Blick von dem ihren abzuwenden, der, hatte er gedacht, dem seiner Mutter glich.
Die Musik hatte geschwiegen, alles war still, und die Lichter beleuchteten nur sie beide, als sie voreinander standen, sie sich auf die Zehenspitzen stellte, ihn auf die Wange küsste – ihr Atem roch nach Alkohol – und zu ihm sagte, ciao.
Den ganzen Abend hatten sie dann geredet, einander Dinge anvertraut, die sie noch nie jemandem gesagt hatten, und weiter getrunken, sich berührt und so getan, als wäre es zufällig.
Er hatte ihre Hände betrachtet, ihr Gesicht, das Lächeln, die Wangenknochen, und sie hatte so getan, als sei nichts dabei, als er ihr das Haar hinters Ohr zurückstrich, sie hatte ihm nicht geantwortet, als er sie fragte, warum sie denn an jenem Morgen dort im Klo geweint hätte, komm, hatte sie gesagt, ich zeig dir was.
Sie hatte ihn an der Hand genommen und durch die Menge geführt, die das Lokal bevölkerte, Richtung Toilette, dort hatten sie gewartet, dass frei würde, und sich weiter aus nächster Nähe angesehen, fast Nase an Nase, und ihr Atem roch nach Zigaretten.
Pietro hatte sie geküsst und sich küssen lassen, bis sie gesagt hatte, er solle hineingehen, und drinnen, er solle die Türe schließen. Er hatte gehorcht, sich umgedreht und gesehen, wie sie ein durchsichtiges Tütchen aus der Handtasche zog und ihm befahl, eine Karte und einen Geldschein zu suchen. Wieder hatte Pietro gehorcht, und er würde für immer gehorchen, er hatte zugesehen, wie sie ihm die Karte aus der Hand nahm, ihm sagte, er solle den Geldschein zusammenrollen, und das Pulver auf den Spülkassen des Klos streute, zwischen den weißen Kacheln und den überall hingekritzelten Telefonnummern.
Das ist das erste Mal, stimmt’s, hatte sie ihn gefragt.
Pietro hatte bejaht, und dann hatte er es ihr nachgemacht, hatte wie sie jede Linie hin und her durch die Nase gezogen.
Vögle mich, hatte Gaia zu ihm gesagt, während sie ihre Strumpfhose herunterzog.
Sie hatten es im Stehen getan, sie hatte sich zur Wand gedreht, er hatte sie an den Haaren gepackt, auf den Hals geküsst, ihr die Finger in den Mund gesteckt, den Busen gedrückt und sich heftig in ihr bewegt, bis sie wimmerte, er solle nicht kommen, sie wolle ihn in den Mund nehmen.
Für Pietro war alles fantastisch gewesen, das Herz, das wie wild klopfte, die Zunge und die Lippen, die er nicht spürte, die betäubt waren, das Licht in der Toilette, das sich spiegelte und greller wurde, und Gaia war fantastisch, als sie sich hinkniete, ihn leckte und schluckte und lachte und immer weiter lachte, während er ihren Kopf hielt und sich seinem Orgasmus überließ.
In ihre Mäntel eingemummt hatten sie das Lokal verlassen, um eine Zigarette zu rauchen, der stammt von meinem Großvater, hatte er gesagt, als sie ihn aufzog, weil seine Ärmel zu kurz waren, bevor sie dann vor einem Hauseingang stehen blieb und ihn zu ihren leicht geöffneten Lippen herunterzog.
Er hätte ihr gern noch länger die Hand gehalten, ihr etwas gesagt, ihr erklärt, wie er sich fühlte, mit ihr über Musik gesprochen, über seine Lieblingsgruppen, ihr die Songs vorgespielt, die er vor dem Einschlafen hörte, er hätte sie gern umarmt, für immer ihren Geschmack auf seinen Lippen gerochen, ihr von seiner Mutter erzählt.
Er hatte sie nur gefragt, wann sie sich wiedersehen könnten.
Sie hatte ihn angeschaut und gelächelt, hatte sich wieder auf die Zehenspitzen gestellt, sein Ohrläppchen zwischen die Lippen genommen und geflüstert, sie fahre nach Madrid, sie ziehe dorthin um, für immer.
Jetzt holt er die Brieftasche heraus, während einer der beiden Jungen das Kokain auf den Teller leert und Pietro den weißen Block mit seiner Gesundheitskarte zerstückelt und zerdrückt, verteilt und verfeinert. Riccardo nimmt einen Fünfeuroschein und rollt ihn zu einem Röhrchen zusammen, und die anderen verspotten ihn, weil man Fünfer nicht zum Ziehen verwendet, da braucht man Fünfziger, sagen sie zu ihm, das ist ein Armutszeugnis.
Sie lachen, und Pietro hat inzwischen für jeden eine Linie vorbereitet und das Pulver am Tellerrand aufgehäuft, bereit für neue Linien, sie ziehen, hin und her, zuerst das eine Nasenloch, dann das andere, der Junge mit der Gitarre spielt misstönend weiter, beginnt zu singen und scheint völlig uninteressiert an ihnen, die nun betäubt sind.
Pietro spürt seine Lippen nicht mehr, er spürt nicht mehr, wenn er schluckt, es ist ein seltsames Gefühl, als fehlte ihm ein Stück, er fühlt sich von der Welt losgelöst und gleichzeitig Teil von allem, die Farben sind jetzt leuchtender, das Lachen klirrender, die Gesichtszüge des Mädchens ausgeprägter, ihre Zähne weißer.
Sie bleiben am Tisch sitzen, rund um den Teller, reichen sich den Geldschein weiter, um Koks zu schnupfen, um zu schmecken, wie das Bittere den Hals hinunterläuft, das sie erfüllt und Pietro mit der Freude erfüllt, hier zu sein, über nichts zu reden, nichts zu hören, über Wörter zu lachen, die er nicht versteht, gesprochen in einem Dialekt, den er nicht kennt.
Es riecht nach Zitrusfrüchten, Lavendel, Deodorants und Schweiß, und alles vermischt sich für ihn in dieser Nacht zu einem einzigen Duft, er wünschte, sie würde nie zu Ende gehen, und ist glücklich, als einer der Jungen wortlos noch ein Tütchen hervorholt und ausleert. Sie ziehen noch einmal und noch einmal, und Pietros Herz klopft und klopft, und er ist überzeugt, wenn er sich das T-Shirt auszöge, könnte man sehen, wie die Haut pulsiert im Rhythmus dieser sinnlosen Reden, die sein Gehirn beruhigen, sodass er sich wohlfühlt, unbeschwert, als könnte er nun alles in Ordnung bringen, als wäre alles unwichtig, oberflächlich, machbar.
Als die Droge alle ist, stehen sie auf, gehen zurück ins Wohnzimmer, setzen sich auf ein leeres Sofa, jetzt sind weniger Leute da als zuvor, unter dem Flackern der Lampen fragt er sich, wo sie alle hingekommen sind, er würde gern wissen, wem die Wohnung gehört, und denjenigen sagen, sie müssten die Glühbirne austauschen, er fragt sich, wie spät es wohl ist.
Dann singen sie alte Songs, die alle auswendig können, sie singen und das Mädchen legt den Kopf auf seinen Schoß. Streichle meine Haare, sagt sie. Er gehorcht, streichelt ihren Kopf, ihre Wange, ihr Gesicht, ihm ist, als sei Weihnachten jetzt, sie lächelt und rollt sich zusammen und es wirkt, als sei sie eingeschlafen, während man durchs Fenster hinter diesen lila Vorhängen den Tag heraufdämmern sieht an einem Himmel, der sich blau färbt, als die Sterne verlöschen und jetzt Sonnenstrahlen fließend über den Fußboden und über Pietros Schuhe kriechen, als er sich langsam vom Sofa erhebt, geräuschlos, ohne jemanden zu wecken.