DIE STADT IST IMMER NOCH DIE GLEICHE, auch der Himmel, die helle, lustlose, gleichgültige Sonne, die Häuser, die Gesichter der Menschen, denen sie begegnen, die Gehsteige, die Haustüren, alles wie immer. Die Straßen sind die gleichen, die Ampeln, die Treppen zur U-Bahn, die sie hinuntergehen, die Menschen, die ihnen entgegenkommen, die, die rasch draußen noch rauchen, ein Mann, der ein Lied singt und den Hut hinhält, die Menge, die gesenkten Blicke, auch die einfahrenden Waggons, die Bremsgeräusche, der Geruch des Tunnels, die sich öffnenden Türen, auch die Sitze, auf denen sie Platz nimmt.
Pietro bleibt stehen, die Hand um den Griff des Koffers geklammert, trotzt er dem Gerüttel des Wagens, kreuzt nie Miriams Blick hinter der schützenden Sonnenbrille, die fast ihr ganzes gerötetes Gesicht verbirgt.
Weinend ist sie aus einem Albtraum erwacht, zum Frühstück sind sie in die Bar gegangen, sie hat nichts gegessen und nichts getrunken, er hat sich schuldig gefühlt, als er einen Orangensaft, ein Hörnchen und einen Espresso bestellt hat.
Komm, wir machen nichts schmutzig, hat sie zu ihm gesagt, als er den Kaffee aufsetzen wollte, Pietro hat es gewundert, dass sie an so etwas denkt, an die Tassen, die wer weiß wie lange da im Spülbecken stehen bleiben würden.
Er denkt auch jetzt noch daran, während sie sich von der Rolltreppe hinuntertragen lassen, im Bauch dieses riesigen Bahnhofs herauskommen, zu ihrem Bahnsteig gehen, zu ihrem klapprigen Zug, während die Tauben furchtlos herumfliegen, wenige Leute zusammen mit ihnen einsteigen und er denkt, dass er sich vielleicht nicht traurig genug fühlt.
Sie hat sich ans Fenster gesetzt, hat den Kopf an die mit Filzstift bemalte Scheibe gelehnt, sie wirkt erhitzt, Pietro verstaut den Koffer über ihnen, hört, dass sie etwas sagt, versteht es aber nicht, lächelt ihr zu und setzt sich neben sie, nimmt ihre Hand und streichelt sie, sie haben ein leeres Abteil ausgewählt, darum hatte sie ihn gebeten, setzen wir uns wohin, wo niemand ist.
Als der Zug schnaufend anfährt, führen die Gleise durch die Peripherie, an den Fernsehanstalten vorbei, an immer gleichen Wohnblocks und Wolkenkratzern vorbei, an der Wäsche, die in dieser hartnäckigen Feuchtigkeit zum Trocknen aufgehängt ist unter der blassen Sonne, die jetzt hinter der grauen Mauer des Novemberhimmels hervorkommt.
Sie sprechen nicht, hören den Zug bremsen und dann in den Bahnhöfen anhalten, der Wind rüttelt an den Scheiben, die Stadt geht in Land über, Bäume und Häuser, kleine Dörfer, die sich auf diesem auch im Herbst noch grünen Fleck der Ebene häufen, gepflügte Felder, die Kühe im Stall, die Kanäle, die Gräben, die Vögel in den Gräben und die, die auf den schiefen Lichtmasten sitzen.
Pietro fragt sich, warum er eigentlich jetzt hier ist, aus Scham, aus Pflichtgefühl, aus Schuldgefühl, aus Liebe, aus Angst?
Nebenan ist eine senegalesische Familie, sie spielen mit ihrem Kind, singen in einer fremden Sprache, mit entspannter Musikalität. Miriam schaut sie verärgert an, Pietro nicht, er beobachtet, wie der Vater seinen Sohn auf den Knien hält, ihn hüpfen lässt und das Kind in einem ganz eigenen Rhythmus in die Hände klatscht, wie die bloßen Füße der Mutter die Beine des Vaters streicheln, diese Intimität ohne Scheu.
Miriam drückt ihm die Hand, so bleiben sie sitzen bis zu dem Bahnhof, an dem sie aussteigen müssen, sie steht zuerst auf, zu früh, er möchte sie zurückhalten, tut es aber nicht, sagt nichts, steht ebenfalls auf und nimmt den Koffer, sie betrachten sich in der Glasscheibe der Tür wie in einem Spiegel, es ist, als bewegte sich die Landschaft draußen schneller als vorher, als sie noch saßen, er hat die Hände in den Taschen, sie lehnt sich an einen Metallpfosten neben ihr.
Sie schweigen, das Geräusch ändert sich, der Zug bremst ab, Miriam zieht ihr Handy aus dem Kamelhaarmantel, den er ihr geschenkt hat, liest eine SMS, meine Mutter erwartet uns auf dem Platz vor dem Bahnhof, sagt sie.
Als sie aussteigen, ist es kalt, kälter als bei der Abfahrt. Der Wind braust über die Gleise, hat das Grau vom Himmel gefegt, der jetzt fast blau ist.
Mit gesenktem Kopf bewegen sie sich in dem Strom von Menschen in der Unterführung, Miriam geht voraus, er hinter ihr, etwas abseits, auch, als sie draußen sind, als sie ihrer Mutter entgegenläuft, als die zwei Frauen sich umarmen und Pietro zu vergessen scheinen, der sich eine Zigarette anzündet.
Sie bemerkt es gar nicht, hat zwischen den Leuten, die den Platz bevölkern, die Hände auf die Schultern ihrer Mutter gelegt in einem seltsam fahlen Winterlicht. Geht es dir gut, fragt sie, wie geht es Papa, gibt es Neuigkeiten, fragt sie, hast du mit den Ärzten gesprochen, mit irgendwem.
Die Mutter verneint, die Nacht sei ruhig gewesen, er sei stabil, niemand sage ihr etwas. Sie beginnt zu weinen, und die beiden umarmen sich erneut, drücken und trösten sich.
Alles wird gut, flüstert Miriam ihrer Mutter ins Ohr, in das zu einem straffen Pferdeschwanz gebundene Haar.
Alles wird gut, sagt sie und dreht sich zu Pietro um, der nach einer Taube tritt, woandershin schaut, in die Ferne jenseits der Stadt, in der sie angekommen sind; über die Straßen voller Autos, über die Beete und die Parks, die Plätze, die Theater, die vom Industriegebiet gezogenen Grenzen hinweg betrachtet er das offene Land, die Felder, die Farben entlang der Wiesen vor Fabbrico und drückt seine Zigarette aus.
Fährst du bitte?
Sie steigen ins Auto, Pietro will das Radio einschalten. Dann lässt er es, es kommt ihm pietätlos vor.
Er konzentriert sich auf die Straße, auf die Hinweisschilder, auf den Verkehr in dieser Kleinstadt, passt auf, dass er nicht auf die Bus- und die Taxispur gerät, achtet auf die Fußgänger und die Fahrradfahrer, die vorbeischießen, ohne nach rechts und links zu schauen.
Als die Stadt zu Ende ist, als er rundherum diese flache Landschaft sieht, die ihm, entdeckt er, noch immer vertraut ist, fällt ihm ein Song ein, ein Song, den Ettore immer hörte, als er noch klein war, è uno stallo o un rifiuto crudele e incosciente del diritto alla felicità. Es ist ausweglos oder eine grausame und leichtsinnige Verweigerung des Rechts auf Glück.
Er erkennt, dass er nie wirklich weggegangen ist, dass dieses Land, diese Ebene, diese Farben, dieser fahle Himmel und diese Feuchtigkeit, die über den Feldern liegt, immer sein Zuhause sein werden.
Er umklammert das Lenkrad, Miriam streckt die Hand aus und streichelt ihm über den Schenkel, er dreht sich zu ihr und lächelt sie an, doch sie sieht es gar nicht, sondern betrachtet durchs Fenster dasselbe Panorama, dieselbe endlose Ebene, die ihm Angst einflößt. Genau dieses Panorama, das ein heiteres Lächeln auf Miriams Gesicht zaubert, während sie zu beiden sagt, willkommen daheim.
Er staunt, wie leicht ihm das Fahren fällt, die bekannten Kurven zu nehmen, den Asphalt genauso wiederzufinden, wie er ihn verlassen hatte: dieselben Löcher, dieselben Geraden, auf denen er schaltete und hörte, wie der Motor anzog, dieselben riesigen Parkplätze, auf denen Ettore ihm ungeduldig, schreiend und fluchend das Autofahren beibrachte.
Jetzt sitzt er am Steuer und spürt, wie die Macht der Langsamkeit ihn umgarnt und in ihren Bann zieht.
Er dehnt sich auf dem Sitz, streicht sich übers Haar, sieht jenseits der Straße, jenseits der bebauten Felder und eines Restaurants, das mittendrin steht und früher nicht da war, nach und nach die Umrisse des Dorfs aus der Nebeldecke auftauchen, die über den Horizont gebreitet ist, alles überragend das Aquädukt, dann die Dächer, der Kirchturm und die übrigen Häuser.
Er lässt das Schild mit der Aufschrift FABBRICO hinter sich, fährt am Friedhof vorbei, dann kommen die Kreisverkehre, die Höfe mit ihren Backsteinmauern, den wilden Kletterpflanzen, langsam durchquert er die modernen Viertel bis zur Piazza hinter dem Schloss und der Kirche, und die Linden weisen ihm den Weg zum Zeitungskiosk von Ercole, zur Grundschule.
Sie erreichen Miriams Haus, wo auch er in diesen Tagen wohnen wird, laden den Koffer aus, sie werden in Miriams Mädchenzimmer schlafen, das sich kein bisschen verändert hat, dieselben Poster an den Wänden, dieselben Plüschtiere.
Als er den Koffer neben das Bett stellt, überlegt er, ob er sich kurz hinlegt, die Augen schließt und ein bisschen ausruht, schläft und wieder aufwacht, weil sie ihn an der Schulter rüttelt und sagt, komm, wir fahren wieder nach Haus.
Er nimmt das Foto in die Hand, das auf dem Nachttisch steht, Miriam und ihre Eltern in den Bergen, Arm in Arm, im tiefen Schnee, die Sonne beleuchtet ihre Gesichter, ihre grellbunte Kleidung, dasselbe Foto, das er gesehen hat, als sie zum ersten Mal in diesem Zimmer zusammen geschlafen haben, in diesem Bett.
Er packt das Foto mit beiden Händen, presst es zusammen, hört, wie der Rahmen knirscht, das Plastikglas spannt sich, am liebsten würde er das Bild zerbrechen, zerfetzen, am liebsten
Sie ruft ihn vom Erdgeschoss aus, er tritt auf den Flur, sieht sie unten an der Treppe lächelnd an der Wand lehnen.
Was machst du, fragt sie.
Während Pietro die Treppe hinuntergeht, spricht Miriam weiter.
Wir fahren ins Krankenhaus, sagt sie. Meine Mutter weiß nicht mehr, wann Besuchszeit ist, wir fahren einfach hin, vielleicht lassen sie uns auch so rein, ich halte es hier nicht aus, ohne etwas zu tun, sagt sie, als er sie auf den Mund küsst.
Okay, kein Problem, fahrt nur, wirklich, eigentlich solltet ihr schon dort sein.
Und was machst du solange?
Ach, mir wird schon etwas einfallen.
Bestimmt?
Ja, mach dir keine Sorgen, wirklich.
Es ist ein seltsamer Tag, seltsam die Zeit, die ihn umgibt, die Farben der Häuser, des Asphalts, des Rasens im Garten, der Tonfiguren, die dort herumstehen, seltsam dieses Licht, das von einem unsicheren, unentschlossenen, gemischten Himmel kommt, ungewöhnliche Abstufungen von Grau und Blau, ohne Bestand.
Ein Albtraum, den er als Kind hatte, kommt ihm wieder in den Sinn, das Gefühl, zu schrumpfen, kleiner zu werden als ein Sandkorn.
Er zwingt sich dazu, loszugehen, kann nicht ausmachen, ob es regnen wird, ob der Nebel zurückkehrt oder ob die Sonne herauskommt und alles in einen Frühlingstag verwandelt.
Pietro wandert die Gehwege entlang, auf denen er als Kind herumrannte, er merkt, dass er Richtung Kantine geht, zu der Werkstatt, die sein Zuhause war. Er sieht sie von Weitem, das riesige Tor überragt die Dächer der einstöckigen Reihenhäuser davor, er biegt um die Ecke, umgeben von immer gleichen Lorbeerhecken mit dichten Blättern, die den Blick in die Gärten verwehren, und sieht das Tor, das jetzt automatisch gesteuert wird.
Er sieht es offen, hört das Geräusch der Maschinen, eines Lastwagens, der auf dem großen Platz wendet, der Anhänger mit einer verblichenen blauen Plane bedeckt, und hört die Stimmen von jemandem, der lacht und scherzt, sich verabschiedet.
Er sieht den Laster herausfahren, tritt beiseite, um ihn vorbeizulassen, die Straße ist eng, der Fahrer hat Schwierigkeiten, hält an, daraufhin winkt Pietro ihm, er solle weiterfahren, gibt ihm zu verstehen, dass er durchpasst, sie lächeln sich an, nicken sich zu, und als der Laster an seinen Augen vorbeigezogen ist, sieht er sein Zuhause.
Er sieht den Balkon, die Eingangstür, den Garten, die Magnolie, er sieht das Grün und das, was sein Vater während seiner Abwesenheit gemacht hat, den gestrichenen Zaun, die gepflegten Blumenbeete, den Gemüsegarten weiter hinten.
Er sieht Briciola, die mit dem Schwanz wedelt, aufsteht, ihn erkennt, die Ohren spitzt, auf ihn zuläuft, mit heraushängender Zunge und keuchendem Atem, die Schnauze ergraut.
Er beschleunigt den Schritt, um die Straße zu überqueren und ihr entgegenzugehen, hockt sich hin, lässt sich ablecken, umarmt sie, streichelt sie und lacht, als Briciolas Beine zittern, während sie sich auf den Rücken legt und ihm den Bauch hinhält, du hast mir gefehlt, sagt er zu ihr.
Ettore schiebt den Vorhang am Fenster beiseite, beobachtet, wie der Lastwagen in der Mitte des Hofs wendet, hofft, dass er durchpasst, dass er den Torpfosten nicht demoliert, er sieht, dass es schwierig ist, stellt sich vor, wie der Fahrer schwitzt, fragt sich, ob es richtig wäre, hinunterzugehen und ihm Anweisungen zu geben, und atmet auf, als er ihn wegfahren sieht.
Dann sieht er den Mann, der die Straße überquert, durch das noch geöffnete Tor geht, sich vor Briciola hinhockt und sie krault.
Ettore bemerkt, dass er den Vorhang umklammert, die Finger zur Faust geballt, es katapultiert ihn in der Zeit zurück, Gegenwart und Vergangenheit verbinden sich.
Ein Zittern überläuft ihn, einen Augenblick lang sieht er sie wieder vor sich, ihr Nachthemd, das Feuer in der Blechtonne, und ihm ist, als lebte er noch in jenem Haus, das abgerissen wurde, dann kommt er wieder zu sich und ist wie betäubt.
Er lässt den Vorhang los, bleibt stehen, fragt sich, was er tun soll, hinuntergehen oder warten, so tun, als ob nichts sei. Er fragt sich, ob sein Sohn ihm gefehlt hat.
Erneut schaut er hinaus und sieht, wie Pietro sich eine Zigarette anzündet, den Kopf nur leicht geneigt, die Unbekümmertheit, mit der er den ersten Zug nimmt, den Rauch ausstößt. Er macht es genau wie seine Mutter, mit der gleichen Natürlichkeit wie an dem Abend im Restaurant, als sie ihm gesagt hatte, dass sie heiraten würden.
Er bekommt Lust hinauszugehen und Pietro zu sagen, er solle die Zigarette ausmachen, sie werde ihm schaden.
Er zieht die Jacke über und eilt die Treppe hinunter, schnell, fast im Laufschritt.
Als er ins Freie tritt und beinah über die kleine Stufe vor der Tür stolpert, steht sein Sohn immer noch dort, die Zigarette zwischen den Fingern, der Hund wie festgenagelt, die Werkstatt, die Gabelstapler, der Himmel bewegen sich weiter.
Ettore nähert sich und streckt Pietro die Hand hin und bleibt so, den Arm halbhoch in der Luft, für einen ihm endlos erscheinenden Moment, dann sieht er, wie sein Sohn das Gesicht verzieht, als er sie ihm drückt.
Briciola springt unterdessen zwischen ihnen hin und her, wedelt, bellt, hechelt geräuschvoll mit heraushängender Zunge, stellt sich auf die Hinterbeine, zappelt mit den Pfoten, legt sie ihnen kratzend und leckend auf die Brust. So spielen sie, bis Ettore sagt, ich muss den Rasen mähen, hilfst du mir?
Jetzt liegt Briciola zusammengerollt auf dem Gehsteig, sieht zu, wie sie in der Garage hantieren, die Plane vom Rasenmäher abnehmen, Benzin in den kleinen Tank füllen, und lauscht, während sie gedämpft sprechen, durchs Gras gehen, das nicht sehr hoch ist und nicht gemäht werden muss, das perfekt ist, alles ist perfekt.
Perfekt der zarte Sonnenuntergang, der diesen wirren Tag beschließt, perfekt das Vibrieren auf Pietros Armen, während er den Lenker des Rasenmähers hält, der Schweiß unter der Achsel, das Grün, das Flecken auf den vom Vater geborgten Schuhen hinterlässt, die Strapaze, die SMS, die er Miriam ins Krankenhaus schickt, ich bin bei meinem Vater, schreibt er.
Perfekt die Art, wie sie alles wieder aufräumen, wie sorgfältig sie mit diesen Gegenständen umgehen, die eine Fortsetzung ihrer Glieder zu sein scheinen, die Art, wie Ettore das gemähte Gras mit dem Rechen aufhäuft, der Duft, der die Luft erfüllt, wie Ettore dem Sohn die Hand auf die Schulter legt, um ihm den Vortritt ins Haus zu lassen, die Langsamkeit, mit der sie die Stufen hinaufgehen, die Zärtlichkeit, mit der Pietro über die Wände im Flur streicht, die gewohnte Tür, die Holzskulptur, die seit jeher dort draußen hängt.
Perfekt die Art, wie sie die Wohnung betreten, die Art, wie sein Vater ihn am Wohnzimmertisch Platz nehmen lässt, wie er zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank holt, sie öffnet, ihm eine anbietet, wie sie anstoßen und dasitzen und träge zuschauen, wie sich das Licht verändert in dieser Wohnung, die erneut die Konturen seiner Kindheit annimmt, als er Bücher über Dinosaurier las und sein Vater die Namen nicht aussprechen konnte.
Die Konturen sind durch die Zeit entschärft, angenehme Erinnerungen, die Pietro ganz kurz in Versuchung führen, Miriam anzurufen, um ihr zu sagen, dass er über Nacht bleibt, dass sie sich morgen sehen.
Sie sitzen da und trinken, die Worte bestimmen die Wahl der Gesprächsthemen, die Arbeit, das Zusammenleben, der Schlaganfall von Miriams Vater, dass Pietro deshalb gekommen ist, das Studium, Briciola, die sich die Hüfte gebrochen hat, als sie einen Maulwurf verfolgte, die Gemüsediät, der Orthopäde, der ihm rät abzunehmen.
Sie sitzen da und schweigen, und perfekt ist der Augenblick, in dem, als drinnen Licht ist und draußen Dunkelheit, ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wird und die Tür sich öffnet.
Perfekt, dieser Augenblick, die Frau, die zwischen sie tritt, das Staunen, das sich auf ihrem Gesicht ausbreitet, als sie Vater und Sohn in der gleichen Haltung dasitzen sieht, das rechte Bein seitlich ausgestreckt, das linke abgewinkelt, die Hand am Ausschnitt des Pullovers.
Ettore schaut zu, wie sein Sohn diese Frau anstarrt, die jetzt lächelt, sich die Jacke aufknöpft, Halt sucht, nicht weiß, was sie sagen soll, und Ciao sagt.
Ettore schaut zu, wie sein Sohn aufsteht und Ciao antwortet.
Wie er sie auf die Wangen küsst und sagt, ich muss jetzt gehen.
Er hört, wie Marisa sagt, sie freue sich, ihn hier zu sehen, sie habe es nicht erwartet.
Ettore mustert seinen Sohn, den Gesichtsausdruck, das schüchterne, unsichere Lächeln. Er steht auf, lässt den Blick durchs Zimmer wandern, über die Nippsachen, die Stuhllehnen, den Kalender an der Wand, den er seit Monaten nicht angerührt hat, er geht hin, nimmt ihn herunter und blättert die Seiten um, bis er die richtige findet, Dezember, streicht über das Blatt, hängt ihn wieder an den hervorstehenden Nagel und sieht seinen Sohn nicht an, als er ihn fragt, bleibst du zum Abendessen?
Pietro freut es, dass Marisa das Gespräch führt, Fragen stellt, sich nach seinem Studium erkundigt, wie es ihm denn in der Stadt gehe, und sagt, sie würde dort verrückt.
Ich bin lieber hier, sagt sie, ich sehe mich nirgendwo sonst.
Sie lacht, während Pietro Tomaten aufschneidet, das ist das einzige Gemüse, das wir haben, magst du es?
Ja, antwortet sein Vater für ihn, als er klein war, hat er nichts anderes gegessen, nur Tomaten und Kartoffeln, du hättest sehen sollen, wie man kämpfen musste, damit er auch Salat isst, sagt er. Einmal, beim Abendessen, habe ich zu ihm gesagt, er dürfe nicht aufstehen, bevor er nicht den Salat aufgegessen habe, und er ist am Tisch eingeschlafen, er tat alles, um mich ins Unrecht zu setzen.
Sie lachen, auch Pietro, es gefällt ihm, einbezogen zu werden, wenn Marisa entsprechend antwortet, wenn sie sagt, wer weiß, wie nett du es ihm gesagt hast, und dann ihn fragt, wie hast du es nur geschafft, nicht schon früher wegzulaufen, wie hast du ihn bloß all die Jahre ausgehalten.
Sie lachen, als Pietro erzählt, wie sein Vater ihn morgens weckte, damit er rechtzeitig zum Bus kam, dass er eine leere Plastikflasche benutzte, mit der er ihm auf den Kopf haute.
Dann, während er sich im Bad die Hände wäscht, die zwei Zahnbürsten im Glas auf dem Waschbecken sieht, die lila Handtücher, die schmutzige Wäsche, die aus dem Weidenkorb herausschaut, den Rock, der an der Dusche hängt, denkt er, wie es gewesen wäre, mit ihr im Haus aufzuwachsen, wie es gewesen wäre, sich von dieser Stimme Märchen erzählen zu lassen, wie es gewesen wäre, sich von ihr umarmen zu lassen, wenn er sich wehgetan hatte, sich eine Brühe kochen zu lassen, wenn er krank war.
Er genießt den Abend, die Scherze über den scheußlich schmeckenden Espresso, die kleinen Sticheleien der beiden, und schreibt Miriam, dass er mit dem Essen fertig sei, dass er sich jetzt verabschiede und heimkomme, sie fragt, ob sie ihn abholen soll.
Ein paar Sekunden schaut er auf das Display des Handys, schreibt, löscht, schreibt erneut und löscht erneut und schreibt ihr, nein, er kenne ja den Weg.
Als er am Haus von Miriams Eltern ankommt, bleibt Pietro am Tor stehen, umgeben von der Dunkelheit, die sich über Fabbrico gesenkt hat, betrachtet das Reihenhaus, den gepflegten Garten, die einzige brennende Lampe, die man hinter den Vorhängen sieht, und stellt sich vor, dass Miriam auf dem Sofa sitzt, unter einer Decke, und ihn erwartet.
Er ruft sie kurz auf dem Handy an und wartet, bis sich das Tor öffnet, geht den Weg entlang bis zur Tür, er hätte gewollt, dass sie ihn an der Schwelle empfängt, sieht aber, dass sie sich wieder hinlegt, wieder unter die Wolldecke schlüpft, sich zusammenrollt, ihn anschaut und lächelt.
Er nähert sich, setzt sich neben sie, unter dieselbe Decke, nimmt ihre Füße und massiert sie, wie geht es deinem Vater, fragt er, und sie antwortet, er sei stabil, zuckt die Achseln, sagt, ihre Mutter sei schon im Bett.
Mit den Füßen streichelt sie seine Schenkel, er dreht sich zu ihr um, ihr Ausdruck kommt ihm fremd vor, wie sie sich mit ihrem abgebrochenen Zahn verlegen auf die Lippe beißt, ihn von unten herauf anschaut, die Wangen weich und voll, das schöne Gesicht unscharf im Licht der einzigen brennenden Lampe, er sieht sie an und weiß nicht, was er sagen soll, während sie ihn weiter streichelt.
Er rührt sich nicht, sie lässt zu, dass die Decke auf dem Boden landet, setzt sich rittlings auf ihn, und er umfasst ihr Gesicht mit den Händen, küsst sie, während sie anfängt, sich zu bewegen und zu reiben, während sie sich aus dem Kuss löst, sich vor ihn kniet, um ihn mit den Händen zu streicheln, wo sie ihn vorher mit den Füßen streichelte, und ihm die Hose aufzumachen.
Er fragt, was sie da tue, sie hebt den Blick und fragt zurück, ob es ihm keinen Spaß mache.
Pietro hält sie fest, streichelt ihre Haare, diese seltsamen Augen, die Lippen zu einem Lächeln verzogen, das jetzt den unvollkommenen Zahn verbirgt.
Ja, sagt er, mir macht es Spaß, aber dir nicht, was ist los?
Sie steht auf, dreht sich zum Fernseher um, zum Fenster, zum Hof, zum Dorf, hält die Hände auf der Brust, die Angst, Pietro anzusehen, der stumm wartet und nur atmet.
Ich muss dir was sagen, sagt sie.
Was denn?
Ich will nicht, dass du wütend wirst.
Ich werde nicht wütend.
Das sagst du jedes Mal.
Versprochen.
Ich habe sowieso schon entschieden.
Was?
Ich bin schwanger.
Pietro springt auf, fuchtelt mit den Armen, sucht Worte, die er nicht findet, eine Wut, die er nicht findet, er merkt, dass er nichts spürt, nichts fühlt, keine Wut, keine Liebe, weder Glück noch Enttäuschung, er zieht seine Jacke an, antwortet nicht, als sie ihn fragt, wo er hingeht. Er blickt sie an und sieht die Überzeugung, die Gewissheit in ihrem Gesicht, die Entschlossenheit in ihren tränenlosen Augen, in der Hand, die seinen Arm packt, in der Stimme, die nicht nachgibt, die zu ihm sagt, komm zurück.
Pietro geht hinaus und schließt leise die Tür, sieht die Straßenlaternen und den Nebel, sieht Fabbrico, das sich in der Kälte zum Zentrum hinstreckt, die Fabrik, die Häuser, die brennenden Lampen, kein Mensch unterwegs, kein Auto weit und breit.
Auf einem Mäuerchen sieht er eine Katze hervorkommen, sie miaut, springt herunter und folgt ihm.
Die Lokale sind geschlossen, ebenso die Haustüren, die Piazza ist wie leer gefegt, leer die Bänke, leer die Grünanlagen, da sind nur er und diese Katze, die brennende Zigarette, der Rauch, der sich im Dunst verliert, der aufgerichtete Katzenschwanz, der hypnotisch tanzt.
Der Himmel ist hinter einem Feuchtigkeitsschleier verborgen, die Straßen, wo er als Kind herumrannte, mit dem Fahrrad hinfiel, wo er mit der Ape seines Vaters entlangfuhr, mit den Autos, die sie nach und nach hatten und in denen er mit Miriam die ersten Küsse tauschte, die Straße, wo das Haus stand, in dem er geboren wurde.
Das Haus und das Grundstück gibt es nicht mehr, stattdessen stehen dort jetzt ein paar Reihenhäuser, dazu ein Spielplatz, ein kurz geschnittener Rasen, einige Bänke, ein moderner Stall, der hinter all dem aufragt, was gewesen ist.
Ein Spielplatz, der jetzt menschenleer ist, den er vom Straßenrand aus betrachtet, ohne den Mut aufzubringen, hinzugehen.
Er würde sich gern auf eine der Bänke setzen, in der gespenstischen Atmosphäre dieser vom Windhauch bewegten Schaukeln herumlaufen, deren Ketten leise quietschen, beinahe im Rhythmus seines Atems.
Er zündet sich noch eine Zigarette an und würde sich gern an die Dicke der Mauern jenes Hauses erinnern, an die Gerüche, an irgendeine Episode, die dort geschehen ist, er würde sich gern deutlich an die Stimmen seines Vaters und seiner Mutter erinnern, im Kopf das Lachen hören, das bestimmt jene Zimmer erfüllte, die Stille, wenn es Schlafenszeit war, den Frust, wenn er nicht einschlafen konnte und unerwartet mitten in der Nacht losbrüllte. Er würde sich gern an das Gesicht seiner Mutter erinnern, während sie ihn auf dem Arm hielt, während sie ihn wiegte und ihm Schlaflieder vorsang, an ihren Duft, an den Geruch, wenn das Essen fertig war.
Als er sich bückt, um die Katze hochzuheben, die schnurrend um seine Beine streicht, als er sie zu streicheln beginnt und sich auf eine der Bänke setzt, als die Katze irgendwo in der Anlage hinter den Bänken, den Schaukeln, den Häusern und dem Stall verschwindet, würde er gern seinen Vater fragen, warum er ihm nie von ihr erzählt hat, warum er ihr nicht nachgerannt ist, warum er sie nicht eiligst nach Hause zurückgeholt hat.
Zu viele Dinge würde er ihn gern fragen, ihn, seine Großeltern, die Freunde seines Vaters, einfach alle, die sie gekannt haben, er hätte gern einige Anhaltspunkte, winzige Indizien, nur um sicher zu sein, dass es diese Frau, seine Mutter, tatsächlich gegeben hat, dass sie einmal eine reale Person gewesen ist und nicht nur ein Phantom, von dem er nun erwartet, dass es in diesem feinen Nebel vor den Ruinen seiner Vorstellungskraft erscheint.
Ein Phantom mit langen, offenen Haaren, stellt er sich vor, mit scharf geschnittenen Zügen, denen ähnlich, die er jeden Morgen im Spiegel sieht, er hofft, dass es sich zeigt, stellt sich vor, dass es ihm die dünnen Arme entgegenstreckt, wartend, regungslos.
Und jetzt ist es da, mitten im Nebel, im schwachen Schein der Straßenlaternen, der kaum den Dunst durchdringt, ein Phantom, das nur mit einem Nachthemd bekleidet ist, das aus dem Dunkel tritt und sich ihm nähert. Pietro müsste Angst haben, hat aber keine.
Das Phantom seiner Mutter steht jetzt vor ihm, die Augen glänzen in der Finsternis dieser Nacht, sie versprechen Ruhe und Zukunft und Heimat, es sind die gleichen Augen wie seine.
Pietro dreht sich um, blickt sie an und sieht sie lächeln, während sie die Hand hebt, um ihn zu streicheln, eine Hand, die aus Nebel besteht wie alles, was ihn in dieser Anlage umgibt, eine Hand, die er warm auf seiner Haut spürt wie die Stimme, die ihm in seinem Kopf etwas zuflüstert, die Stimme, die er erkennt.