DAS KIND ÖFFNET DIE AUGEN, sie sind braun und lebhaft; es betrachtet die Decke, das Sonnenlicht, das mit den Schatten der zugezogenen Vorhänge, der Spielsachen und Möbel im Zimmer tanzt, die Risse in der blau gestrichenen Decke, die Hängelampe. Es weint.
Pietro hört es, wacht auf, bleibt mit geschlossenen Augen liegen und lauscht, wartet, dass sie sich bewegt, dass auch sie aufwacht; als er ihre Hand spürt, die seinen Rücken streichelt, rollt er sich mit einem Stöhnen zusammen, zieht die Knie an die Brust, die Hände unter dem Kissen; als er spürt, wie dieselbe Hand seine Schulter drückt, widersteht er der Versuchung, sie an den Mund zu führen, um sie zu küssen, und rührt sich nicht. Er öffnet die Augen erst, als er hört, wie Miriam ihm zuflüstert, er solle aufstehen.
Steh auf, sagt sie zu ihm.
Und da richtet Pietro sich auf, setzt sich auf die Matratze, das Weinen des Kindes klettert die Wände im Flur entlang, um hier zu explodieren, in ihrem Schlafzimmer; er stützt die Ellbogen auf die Knie, schlägt die Hände vors Gesicht, reibt es kräftig, er ist noch müde, fühlt sich, als hätte er nicht geschlafen. Einen Moment verharrt er so, möchte noch einmal ihre Stimme hören, noch einmal dieses Flüstern. Er dreht sich nicht um, sucht nicht ihren Blick, streckt die Hände nicht aus, wartet still, während das Kind immer weiter weint, noch heftiger; Miriams Stimme kommt nicht, Ettore malt sich aus, wie sie schmollt, zusammengekauert, zerzaust, schön und wütend, verknittert und parfümiert, er stellt sich den Abdruck des Kissens auf ihrem Gesicht vor.
Als er sich umdreht, liegt Miriam da, wie er es sich vorgestellt hat, die langen Haare, die sie sich hat wachsen lassen, fallen ihr übers Gesicht, man sieht nur die unwillig gekräuselten Lippen und die Nasenspitze.
Pietro schaut sie an und lächelt, das Kind weint weiter.
In dem Deckengewühl streckt sie einen Fuß aus, bis sie Pietro berührt, der noch da sitzt und sie betrachtet, schiebt ihn an der Hüfte an, geh zu deinem Kind, sagt sie ungeduldig schnaufend.
Wortlos geht er den Flur entlang bis zu der Tür, aus der das Weinen dringt.
Ich komme, sagt er, hier bin ich, sagt er, als er das Zimmer betritt, als er das in seinem Bettchen liegende Kind betrachtet, die aufgerissenen Augen, die zu weinen aufgehört haben. Er beugt sich vor und nimmt es auf den Arm, herzlichen Glückwunsch, sagt er.
Im Bad machen sie das, was sie machen müssen, Pietro putzt sich die Zähne, das Kind schaut ihn an, auf der Matte sitzend, es schaut seinen Vater an, während er es badet und ihm die Windel wechselt.
Sie gehen wieder ins Schlafzimmer, hier hat jemand Geburtstag, sagt Pietro, jemand, der seiner Mama unbedingt einen Kuss geben will, sagt er, während Miriam sich das Kissen über den Kopf zieht, während die ferne Stimme darunter lachend schreit, lasst mich schlafen, geht bloß weg.
Zu dritt liegen sie im Ehebett, sie streckt ihre Füße zu seinen hin, das Kind krabbelt zwischen ihnen, patscht ihnen unbeholfen ins Gesicht, spricht seine unverständliche Sprache, setzt sich und drückt die Ohren eines Plüschschweins an sich, betrachtet seine Mutter und seinen Vater, jeder auf seinem Kissen, während die Sonne auf dem Schrank glänzt, die gefalteten Kleider auf der Kommode beleuchtet, die methodische Ordnung im Zimmer, die Spielsachen auf den Nachttischen.
Wir sollten aufstehen, sagt Miriam und reibt sich das Gesicht.
Ich gehe schon, erwidert Pietro, bleibt nur liegen, ihr zwei.
In der Küche richtet er das Frühstück her, wärmt das Fläschchen mit Milch und geriebenen Keksen, macht Miriam einen Tee, tut Zucker hinein, aber keine Zitrone, stellt alles auf ein Tablett und trägt es ins Schlafzimmer, setzt sich aufs Bett und betrachtet, was aus ihnen geworden ist.
Er betrachtet Miriam, die an ihrem Tee nippt, pustet und ihn dann auf dem Nachttisch abstellt, damit er abkühlt, das Kind, das sich auf sie legt, seine Milch trinkt und durch das Fenster Sonne und Schatten an seinem ersten Geburtstag beobachtet.
Ettore hupt, und Pietro geht als Erster hinaus, zündet sich eine Zigarette an, nachdem er seinen Vater begrüßt hat, der an die Kühlerhaube gelehnt auf ihn wartet, der ein komisches Gesicht macht und nichts sagt, derselbe Vater, der jetzt, als Miriam und das Kind auch bereit sind, ein anderer Mensch zu sein scheint.
Moment, sagt Ettore, kramt in der Hosentasche, setzt ernst und stolzgeschwellt eine sternförmige Glitzerbrille auf und beginnt, mit Fistelstimme Zum Geburtstag viel Glück für das Kind zu singen, das strahlt und die Hände ausstreckt, um seinen Großvater zu streicheln.
Auch Pietro lacht, drückt die Zigarette aus, setzt sich auf den Beifahrersitz, entschlossen, diesen Tag durchzustehen, die Tortellini seiner Großmutter, die Geschichten seines Großvaters, Miriams Küsse, die tapsigen Küsse, die sein Kind gerade zu geben lernt, die verstümmelten Wörter, die aus seinem Mund kommen, wenn es sich richtig anstrengt, seine ersten Gehversuche; wild entschlossen, an diesem Tag voller fetter, am Horizont lagernder Wolken, grau und schwer von Regen, der hoffentlich nicht kommt, fröhlich zu lachen, wenn sein Kind auf die Windel fallen wird mitten in diesem Garten, in dem auch er tausendmal hingefallen ist.
Marisa mustert die Gruppe, viel Spaß, sagt sie, nachdem sie das Kind auf den Kopf geküsst hat, nachdem sie Miriam geküsst und Pietro zugewinkt hat, der sie anlächelt, nachdem sie Ettore, der ihr die Hand küsst, über die Wange gestrichen hat.
Unterwegs singen sie alberne Lieder, während Fabbrico wie gewohnt in offenes Land übergeht, die in der Schwüle unscharfe Sonne scheint auf die Kornfelder, die Bäume hinter dem Friedhof, die Birn- und Apfelbäume, die verschlungenen Äste der Rebstöcke und färbt sie mit feinen Nuancen und Schatten, den gleichen Schatten, die am Himmel auftauchen, sobald sie die Straße nach Novellara erreichen. Die Wolken hinter ihnen verblassen im grenzenlosen Blau.
Ettore fährt und klopft mit den Fingern auf dem Steuer den Takt des Liedes, das sie gerade hören, die Geschichte eines sprechenden Elefanten, der vor allem Angst hat und zum besten Freund einer Tanzmaus wird. Pietro betrachtet im Rückspiegel Miriam und das Kind, dann wieder draußen die sich enthüllende Ebene. Er sitzt da, ohne zuzuhören, versunken in dieses flache Land, das seine Heimat ist.
Als sie in Guastalla ankommen und in eine Nebenstraße jenseits der Staatsstraße einbiegen, sieht Ettore das Feld, wo er mit Pietro Eselsrennen besuchte, wo sie zwischen Mückenschwärmen das typische Schmalzgebäck aßen, und weiter hinten das näher kommende Dach des Hauses seiner Schwiegereltern, des Hauses, bei dessen Bau Ettore mitgeholfen hatte.
Im Morgengrauen brach Livio zur Baustelle auf, um Häuser für andere zu bauen, und am Nachmittag, wenn er dort fertig war, kam er zurück, um sein eigenes zu bauen, Ziegel für Ziegel, in aller Ruhe, der Ruhe, die man braucht, um etwas Schönes zu schaffen.
Am Wochenende, samstags und sonntags, half Ettore mit, sie begleitete ihn nie, sondern blieb daheim und wartete. Sie sprachen nie darüber, er fragte sie nichts, jedes Mal, wenn er sie diesbezüglich etwas gefragt hatte, hatte sie mit Abwehr reagiert, und das mochte er nicht, sie wurde bösartig.
Er fand es normal zu helfen, sie sagte, das sei seine Entscheidung, das interessiere sie nicht.
Ester war freundlich, sie brachte ihm Zitronenwasser, stets eisgekühlt, und das tat ihm gut, er trank in großen Schlucken, und dann arbeitete er weiter nach Livios Anweisungen, die immer präzise waren, punktgenau, und ihm keinen Spielraum ließen. Er konnte nicht sagen, das würde ich soundso machen, das würde ich anders machen, sein Schwiegervater gab ihm keine Möglichkeit zu verhandeln, es war, als drückten seine Stimme und auch sein Blick eine einzige Wahrheit aus: Das ist mein Haus, es wird so gemacht, wie ich es will.
Ettore war einverstanden. Es hätte keinen Sinn gehabt zu widersprechen.
Sie arbeiteten stumm und verabschiedeten sich stumm, Livio bedankte sich nie, und Ester gab ihm jedes Mal eine Tüte mit Essensresten oder Obstschalen mit, für die Tiere daheim, sagte sie. Er dankte, und sie lächelte ihr elegantes Lächeln.
Ester war immer elegant, auch wenn es dreißig Grad hatte, auch wenn sie mit Schweißperlen auf der Stirn in ihrem gestreiften Hauskleid erschien, auch wenn es regnete und sie mit einem kaputten, tropfenden Schirm ankam, während Ettore und Livio auf dem Dachboden saßen, um zu prüfen, ob es hereinregnete.
Auch bei ihr bedankte sich Livio nie, ihre Beziehung beruhte auf Schweigen, auf Gesten, die Ester machte, weil sie es richtig fand.
Ab und zu ließ Livio sich gehen, es geschah an den Tagen, die er besonders gelungen fand. Er wusch sich an dem Wasserhahn, den sie im Garten installiert hatten, neben der Betonmischmaschine, den Zementsäcken und dem Kiesberg, der jeden Tag schrumpfte und ab und zu von einem Lastwagen wieder aufgefüllt wurde.
Wenn er sich den Schweiß von Gesicht und Hals abgewaschen hatte, holte er eine Flasche Lambrusco aus dem kleinen Kühlschrank, den sie an einem Generator angeschlossen hatten, und setzte sich mit Ettore im Nachmittagslicht hin, um die gemachten Fortschritte zu begutachten und Wein zu trinken, direkt aus der Flasche, wie unter Freunden.
Ettore dachte an seine Eltern, an die Beziehung, die er zu seinem Vater und seiner Mutter gehabt hatte, daran, dass in seiner Familie kein Platz war für Forderungen, schwelende Wut und Groll. Bei Ettore daheim wurde gearbeitet, alles schien sich nur darum zu drehen, von früh bis spät gab es immer etwas zu tun, ein Feld musste bewässert, ein Grundstück gepflügt, das Vieh gefüttert oder zum Tierarzt gebracht werden, man aß, dann schlief man, und im Morgengrauen des folgenden Tages begann alles von vorn.
Nie hatte Ettore Zeit gehabt, sein Leben zu betrachten und wehmütig zurückzudenken, er tat einfach, was getan werden musste. Und an den Nachmittagen, an denen er und sein Schwiegervater dort saßen und Wein tranken, war klar, dass das Haus fertig gebaut werden musste.
Das Haus, wo Pietro dann krabbelte und größer wurde, das Haus, das sie nie gesehen hatte.
Ester und Livio warten schon draußen auf sie, er sitzt auf einem Plastikstuhl, den Stock auf den Knien, sie steht hinter ihm, die Hände auf seinen Schultern, beide lächeln und begrüßen die Ankommenden, als sie aussteigen, als sie hineingehen, als Pietro auf seine Großmutter zugeht, um sie zu umarmen, auf die Wangen zu küssen und zu fragen, ob Livio sich gut benimmt.
Alle Worte und Zärtlichkeiten, Küsse und Liebkosungen gelten dem Kind, das sich wohlfühlt, sein Gesicht in Miriams und Pietros Haaren verbirgt, je nachdem, auf wessen Arm es gerade sein möchte.
Für das Kind verstecken Ettore und die Urgroßeltern ihre Traurigkeit hinter Scherzen, für Pietro decken sie den Tisch draußen hinterm Haus mit derselben Tischdecke, die sie auch bei allen seinen dort gefeierten Geburtstagen benutzt haben.
Ester denkt manchmal daran, wozu Kinder fähig sind, welche Macht sie haben, sie denkt, wie sie sich fühlen in einer von den Erwachsenen dominierten Welt, gebeutelt von ihren Unsicherheiten.
Als sie mit Kochen fertig ist, die Schüsseln auf den Tisch gestellt und zu Miriam gesagt hat, sie solle sitzen bleiben, mustert sie ihre Familie, Ettore lümmelt auf seinem Stuhl, die Gesichtszüge weicher, glatt rasiert, neben ihm Pietro, mit einem Ausdruck, den ihm niemand beigebracht hat und der sie an ihre Tochter erinnert.
Dann betrachtet sie das Kind in den Armen ihres Mannes Livio, der sich nach dem Infarkt so sehr verändert hat, ein anderer geworden ist als der, den sie geheiratet hat, ein Mann, der sich jetzt von Fernsehfilmen rühren lässt, ein Alter, der vor Monaten eines Nachmittags in Tränen ausbrach, als er den Kinderwagen mit dem schlafenden Kind schob und sich dann, im Park in der Nähe des Hauses, auf den Griff stützte und dem Versäumten nachweinte, sie schniefend ansah und sagte, er wollte, er könnte die Zeit zurückdrehen, ein anderer Vater sein.
Ester lächelt, während sie all das betrachtet, während sie dieses Mittagessen genießt, umgeben von Geplauder und Gelächter; sie lächelt und verbirgt, was sie gerade denkt, wie sie es immer getan hat, wie man es sie gelehrt hat, sie lächelt und steht auf, um abzuräumen.
Sie verfinstert sich nur einen Augenblick, während sie in die Küche geht, die Teller ins Waschbecken stellt, die Spülmaschine öffnet und ihr Rücken schmerzt, während sie den Mangel spürt, der ihre Wangen zeichnet, der ihre Lippen beben lässt, ein Mangel, den sie kaut und herunterschluckt.
Sie denkt an den Tag zurück, an dem ihre Tochter vor dem Haus stand und klingelte, an ihr Gesicht, an ihren Ausdruck auf der anderen Seite des Hofs, an ihre Augen. Ester hatte sie hereingebeten, und sie hatte abgelehnt.
Machen wir einen Spaziergang, hatte sie gesagt.
Ester war hinausgelaufen, wie sie war, im Hauskleid, ohne sich umzuziehen.
Ihre Tochter stand vor den Gitterstäben des geschlossenen Tors, sie hatte es geöffnet und sie vor sich gehabt, auf dieser Straße, die sie auswendig kannte, in diesem Viertel, das einmal neu war, vor diesem Busch mit gelben Blüten.
Schweigend waren sie über den Asphalt voller zermatschter Pfirsichblüten gegangen, die der Wind von den Bäumen geweht hatte.
Ester war besorgt, sie blickte auf ihre Schuhe, die sich zwischen den rosa Blütenblättern vorwärtsbewegten und mit ihrer Tochter Schritt hielten, während diese nach Worten zu suchen schien, die unmöglich zu finden waren.
Sie dachte, wann sie sich zum letzten Mal als Mutter gefühlt hatte, wann sie sich zum letzten Mal an der Hand gehalten hatten, zusammen spazieren gegangen waren und zusammen gelacht hatten. Sie dachte an die Nacht, in der ihre Tochter so heftiges Nasenbluten gehabt hatte, dass es war, als würde es nie mehr aufhören, an die Handtücher, die sie benutzt hatte, um es zu stillen, daran, wie endlich alles wieder normal war, und an die Stimme des kleinen Mädchens, die gesagt hatte, entschuldige, Mama, dass ich alles dreckig gemacht habe, nachher helfe ich dir beim Putzen.
Sie hatten sich nebeneinander auf eine Bank gesetzt, Knie an Knie, hatten zugeschaut, wie eine Katze die Straße überquerte, ein Spatz in einem Garten Krümel aufpickte, und die laue Maisonne genossen. Ester hatte das Profil ihrer Tochter betrachtet, die Augen voller Tränen, wie sie Luft geholt hatte, bevor sie zu sprechen begann.
Es waren wirre, abgehackte, zernagte Worte, gemurmelt und fast herausgeschrien, Worte, denen Ester kaum zugehört hatte, sie brauchte keine Worte, ihr genügte es, dort zu sitzen, zu schauen, zu sehen und zu fühlen. Ihr hatten die Augen genügt, die Haut, die Hände, die in der Luft fuchtelten, durch die Haare fuhren, im Gesicht kratzten.
Damals auf dieser Bank in der Sonne, umgeben von all den Düften, hatte sie gedacht, es gebe kein Wort für eine Mutter, die eine Tochter verliert, sie hatte beschlossen, dass sie auf alles verzichten würde, woran sie glaubte, um ihrer Familie, Ettore und Pietro, eine Ahnung von Glück zu ermöglichen, und dann hatte sie ihre Tochter umarmt, sie aufs Haar geküsst, ihr den Rücken und die Arme gestreichelt und sie an sich gedrückt. Sie hatte sie sagen hören, dass sie weggehen würde, dass sie sie alle verlassen würde.
Pietro zündet sich eine Zigarette an, betrachtet das grüne Gras und die Blumen, die Dächer der Fabrikhallen jenseits der Straße und des Feldes: Damals, als er klein war, als er mit seiner Großmutter dort draußen frühstückte und sie ihm morgens ein Fläschchen mit warmem Tee und zerbröselten Keksen machte, war das Feld grenzenlos gewesen, so weit sein Auge reichte. Ihm fehlt nicht die Stadt, das Leben, das er zu wollen geglaubt hatte, ihm fehlt nicht die Hektik einer unsicheren Zukunft, das Verkehrschaos, die grellen Farben, die riesigen Mietshäuser, die winzige Wohnung.
Er hört, was Ettore sagt, wie Livio zum x-ten Mal erzählt, wie er Ester erobert hatte, indem er vom Dach eines Hauses, das er gerade deckte, Serenaden für sie sang; er betrachtet seinen Sohn, der auf dem perfekten Rasen herumkrabbelt und Gänseblümchen abreißt, um sie Miriam hinzustrecken, die dasitzt und den Tag genießt.
Er spielt mit dem Feuerzeug in seiner Tasche, am liebsten würde er alles anzünden, alles verbrennen, seinen Vater, seinen Großvater und Ester verbrennen, Miriam und seinen Sohn, diese Bindungen, diese Wurzeln verbrennen, er wünschte, alles würde in Flammen aufgehen und zu Asche werden.
Er denkt an Gaia, an die Toilette damals an Weihnachten, an Miriam, in Tränen aufgelöst, daran, dass sie nicht weinte, als sie ihm sagte, dass sie ein Kind erwarteten, er denkt wieder an Fabbrico, das sich bei seiner Rückkehr vor seinen Augen geöffnet hatte, an den Kirchturm, das Aquädukt, die Felder, den Umzug, Miriams weiche Hüften während der Schwangerschaft, dann wieder an Gaia, an die Gerüche jener Nacht.
Er denkt an das Tagebuch seiner Mutter, an ihre Schrift, an das Geräusch, als er die Seiten herausriss, er denkt an das Lied, das sein Vater immer hörte, als er klein war, è uno stallo o un rifiuto crudele e incosciente del diritto alla felicità. Es ist auswegslos oder eine grausame und leichtsinnige Verweigerung des Rechts auf Glück.
Er umklammert die Armlehnen seines Stuhls, bis seine Fingerknöchel weiß werden, bis er seine Hände nicht mehr spürt, bis er nichts mehr fühlt.
Er steht auf und lächelt und fragt, ob jemand einen Espresso möchte.
Er geht ins Haus, hört das Wasser, das ins Becken fließt, hört kein Geschirr klappern, sieht die offene Spülmaschine, das Besteck darin, einen Topf, nähert sich der geöffneten Küchentür und sieht Ester am Fenster stehen, den Rücken ans Fensterbrett gelehnt.
Sie sehen sich von Weitem an, sie lächelt und Pietro tritt nicht ein, geht weiter durch den kühlen Flur zu der Tür, die zur Garage führt.
In der Stille, die ihn umgibt, zündet er sich eine Zigarette an, betrachtet den Spielplatz auf der anderen Seite der Straße, die Felder und das Land, das man hinter den Häusern ahnt, die Hitze, die es verdorren lässt, den durstigen Mais, der sich bis zu einem scheinbar wolkigen Horizont erstreckt, einem schwitzenden Horizont, der die Grenze der Erde anzeigt.
Glühend heiß brennt die Sonne jetzt vom aufgeklarten, farblosen Himmel herunter, er steigt ins Auto, schwitzt und verbrennt sich die Hände, die das Lenkrad umfassen, schließt die Augen, und als er sie wieder öffnet, steht Ester in der Tür, lächelt immer noch, macht ihm ein Zeichen mit der Hand und sagt, er solle mitkommen, ihr folgen.
Pietro weiß, dass sie ihm wahrscheinlich etwas über seine Mutter sagen möchte, er erkennt es daran, wie seine Großmutter sich bewegt, wie sie dasteht und auf ihn wartet. Er atmet und rührt sich nicht, die Hände immer noch am Steuer, sie lockern den Griff, gleiten in seinen Schoß, bevor er sich entschließt auszusteigen.
Ohne dass sie jemand sieht, gehen sie den Flur entlang und die Treppe hinauf ins Obergeschoss und steigen von dort auf den Dachboden: vier Räume voller Werkzeuge zur Holzbearbeitung, voller Kleider und Schränke, es riecht muffig, nach Feuchtigkeit, es riecht nach Leere, nach Staub.
Pietro sieht, wie Ester eine Holztür öffnet und in einem Raum verschwindet, er folgt ihr nicht, bleibt reglos stehen, bis sie eine von der Decke hängende Glühbirne einschaltet, bis das Licht die Kanten der Möbel, der Truhen, des Schranks und die Tücher über einigen alten Fahrrädern beleuchtet. Bis sie sagt, komm herein.
Er sieht, wie sie eine alte karierte Decke aufhebt, sieht den Staub tanzen, bevor er sich wer weiß wo verliert. Ester zieht ihre Schürze über den Knien hoch, bevor sie sich vor einem kleinen Holzschränkchen bückt und es mit einem Schlüssel aufschließt, den sie um den Hals trägt.
Pietro sieht nicht, was sie herausnimmt, er weiß nicht, ob er es sehen will, auch wenn die Neugier ihn drängte, sie beiseitezuschieben, zu sagen, sie solle aus dem Weg gehen, sich hinzuknien, um das Geheimnis zu entdecken, das sie ihm jetzt zeigt.
Er schaut auf die Hände, auf das, was sie umklammern, was seine Großmutter ihm hinhält. Nimm, sagt sie, schau es an.
Er möchte, möchte es gern nehmen und alles wissen, und gleichzeitig möchte er nichts wissen, nicht hier sein, ihr nicht gefolgt sein, noch im Auto sitzen, spüren, wie der Wind durchs heruntergekurbelte Fenster hereinweht, schon weit weg sein, überall, nur nicht hier.
Er möchte sie nicht nehmen, diese Ansichtskarten, die nicht verstaubt sind, die er jetzt in der Hand hält, diese Meerlandschaften und bunten, kitschigen Aufschriften in fremden Sprachen, diese anzüglichen Gestalten im Badeanzug, diese Häuser hoch oben auf dem Gipfel eines Bergs über einem sturmgepeitschten Meer.
Er blättert sie durch und dreht sie nicht um, noch nicht, schaut sie nacheinander an.
Er schwitzt, fühlt seine Hände glitschig werden, die Finger hinterlassen Abdrücke auf den Bildern, er fühlt seine Mutter so nah, dass er meint, ihren Atem auf seinem Hals zu spüren, ihr Parfüm zu riechen, ihre Hand auf seiner Wange. Er stellt sie sich vor wie auf dem einzigen Foto, das Livio ihm geschenkt hat, in diesem Kleid und mit dem Lächeln, er stellt sich vor, wie sie in einem Land am Meer durch diese Dörfer spaziert, wie sie die Menschen grüßt, wie sie geneckt wird wegen ihres Akzents, wie sie lacht, die fremden Wörter wiederholt, um sie zu lernen, wie sie die vor einem Geschäft hängenden Kleider begutachtet, in einem Gemüseladen das Obst probiert, sich mit dem Saft einer reifen Tomate bespritzt. Er stellt sie sich irgendwie unbeschwert vor, mit sich selbst im Reinen.
Er fühlt, wie seine Knie zittern, wie der Boden bebt, und dreht endlich diese kitschigen Aufnahmen um, sieht die Schrift, die er kennt, das Ciao, das sie schreibt, das Mir geht es gut, die Smileys, die Herzen, die sie malt, die Fremdsprache, die sie ab und zu benutzt, um Ester zu sagen, dass sie sie lieb hat.
Er liest die Fragen, die sie stellt, wie geht es Pietro, wie geht es Miriam, wie geht es Ettore, fährt weinend mit den Fingern über die Schrift, die Worte, die sie gewählt hat, hebt weinend den Blick zu dem von der Last des Geheimnisses befreiten Gesicht, zu seiner Großmutter, die noch mit schmerzenden Knien neben ihm hockt. Ester streicht Pietro mit der Hand übers Gesicht, trocknet mit dem Daumen die Träne, die ihm über die Wange läuft, sagt, die letzte Karte ist gerade erst gekommen, und holt sie aus der Schürzentasche.
Die hat sie geschrieben, um dem Kind zu gratulieren, sagt sie.
Und Pietro nimmt die Karte, schaut das Bild nicht an, dreht sie um und liest wieder, sieht wieder diese Unterschrift, Anna, den Namen seiner Mutter.