»Und jetzt, liebes Publikum, kommt der spannendste Teil des Abends!«, kündige ich im grellen Scheinwerferlicht auf der riesigen Bühne des Zürcher Volkshauses an. Über eine Stunde habe ich dem Publikum von meinem Weg zur meistgewanderten Frau der Welt erzählt, dabei meine Ausrüstung und meinen Alltag unterwegs beschrieben und vor allem erklärt, warum mich das auch nach mehr als 15 Jahren Outdoorleben immer noch begeistert. Jetzt sind die Fragen an der Reihe, die die Zuschauer in der Pause für mich aufgeschrieben haben. Ich lese den ersten Zettel vor: »Wie ist das mit Sex auf dem Trail?« Im Saal wird es schlagartig still.
Innerlich muss ich schmunzeln. Dieses Thema kommt auf meiner Vortragstour durch die Schweiz fast jeden Abend auf – zumindest, wenn die Fragen anonym gestellt werden können. Die Deutschen hingegen wollen eher wissen: »Zahlst du Steuern?« oder »Bist du sozialversichert?« (Die Antwort lautet in beiden Fällen »ja«.) In Österreich sorgt man sich vor allem um meine Gesundheit: »Leiden Sie unter Mangelerscheinungen?« oder »Bekommt man von der vielen Schokolade nicht Durchfall?« (Antwort jeweils »nein«.)
Nachdem ich mein Publikum über die Tücken des Liebeslebens unterwegs aufgeklärt habe, ziehe ich die nächste Frage aus der Tüte: »Was ist Ihr Lieblingsweg?« Ich lasse meine Outdoorlaufbahn vor meinem geistigen Auge Revue passieren, doch bei über 60 000 Wanderkilometern kann ich beim besten Willen keinen besten, schönsten oder liebsten Weg nennen. Stattdessen gibt es Spitzenreiter in unterschiedlichen Kategorien, was ich mit einem Beispiel erkläre: »Der abenteuerlichste Weg ist ganz bestimmt nicht der erholsamste und umgekehrt. Je nachdem, welche der beiden Eigenschaften mir gerade besonders wichtig ist, finde ich das anstrengende Wildnisabenteuer oder den technisch einfachen Wohlfühlweg besser. Oder anders ausgedrückt: Ein Weg, der mir in einer bestimmten Lebenslage besonders gefällt, kann in einer anderen zum Flop werden.«
Es folgt die Frage, die mir wirklich in jedem Land von jedem Publikum gestellt wird und die mich besonders freut – zeigt sie doch, dass die Menschen wanderbegeistert sind: »Welchen Weg können Sie denn empfehlen?« Das Scheinwerferlicht blendet mich so stark, dass ich im voll besetzten Saal nur die Zuschauer in den ersten Reihen erkennen kann: eine Gruppe Frauen im besten Alter, eine Familie mit halbwüchsigen Kindern, zwei junge Männer im Outdooroutfit. Sie befinden sich in ganz unterschiedlichen Lebensphasen und bringen völlig verschiedene Erwartungen an eine Wanderung mit. Genau wie es für mich selbst keinen besten Weg gibt, kann ich auch keine pauschale Empfehlung für alle anderen geben.
Der Erfolg einer Wanderung hängt nämlich von zahlreichen individuellen Faktoren ab: dem finanziellen und zeitlichen Budget, den Komfortansprüchen, der Vorliebe für bestimmte Klimazonen oder der individuellen Wandererfahrung. Und je länger die Tour, umso mehr dieser Bedürfnisse und Voraussetzungen sollte sie erfüllen. Von den unzähligen Gesprächen am Signiertisch weiß ich allerdings, dass Wanderinteressierte vor allem zwei Ziele anstreben: einen spanischen Camino, »weil den doch so viele machen«, oder eine Alpenüberquerung »wegen der Landschaft«.
Natürlich kann man auch auf diesen beiden Trails sein Glück finden. Aber Popularität und spektakuläre Ausblicke sind nur zwei Faktoren von etlichen, und wenn der Rest nicht stimmt, können selbst beliebte Strecken zur Enttäuschung werden: Wer besinnliche Einsamkeit sucht, wird von den Pilgerscharen Richtung Santiago abgeschreckt, und für einen untrainierten Wanderanfänger kann eine Bergtour schnell zur Tortur werden.
Schwärmerische Berichte von Bekannten oder tolle Instagram-Fotos allein sind also keine guten Ratgeber. Wichtiger ist die Frage: Passt dieser Trail zu mir ganz persönlich? Aber kaum jemand hat die Zeit, das detailliert zu recherchieren. Oft lässt sich auch gar nicht erahnen, welche Abenteuer sich wo verbergen. Und so landen die meisten Wanderinteressierten doch wieder auf den populären Trails, die dadurch noch überlaufener werden. Oder sie bleiben im schlimmsten Fall einfach zu Hause. Dabei würde sich die Gruppe fünfzigjähriger Frauen auf einer neu entdeckten Pilgerroute bestimmt sehr wohlfühlen, für die Familie gäbe es einige kindertaugliche Strecken, und die beiden jungen Männer könnten sich auf herausfordernden Wildnistrails austoben.
Leider habe ich bei meinen Vorträgen nie genügend Zeit für eine ausgiebige und individuelle Antwort auf die Frage nach meiner Wanderempfehlung. Das soll sich mit diesem Buch ändern! In den folgenden Kapiteln erzähle ich Ihnen, was ich auf 25 eher unbekannten Wegen erlebt habe und worauf Sie sich beim Nachwandern freuen können. Alle Trails sind von mir begangen und so ausgewählt, dass jede Schwierigkeitsstufe, Jahreszeit, Länge, jedes Budget und zahlreiche Special Interests abgedeckt sind. Denn egal, wie fit oder erfahren Sie sind, ob Sie eine Woche oder ein Jahr unterwegs sein können oder welchem Hobby Sie dabei frönen wollen: Kein Weg passt für alle, aber ein Weg passt ganz bestimmt zu Ihnen!