Für Pilgeranfänger:
Pilgerweg Berlin–Bad Wilsnack

Land: Deutschland | Länge: 120 km
Schwierigkeit: * | Budget: €€ | Jahreszeit: ganzjährig
Natur: * | Kultur: ** | Special Interest: Schnupperpilgern

 

»Sie müssen auf dem Fußboden des Gemeindesaals schlafen, also bringen Sie besser eine Isomatte und einen Schlafsack mit!«, schnarrt die resolute Stimme von Schwester Anneliese aus meinem Handy. Ich zögere eine Sekunde, denn eigentlich will ich mit leichtem Gepäck, sprich ohne meine halbe Campingausrüstung, von einer Unterkunft zur nächsten pilgern. »Sie brauchen erst gar nicht woanders anfragen. Jetzt in der Hochsaison kommen Sie in Linum sowieso nur noch bei mir unter«, unterbricht die Diakonisse meine Überlegungen. »Okay, dann bis morgen«, reserviere ich die spartanische Schlafgelegenheit und frage mich beim Packen verwundert, warum ausgerechnet an einem stinknormalen Werktag mitten im trüben Spätherbst alles ausgebucht sein soll.

Bei meiner Ankunft in dem winzigen Dorf in der brandenburgischen Ostprignitz wird mir der Grund jedoch schlagartig klar: Hunderte von Kranichen ziehen in der Abenddämmerung majestätisch über den Himmel und jagen mir mit ihrem durchdringenden Trompeten eine Gänsehaut über den Rücken. Linum ist im Herbst der größte europäische Binnenrastplatz von Kranichen und Gänsen auf ihrem Weg nach Süden. Mitte Oktober werden hier bis zu 72 000 Kraniche gezählt – an einem einzigen Tag! Und die Vögel ziehen wiederum die 40 000 Touristen an, die den 750-Seelen-Ort jedes Jahr besuchen.

Ich pilgere aber nicht zu den Kranichen, sondern nach Bad Wilsnack, einem der populärsten Pilgerziele der westlichen Christenheit, ja sogar das wichtigste in ganz Nordeuropa! Zumindest war es das im Mittelalter. Aus aller Herren Länder strömten Hunderttausende zur Wunderblutkirche, bis der Ort mit der Reformation in Vergessenheit geriet. Erst vor wenigen Jahren hat ein Förderverein einen 120 Kilometer langen Abschnitt wiederbelebt und markiert. Auf der Website zum Weg gibt es einen Pilgerführer und ein Unterkunftsverzeichnis.

Der offizielle Startpunkt befindet sich im Zentrum meiner Wahlheimat Berlin, genauer gesagt an der mittelalterlichen Marienkirche am Alexanderplatz. Wie die meisten Pilger habe ich mir die zwanzig Kilometer lange innerstädtische Strecke gespart und bin mit der S25 bis zur Endhaltestelle in Hennigsdorf gefahren, wo die Großstadt fast übergangslos in die freie Landschaft Brandenburgs übergeht. Dort beginnt die Wegmarkierung mit den drei gelben Punkten, schon seit dem Mittelalter das Pilgerzeichen und bildliches Symbol des Blutwunders, das sich am 16. August 1383 zugetragen haben soll.

Während die Wilsnacker damals das Patronatsfest im benachbarten Havelberg feierten, zerstörte Ritter Heinrich Bülow den menschenleeren Ort und brannte sogar die Kirche bis auf die Grundmauern nieder. Dennoch befahl eine nächtliche Stimme dem wiedergekehrten Dorfpfarrer, in den Trümmern nach drei zurückgelassenen, geweihten Hostien zu suchen. Der Legende nach fand er sie nicht nur unversehrt inmitten von Schutt und Asche, sie hatten zudem noch je einen Blutstropfen ausgeschwitzt – was natürlich sofort einen Pilgerboom auslöste.

Obwohl viele kirchliche Stellen dieses Wunder schon damals skeptisch betrachteten, begann im folgenden Jahr der Bau einer großen Wallfahrtskirche, die aufgrund der stetig wachsenden Besucherzahlen ein Jahrhundert später erweitert wurde. Straftäter im Büßergewand kamen genauso nach Wilsnack wie betuchte Adlige zu Pferd, besonders begüterte Herrscher ließen gegen Bezahlung »fremdpilgern«. Ja, es kam sogar zu spontanen Massenwallfahrten, dem sogenannten Wilsnacklaufen, bei dem die halbe Einwohnerschaft ganzer Städte einfach alles stehen und liegen ließ, um zur Wunderblutkirche zu eilen.

Während ich im Nieselregen durch den einsamen Hennigsdorfer Forst nach Linum wandere, stelle ich mir die einstigen Wallfahrerströme ähnlich vor wie den aktuellen Andrang auf den spanischen Caminos. Bis zu 350 000 Pilger laufen jährlich nach Santiago, nach Wilsnack sind heutzutage nur etwa 1000 unterwegs – und an diesem regnerischen Herbsttag bin ich ganz allein.

Schwester Anneliese, deren fast schon biblisches Alter ich nicht zu schätzen wage, empfängt mich in der traditionellen schwarzen Tracht der Diakonissen einschließlich gestärkten Häubchens auf den weißen Haaren und eines riesigen Schlüsselbundes in der Hand. »Es ist noch gut geheizt im Gemeindesaal«, erklärt sie mir auf dem Weg zu meinem Nachtquartier. »Die Konfirmandengruppe ist gerade erst gegangen.« Nachdem ich es mir auf meiner Isomatte bequem gemacht habe, bringt sie mir eine evangelische Kirchenzeitung als Nachtlektüre vorbei und erzählt, warum Linum im Sommer die Störche und im Herbst die Kraniche anzieht: »Schon der Alte Fritz hat das Rhinluch, das Moorgebiet rund um den Ort, für den Torfabbau durch ein Grabensystem entwässern lassen. Später entstand auf den abgetorften Flächen eine riesige Teichlandschaft. Das knietiefe Wasser ist ein idealer Schlafplatz für die Vögel, die sich dann tagsüber auf den abgeernteten Feldern die nötigen Reserven für ihren Flug nach Süden anfressen.«

Nachdem sie sich verabschiedet hat, lege ich mich – nach 32 Kilometern rechtschaffen müde – schlafen und denke dabei noch an das berühmte Lied der bekanntesten Tochter Linums, der romantischen Dichterin Luise Hensel: »Müde bin ich, geh zur Ruh, / schließe meine Äuglein zu …« Gute Nacht!

Die Luchlandschaft der Prignitz ist brettflach, und durch die schnurgeraden Entwässerungskanäle zwischen den riesigen Feldern wirkt sie ziemlich geometrisch. Lediglich die Baum- und Heckenalleen an den Feldrainen und Gräben verhindern, dass man heute schon das Wanderziel von morgen sehen kann. Es ist fast totenstill, nur bei der Überquerung der Autobahn Hamburg–Berlin werde ich kurzzeitig daran erinnert, dass ich im 21. Jahrhundert unterwegs bin. Heinrich von Kleist nannte seine brandenburgische Heimat einen langweiligen Landstrich, bei dessen Erschaffung der liebe Gott offenbar eingeschlafen sei. Der 2020 verstorbene DDR- Schriftsteller Günter de Bruyn bringt es etwas positiver auf den Punkt. Das Besondere dieser Landschaft liege in dem, was ihr fehle: Menschen, Reize und Geräusche. Beim Wandern kann man hier nicht nur den Blick, sondern auch die Gedanken schweifen lassen, denn es gibt keinerlei technische Schwierigkeiten. Ohne nennenswerte Steigung spaziere ich über lehmige Wiesenwege, unbefestigte Forststraßen, Wirtschaftswege mit Betonplatten und manchmal verkehrsarme Nebenstraßen. Dieser Pilgerweg kann selbst von blutigen Anfängern begangen werden – und das zu jeder Jahreszeit.

Die kopfsteingepflasterten Chausseen und alten Feldsteinhäuser wirken wie aus der Zeit gefallen, sie gäben eine hervorragende Filmkulisse für einen Roman von Theodor Fontane ab. Bis auf ein paar ältere Herrschaften sind die Dörfer fast ausgestorben. Kein Wunder, hier gibt es außer ein paar landwirtschaftlichen Betrieben kaum Arbeitsplätze. Die Kirchen am Wegesrand sind zwar durchweg verschlossen, doch ist im Pilgerführer stets eine Telefonnummer oder Adresse angegeben, wo der Schlüssel abgeholt werden kann. Auch wenn es mich manchmal etwas Überwindung kostet, bei wildfremden Menschen zu klingeln, erwarten mich dabei die schönsten Erlebnisse. Manchmal wird mir der Schlüssel nur kurz angebunden herausgereicht: »Werfen Sie ihn einfach in den Briefkasten, wenn Sie fertig sind!« Doch der Brandenburger hat unter der harten Schale einen weichen Kern. Auf interessiertes Nachfragen bekomme ich meist eine persönliche Kirchenführung und eine kurze Dorfchronik obendrein. Von einer Schlüsselverwalterin werde ich angesichts der herbstlichen Temperaturen sogar mit heißem Tee und selbst gebackenen Plätzchen begrüßt!

Die kleinen Kirchen sind sicherlich keine kunsthistorische Weltklasse, warten für den neugierigen Besucher aber mit ein paar Überraschungen auf. In Tarnow steht ein anmutiger Schinkelbau, dessen Campanile man eher in der Toskana als in Brandenburg erwarten würde. In der unscheinbaren Dorfkirche von Protzen schwebt ein strahlender Barockengel über dem Taufbecken. Und in der mittelalterlichen Feldsteinkirche in Barsikow kann man seit 2012 sogar in zehn Stockbetten übernachten!

Als ich völlig durchgefroren ankomme, freue ich mich besonders über die heiße Dusche, die genauso ins Kirchengebäude integriert ist wie eine Kochnische mit Kühlschrank. »Gottesdienste finden nur noch zweimal im Monat statt«, erklärt mir Herr Grützmacher, der auf Anfrage sogar ein Frühstück serviert. Der Herbergsbetreuer steigt am nächsten Morgen mit mir in die luftigen Höhen des Kirchturms empor und zeigt mir die Pilgerzeichen an den Glocken, anhand derer die Route rekonstruiert wurde. Den Pilgersegen gibt er mir zurück auf festem Boden im Altarraum. Auch in der Kyritzer Marienkirche geht es hoch hinaus: Hier kann man in der ehemaligen Türmerwohnung übernachten.

In Barenthin kommt mir Frau Unger in der Abenddämmerung schon entgegengelaufen, denn ich bin spät dran und sie will noch mal weg. Schnell öffnet sie den Pfarrsaal und überlässt mir den riesigen Kirchenschlüssel. Nachdem ich das kleine Gotteshaus damit am nächsten Morgen besichtigt habe, treffe ich die Schlüsselverwalterin ganz zufällig auf der Straße wieder, mit einer riesigen Tüte Brötchen in der Hand.

Was nun mit einem fröhlichen »Guten Morgen!« meinerseits beginnt, endet in einem dreistündigen Gespräch über die Geschichte der DDR im Allgemeinen und des Ortes Barenthin im Speziellen. Wie ich nämlich sogleich erfahre, stehen wir vor dem ehemaligen Tante-Emma-Laden, in dem Frau Ungers Mutter die knapp 400 Einwohner seit 1949 mit Lebensmitteln versorgte. Mehr als fünfzig Jahre stand sie hinter dem Ladentisch, während Tochter Christa das Dorf verließ und Lehrerin für Mathematik und Physik wurde. Erst nach ihrer Pensionierung kehrte sie in ihre Heimat zurück und verwandelte das unrentabel gewordene Geschäft in eine »Klönstube« für die Nachbarschaft.

»Das ist jetzt zwar kein Laden mehr, aber immer noch eine Art Dienstleistungszentrale. Manchmal gebe ich dem Nachwuchs Nachhilfe, die Nachbarn treffen sich einmal im Monat zum Klönen und Spielen, und sie können auch Einkaufsbestellungen abgeben«, erklärt die ehemalige Lehrerin die Riesenmenge an Brötchen in ihrer Tüte. »Wollen Sie mal reinschauen?«

Und ob ich das will! In der Klönstube stehen Brettspiele für den Nachbarschaftstreff neben alten Registrierkassen, Waagen und Kassenbüchern aus dem früheren Lebensmittelgeschäft. Ich wundere mich über die vielen Fotografien an der Wand, auf denen ausschließlich Gebäude zu sehen sind. Frau Unger erläutert: »Für die 675-Jahr-Feier des Ortes habe ich alle Einwohner gebeten, mir Bilder ihrer Häuser zu schicken, von früher und von heute. Darauf habe ich dann die Daten zur Geschichte der einzelnen Anwesen vermerkt.«

Fasziniert betrachte ich die kleine Vorher-Nachher-Ausstellung und stelle Frage um Frage. Während Frau Unger geduldig antwortet, gerät mein Zeitplan für den Tag komplett aus den Fugen. Egal, es sind ja genau solche Gespräche, die diese Wanderung so interessant machen. Spannende Begegnungen sind fast vorprogrammiert, weil man täglich einem Herbergsbetreuer oder einer Schlüsselverwalterin begegnet. Und für die ist man nicht der hundertste Pilger, der pro Tag vorbeiläuft, sondern immer noch etwas Besonderes.

Neben den preiswerten Pilgerherbergen in Kirchen und Gemeindesälen wird die ganze Bandbreite touristischer Unterkünfte angeboten, vom Heuhotel über Ferienwohnungen bis zu Pensionen und Hotels, teilweise sogar mit Gepäcktransport. Was man in Brandenburg dagegen nicht an jeder Ecke findet, sind Bars mit Tapas oder menú del peregrino. Wenn es im Übernachtungsort keine Gaststätte gibt, muss man sich sein Abendessen eben selbst mitbringen. Dafür können Sie hier seit Neuestem sogar #Biopilgern! Unter diesem Hashtag haben sich 16 Hofläden, Bistros und Cafés zusammengeschlossen, die den Pilgern Wassernachschub und Bioproviant anbieten: Obst und Gemüse aus zertifizierter Landwirtschaft, Vollkornbrot, Biowurst und sogar Stutenmilch vom Pferdegestüt.

Als ich am vierten Tag meiner Wanderung in Bad Wilsnack ankomme, wirkt die riesige Wallfahrtskirche in dem unbedeutenden Städtchen komplett überdimensioniert. Das »Santiago des Nordens« erlebte im Zuge der Reformation einen jähen Absturz: Der neue protestantische Prediger des Ortes, Joachim Ellefeld, verbrannte die wundertätigen Hostien am 28. Mai 1552 und wurde dafür in der nahe gelegenen Plattenburg festgesetzt. Noch während die Obrigkeit über eine angemessene Strafe für seine Freveltat stritt und ihn letztendlich in die Verbannung schickte, ließ der Markgraf von Brandenburg alle Kunstschätze der Wunderblutkirche einschließlich Glocke nach Berlin schaffen. Sämtliche Hinweise auf das Blutwunder wurden getilgt, nur den bemalten Holzschrank, in dem die Hostien früher zur Anbetung ausgestellt waren, kann ich zusammen mit einer Ausstellung zur Geschichte des Wallfahrtsortes noch besichtigen.

Am Eingang der Kirche hole ich mir meinen letzten Stempel für den Pilgerpass und frage die Aufsicht, wer denn eigentlich so alles hierherkomme. »Deutlich mehr Frauen als Männer, viele sogar allein«, weiß die Dame durch die Auswertung von Pilgerfragebögen zu berichten und ergänzt stolz: »Die meisten würden sogar lieber ein zweites Mal nach Wilsnack pilgern als noch mal einen der spanischen Caminos laufen!« Das geht mir ganz genauso!

Bevor ich in den stündlichen Regionalexpress zurück nach Berlin steige, mache ich einen Abstecher zum zweiten Wunder von Wilsnack: 1906 entdeckte der Stadtförster Gustav Zimmermann eisenoxidhaltige Moorerde, was den Ort 1929 zur Kurstadt machte und ihm den Titel »Bad« einbrachte. In der Therme mit Saunalandschaft strecke ich meine müden Glieder ins solehaltige Heilwasser. Ein so würdiger Abschluss war den mittelalterlichen Pilgern wohl eher nicht vergönnt.

Für wen:

  • Wer schon immer mal einen Camino laufen wollte, kann hier ohne lange Anreise hervorragend ein paar Tage »schnupperpilgern«  – Sie benötigen weder viel Wandererfahrung noch ein großes Budget. Alleinwandernde Frauen werden sich besonders wohlfühlen, weil die Mehrzahl der Pilger weiblich ist.
  • Dieser Pilgerweg ist familientauglich: Wenn der Nachwuchs nicht selbst laufen kann (oder will), können Sie ihn sogar im Kinderwagen schieben. Und die größeren Sprösslinge finden es bestimmt spannend, mal in einem Kirchturm zu übernachten oder eine Reitstunde im Pferdegestüt zu bekommen.
  • Wer Zeit zum Nachdenken braucht, kann beim Wandern in dieser meditativen Landschaft die Gedanken frei schweifen lassen, ohne durch schlechte Wegbeschaffenheit, steile Anstiege oder Navigationsprobleme abgelenkt zu werden. Auch einsames Wildzelten ist in dieser dünn besiedelten Gegend kein Problem.