Land:
Australien | Länge:
223 km
Schwierigkeit:
*** | Budget:
€€€ | Jahreszeit:
Winter
Natur:
*** | Kultur:
* | Special Interest:
Outback
Als ich am frühen Morgen des 12. Juli am Stadtrand von Alice Springs meinen Daumen rausstrecke, ist es angenehm kühl, sogar ein paar Wolken zieren den ansonsten strahlend blauen Himmel. Jetzt in den Wintermonaten der südlichen Hemisphäre ist die beste Zeit für den Larapinta Trail im australischen Outback. Im Sommer liegt die durchschnittliche Tageshöchsttemperatur bei weit über vierzig Grad Celsius, selbst im Winter kann das Thermometer auf mehr als dreißig Grad steigen – und nachts bis auf den Gefrierpunkt fallen.
Die 223 Kilometer lange Strecke durch den West-MacDonnell-Nationalpark will ich in gut acht Tagen ohne Proviantnachschub schaffen, mein Rucksack, der vollgestopft mit Lebensmitteln neben mir auf der Straße steht, ist entsprechend schwer. Dieser ehrgeizige Zeitplan funktioniert allerdings nur, wenn ich möglichst schnell eine Mitfahrgelegenheit zum westlichen Terminus des Trails bekomme. Über die Touristenstraße Namatjira Drive ist er bloß 150 Kilometer vom östlichen Endpunkt in Alice Springs entfernt, doch leider sind kaum Fahrzeuge unterwegs. Seufzend trete ich von einem Fuß auf den anderen.
Endlich hält ein kleiner Mietwagen, eine Frau um die fünfzig kurbelt das Fenster herunter: »Du kannst bis zur Redbank Gorge mitfahren, aber ich will mir unterwegs alle Sehenswürdigkeiten anschauen!«
Ich steige ohne große Bedenken sofort ein, denn genau dort will ich hin, und das Besichtigungsprogramm der Dame kann ja wohl nicht allzu lange dauern. Denke ich … Eigentlich kann man die Fahrt in anderthalb Stunden bewältigen, wir brauchen mehr als sieben. Hier trinkt sie einen Kaffee, dort wartet sie auf das richtige Licht zum Fotografieren, am Standley Chasm nimmt sie sogar an einer geführten Tour teil – und ich damit zwangsweise auch. Normalerweise würde ich mich über dieses ausgiebige Sightseeing freuen, allerdings werde ich all diese Attraktionen ja noch einmal in umgekehrter Richtung besuchen! Vielleicht hätte ich doch den extrem teuren Shuttleservice buchen sollen, der Wanderer per Jeep direkt zu den Start- und Endpunkten der Etappen befördert …
Um vier Uhr nachmittags darf ich endlich an der Stichstraße zur Redbank Gorge aussteigen. Bis ich den offiziellen Campingplatz am westlichen Terminus zu Fuß erreiche, ist es 17 Uhr, ich habe also gerade mal eine Stunde bis Sonnenuntergang. Die erste Trailetappe ist ein mehrstündiger Abstecher auf den 1380 Meter hohen Mount Sonder, den vierthöchsten Berg des Northern Territory, benannt nach dem deutschen Botaniker Dr. Otto Wilhelm Sonder. Camping ist an dieser heiligen Stätte der Aborigines nicht erlaubt, es macht also keinen Sinn, jetzt noch aufzusteigen. Grummelnd schlage ich mein Lager auf dem Redbank-Gorge-Zeltplatz auf, der sich am südlichen Ufer des Davenport Creek befindet. Creek, zu Deutsch Bach, ist im australischen Outback ein irreführender Begriff: Die Flussbetten sind fast immer komplett ausgetrocknet, denn im heißen Zentralaustralien fällt weniger als 250 Millimeter Niederschlag pro Jahr. Dass der Bach im Moment knöcheltiefes Wasser führt, ist schon höchst ungewöhnlich.
Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Der El-Niño-Effekt, der mir zu Jahresbeginn Überschwemmungen auf dem Florida Trail und Rekordschneehöhen auf dem Arizona Trail bescherte, hat sich auf der Südhalbkugel zu seiner kalten Schwester La Niña gewandelt. Es wird ein Rekordjahr für Niederschläge in ganz Australien werden, im Norden des Kontinents sogar der nasseste Winter seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Und die größte Sintflut wird in wenigen Stunden starten – auch wenn außer ein paar Wölkchen noch nichts darauf hindeutet.
Um 23 Uhr werde ich plötzlich von heftigen Böen geweckt. Ich reibe mir verwundert den Schlaf aus den Augen, als bereits die ersten dicken Regentropfen auf mein windumtostes Zelt platschen. Keine fünf Minuten später schüttet es wie aus Kübeln, unter meiner Isomatte bildet sich eine riesige Pfütze. Schlagartig bin ich hellwach, denn nun zählt jede Sekunde. In Windeseile verstaue ich meinen Schlafsack in seiner wasserdichten Hülle, raffe meine restliche Ausrüstung zusammen und flüchte unter den achteckigen Picknickpavillon. Hier kann ich mich auf einem langen Holztisch ausstrecken, während der Regen auf das Wellblechdach trommelt. Viel Schlaf bekomme ich bei dieser Weltuntergangsstimmung allerdings nicht mehr.
In der Dämmerung weicht meine Erleichterung über den trockenen Lagerplatz der Sorge um die nun anstehende Flussquerung. Als der Regen endlich aufhört und ich zum Ufer des Davenport Creek spaziere, traue ich meinen Augen nicht: Aus dem knöcheltiefen Bächlein ist ein reißender Strom geworden! Vorsichtig stecke ich meinen Trekkingstock in das tosende Wasser – und kann damit nicht einmal den Grund ertasten. Mitten im ausgetrockneten Outback stehe ich vor einem unpassierbaren Fluss. Trotz der Absurdität dieser Situation ist mir absolut nicht zum Lachen zumute.
Den ganzen Vormittag laufe ich stündlich zum Ufer, um den Wasserstand zu überprüfen, und jedes Mal ist der Pegel um einige Zentimeter gefallen. Bei meiner »Messung« um ein Uhr mittags entdecke ich einen Wanderer auf der anderen Seite, der eine passende Furtstelle sucht und im reißenden Strom immer wieder umdrehen muss. Ich folge seinen Versuchen angespannt und überlege fieberhaft, wie ich ihn bei einem Unfall von hier aus retten könnte. Erst nach anderthalb Stunden hat er es tatsächlich heil zu mir herübergeschafft.
»Kannst du ein Foto von mir und dem Fluss machen?«, ist seine erste Frage, denn selbst er als Einheimischer hat noch nie eine solche Sintflut erlebt. Nach einem kurzen Plausch gibt es auch für mich kein Halten mehr. Durch die Versuche meines Vorgängers kenne ich die beste Passage und erreiche daher schnell das andere Ufer.
Der Abstecher auf den Mount Sonder muss nun leider ausfallen, weil ich bereits jetzt einen ganzen Tag hinter Plan liege. Vom Hilltop Lookout im nächsten Wegabschnitt eröffnet sich mir jedoch ein grandioser Blick auf den lang gestreckten Berg mit Doppelgipfel, der wie der Kamm einer Echse emporragt. Für die Ureinwohner symbolisiert er eine schwangere Frau, die schlafend auf dem Rücken liegt. Ich verstehe nun außerdem, warum Australien der rote Kontinent genannt wird: So weit das Auge reicht, schimmert die Erde rötlich. Die im Boden enthaltenen stark eisenhaltigen Mineralien Bauxit und Laterit sind an der Luft zu rotem Rost oxidiert. Wie ein Schleier liegt darüber das Grau des überall sprießenden Spinifexgrases, seine scharfen Kanten zwingen mich trotz der Hitze in lange Hosen und Gamaschen. Gewaltige ghost gums und red gums, unterschiedliche Arten von Eukalyptusbäumen, lassen erahnen, wo zumindest temporär Flüsse verlaufen.
Albert Namatjira vom hiesigen Stamm der Arrernte hat die Landschaft der MacDonnell Ranges in über 2000 Aquarellen festgehalten. Sein Bild des Mount Sonder mit einem ghost gum ziert sogar eine australische Briefmarke, einige seiner Werke konnte ich in der Kunstgalerie von Alice Springs besichtigen. Namatjira, der heute als einer der bedeutendsten Künstler des Landes gilt, erhielt erst 1957 die vollwertige australische Staatsbürgerschaft – und das auch nur auf internationalen Druck. Die Ureinwohner wurden bis in die 1960er-Jahre lediglich als Mündel des Staates betrachtet und konnten weder Immobilien noch Alkohol erwerben oder das Wahlrecht ausüben. Ihre Kinder wurden ihnen systematisch weggenommen und bei Pflegefamilien oder in Missionsstationen für ein Leben als Farmarbeiter oder Haushaltshilfe ausgebildet, die stolen generation.
Heute stellen die Nachkommen der Aborigines nur noch gut drei Prozent der Gesamtbevölkerung des Kontinents, hier im Bundesstaat Northern Territory ist es jedoch fast ein Drittel. Sie wohnen meist in abgeschlossenen Gemeinschaften im Outback oder in Siedlungen am Rand von Alice Springs und haben eine deutlich höhere Selbstmordrate und niedrigere Lebenserwartung als die restliche Bevölkerung. Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie die damit verbundene Kriminalität sind ein riesiges Problem, viele junge Aborigines entfliehen dem selbst auferlegten Alkoholverbot in ihren Communitys, um sich in der Outback-»Metropole« Alice Springs zu betrinken. Auf dem Trail hingegen treffe ich keinen von ihnen.
Wie schwer das traditionelle Leben der Ureinwohner gewesen sein muss, erahne ich am nächsten Tag: Die rote Erde ist durch die Hitze so verhärtet, dass die gewaltige Niederschlagsmenge nicht versickern kann. »Alle Flussbetten sind normalerweise trocken«, heißt es in meinem Wanderführer, worüber ich in diesem Jahr nur lachen kann. Jeder noch so kleine Bachlauf führt im Moment Wasser, ich muss mehr Furten bewältigen als in Skandinavien – und verfehle mal wieder mein geplantes Pensum!
Der Finke River, in der Sprache der Ureinwohner »Larapinta« genannt und damit Namensgeber des Trails, hat zwar keine Strömung, doch wo immer ich hineinsteige, reicht mir das Wasser schon nach wenigen Metern bis zur Hüfte. Natürlich könnte ich das ruhige Gewässer einfach durchschwimmen, aber wie soll ich dabei meinen Rucksack trocken ans andere Ufer befördern? Meine Isomatte als Schwimmunterlage verwenden? Oder ihn lieber in einen Müllsack verpacken und hoffen, dass er dadurch ausreichenden Auftrieb bekommt?
Für einen letzten Versuch ohne Schwimmhilfe entkleide ich mich komplett und balanciere meinen Rucksack auf dem Kopf, was angesichts der großen Menge Proviant gar nicht so einfach ist. Mit jedem kleinen Schritt versinke ich tiefer, bis mir das Wasser im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Halse steht. Ich muss mich schließlich sogar auf Zehenspitzen fortbewegen und kann trotzdem nicht mal mehr den Mund aufmachen, ohne dass mir die dunkelbraune Brühe hineinläuft. Das ist mit Abstand die tiefste Furt meiner gesamten Outdoorlaufbahn!
Leider werde ich mit wachsender Routine nachlässig und vergesse bei der x-ten Flussquerung das Handy in der Hosentasche. Während meine Klamotten anschließend in der Sonne schnell wieder trocknen, haucht mein Telefon – und damit auch meine Kamera – nach dem ungeplanten Bad mit einem letzten Pieps seinen Geist aus. Immerhin haben die gespeicherten Bilder überlebt, sodass ich der trödelnden Touristin nun unendlich dankbar bin, dass sie mich auf der Hinfahrt bereits ausgiebig abgelichtet hat. Glücklicherweise habe ich für die Navigation noch mein GPS- Gerät und ein Set Papierkarten.
Die Gebirgskette der MacDonnell Ranges ist über 300 Millionen Jahre alt. Durch Faltungen, Brüche und Erosion entstanden spektakuläre Schluchten wie die Ormiston und Serpentine Gorges oder das Ellery Creek Big Hole. Hier findet man zu jeder Jahreszeit ein Wasserloch, für die Aborigines sind es heilige Stätten. Die Kluft des Standley Chasm ist sogar nur drei Meter breit, die Felswände ragen achtzig Meter empor! Bei geführten Touren erklären die Arrernte sowohl Geologie, Flora und Fauna als auch traditionelle Nahrung und Medizin. Kunstinteressierte können einen Workshop in der Punktmalerei der Aborigines buchen. Mein persönlicher Favorit sind jedoch die Ochre Pits, wo das weiche Gestein in allen Ockertönen von Dunkelrot bis Gold schimmert. Früher haben die Arrernte diesen Ocker zerstoßen und mit Emufett vermischt, um sich bei Zeremonien damit zu bemalen.
An diesen Touristenattraktionen, die vom Namatjira Drive aus einfach zu erreichen sind, tummeln sich die Ausflügler, entsprechend gut ist die Infrastruktur mit Rastplätzen und Informationstafeln. Auf dem Trail selbst ist von der Touristenstraße allerdings nichts zu sehen oder zu hören, andere Wanderer treffe ich wetterbedingt kaum, außer einem australischen Freundespaar.
»Mir geht bald das Essen aus, weil ich nur so langsam vorankomme«, jammere ich den beiden vor, die für die Anfahrt zum Trail einen Shuttleanbieter genutzt haben.
»Dann schau doch mal in die Aufbewahrungsboxen an den Rastplätzen. Auf der Hinfahrt haben wir dort unsere Proviantdepots angelegt und gesehen, dass andere Wanderer überschüssige Lebensmittel zurückgelassen haben«, präsentieren sie mir die Lösung meines Problems. Und tatsächlich: Am nächsten Picknickplatz entdecke in einer der Metallkisten zwei zurückgelassene Packungen Nudelsuppe, eine Dose Erdnussbutter und eine Tüte getrocknete Mangos – genug Verpflegung für einen weiteren Tag.
Entgegen meiner sonstigen Angewohnheit habe ich auf dieser Tour keine Schokolade dabei, sondern löffle Nuss-Nugat-Creme aus einem Plastikbehälter, denn der kann selbst bei Hitze nicht auslaufen. Etwas schuldbewusst denke ich dabei an die Aussage des Aborigine-Führers am Standley Chasm: »Die Ureinwohner Australiens haben früher pro Jahr nur so viel Zucker zu sich genommen, wie sich heute in einem einzigen Schokoriegel befindet.« Kein Wunder, dass sie ein vierfach höheres Diabetesrisiko haben als die übrigen Australier. Ihr traditioneller süßer Snack sind die sogenannten Honigtopfameisen – man muss ihnen allerdings den mit Nahrung angeschwollenen Hinterleib einzeln abbeißen.
Aufgrund der anfänglichen Sintflut finde ich auf dem Larapinta Trail mehr Wasser, als mir lieb ist, aber auch in normalen Jahren kann man sich problemlos aus den Tanks der offiziellen Campingplätze mit Schutzhütten versorgen. Deren Nutzung ist mittlerweile gebührenpflichtig, während Wildzelten weiterhin fast überall erlaubt und kostenlos ist. Aufgrund des steinharten oder gar felsigen Bodens hätte ich dazu allerdings besser ein frei stehendes Zelt mitgebracht.
Selbst ohne die ständigen Furten ist der Weg technisch nicht ganz einfach. Mein Wanderführer teilt die Etappen in vier Schwierigkeitsgrade ein, die ich folgendermaßen beschreiben würde:
Als ich am westlichen Endpunkt des Trails bei Alice Springs ankomme, habe ich nur noch eine Handvoll Nüsse. Das kleine Museum an der alten Telegrafenstation besichtige ich wegen meines knurrenden Magens in Rekordzeit. Dieser Ort liegt im wahrsten Sinne in the middle of nowhere oder genauer gesagt genau in der Mitte zwischen den australischen Städten Darwin und Adelaide, beide jeweils etwa 1300 Kilometer entfernt. Um diese Küstenorte miteinander und mit dem Mutterland Großbritannien zu verbinden, wurde 1872 die Transaustralische Telegrafenleitung eingeweiht. Da die elektrische Spannung für die Überbrückung dieser gewaltigen Distanz nicht ausreichte, baute man im Abstand von gut hundert Kilometern Relaisstationen wie Alice Springs. Obwohl eine englische Expedition das Landesinnere gerade mal zehn Jahre zuvor erstmalig durchquert hatte, betrug die Bauzeit in dem unerforschten Gelände nur zwei Jahre. Eine Nachricht von Australien nach London erreichte ihr Ziel nun in fünf Stunden, statt mit dem Schiff drei bis vier Monate unterwegs zu sein!
Der Weg bis zum nächsten Supermarkt führt mich am Todd River beziehungsweise an seinem sandigen Bett entlang. Jedes Jahr im September findet hier eine weltweit einzigartige Regatta statt: Die Boote der Teilnehmer haben keinen Boden und werden getragen statt gerudert. Daher muss es als einziges Bootsrennen abgesagt werden, wenn der Fluss doch einmal Wasser führt. Zuletzt passierte das 1993, aber angesichts der derzeit heftigen Regenfälle frage ich mich, ob die Regatta wohl auch in dieser Saison im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser fallen wird …
Für wen: