Land:
Großbritannien | Länge:
308 km
Schwierigkeit:
* | Budget:
€€ | Jahreszeit:
ganzjährig
Natur:
*** | Kultur:
** | Special Interest:
Englanddurchwanderung
Der schönste und abwechslungsreichste Weitwanderweg Englands führt auf rund 300 Kilometern einmal quer durchs Land und passiert auf seinem Weg von Küste zu Küste gleich drei Nationalparks. Seit Jahrzehnten erfreut er sich im gesamten angelsächsischen Sprachraum größter Beliebtheit, ist aber dennoch nicht durchgängig markiert und soll erst in den nächsten Jahren den offiziellen Status als National Trail erhalten. Die Strecke wurde nämlich nicht etwa von einem Wanderverein oder einer Regierungsorganisation entwickelt, sondern ist die Idee eines kauzigen alten Herrn.
Alfred Wainwright wurde 1907 als Kind armer Eltern in der Industriestadt Blackburn geboren. Schon mit 13 Jahren ging er von der Schule ab, um seine Mutter als Bürojunge finanziell zu unterstützen, da sie vom trinkenden Vater nur wenig Hilfe bekam. Erst durch den Besuch der Abendschule arbeitete sich der schüchterne rothaarige Junge in zehn Jahren bis zum Buchhalter hoch.
Der große Wendepunkt seines Lebens war ein Besuch des damals 23-Jährigen im Lake District, einem der heutigen Nationalparks am Weg: »Ich war von allem verzaubert. Hier gab es Harmonie ohne einen Missklang und eine undefinierbare Aura romantischen Charmes, eine mystische Qualität von Schönheit und Ruhe. An diesem Tag war Gott in seinem Himmel, und ich war ein demütiger Anbeter.«
Ähnlich enthusiastisch schwärmte schon im 19. Jahrhundert der Dichter Wordsworth vom Lake District als »dem schönsten Ort, den der Mensch jemals gefunden hat« und zog sich dorthin in seinen »poetischen Ruhestand« zurück. Wordsworth und eine ganze Gruppe romantischer Lyriker werden daher auch Lake Poets oder Lakists genannt. Das Gebiet wurde 1951 zum Nationalpark und 2017 sogar zum UNESCO- Weltkulturerbe erklärt.
Wainwrights platonische Liebe zum Lake District wäre vielleicht bald wieder erloschen, hätte er nach seiner Heirat nicht so viel Pech in der zwischenmenschlichen Liebe gehabt. Kaum war 1932 das erste und einzige Kind geboren, zogen sich die Eheleute in hasserfülltes Schweigen zurück – oder wie Wainwright es beschrieb: »Sie lebt in dem einen Zimmer, ich lebe in dem anderen. Nur die Katze geht von einem Raum in den nächsten.«
Der Buchhalter ließ sich 1941 trotz erheblicher Gehaltseinbuße vom rußgeschwärzten Blackburn in das ländliche Kendal am Rand des Lake District versetzen, um seinen geliebten Bergen und Seen näher zu sein und seiner unglücklichen Ehe zu entfliehen. Hier konnte der Eigenbrötler an seinen freien Tagen ohne Ehefrau wandern gehen. Lediglich sein heranwachsender Sohn Peter durfte ihn manchmal begleiten, wenn er dabei mucksmäuschenstill war. Auch zu Hause ordnete Wainwright absolute Ruhe an. Peter erinnert sich später in Interviews: »Während er arbeitete, durften wir nicht sprechen. Wir hatten keinen Fernseher, weil ihn das gestört hätte. Meine Mutter durfte Freunde nur empfangen, wenn er außer Haus war.«
Woran Wainwright in seiner Freizeit so verbissen werkelte, war ein siebenteiliger Wanderführer zu allen 214 fells, den Bergen und Hügeln des Lake District. In typischer Buchhaltermanier hatte er sich ausgerechnet, dass er bei einer Seite pro Tag 13 Jahre bis zur Fertigstellung der »Pictorial Guides to the Lakeland Fells« brauchen würde. Diesen Zeitplan hat er tatsächlich eingehalten. Seine Ehe zerbrach 1967 endgültig darüber: »Mich interessierte nichts anderes, als diese Bücher fertig zu bekommen. Es endete damit, dass meine Frau mich verließ, den Hund mitnahm und ich sie nie wiedersah. Ich weiß nicht, wie sie es über dreißig Jahre ausgehalten hat.«
Als ich den Coast to Coast Walk laufe, habe ich einen digitalen Führer dabei, genauer gesagt eine Trail-App auf meinem Smartphone. Darin kann ich meinen Standort auf Offlinekarten immer genau bestimmen, für alle wichtigen Wegpunkte gibt es Fotos, und Kommentare anderer Nutzer halten die App ständig aktuell. Was Wainwright wohl dazu gesagt hätte? Er liebte Karten über alles: »Gib mir die Karte eines Landes, das ich kenne, und ich erlebe meine Reisen noch einmal. Gib mir die Karte eines Landes, das ich nicht kenne, sogar eines Landes, das ich niemals besuchen werde, und sie hat die Kraft, mich zu begeistern und zu inspirieren.«
Alles in Wainwrights Wanderführern – Karten, Bilder, Texte – hat er selbst geschrieben und gezeichnet. Seine präzise Handschrift liest sich wie gesetzte Druckbuchstaben. Sein Perfektionismus ging sogar so weit, dass es in seinen Büchern keine einzige Worttrennung gibt und jede Seite mit einem Punkt endet. Selbst im privaten Bereich schrieb er jeden noch so bedeutungslosen Brief zweimal, um eine fehlerlose Fassung ohne jede Korrektur versenden zu können. Als Buchhalter und Stadtkämmerer lehnte er Rechenmaschinen ab und verwendete ausschließlich Papier und Tinte. Mit »Trauen Sie Ihren Rechenkünsten nicht?« verweigerte er seinen Mitarbeitern sogar den Einsatz von radierbaren Bleistiften …
Ursprünglich hatte Wainwright die Wanderführer nur zu seinem eigenen Vergnügen verfasst, »um sich als alter Mann daran zu erfreuen«. Doch seit ihrer Erstveröffentlichung haben sich die sieben »Pictorial Guides to the Lakeland Fells« mehr als zwei Millionen Mal verkauft! Fast fünfzig Bücher veröffentlichte er insgesamt, darunter im selben handschriftlichen Stil auch einen Führer für den von ihm entwickelten Coast to Coast Walk. Selbst fünfzig Jahre nach ihrem Erscheinen sind zahlreiche Wanderer mit seinen Publikationen unterwegs, ihm zu Ehren werden die beschriebenen 214 fells heute sogar die »Wainwrights« genannt. Und während er seine damalige Ehefrau mit kümmerlichen zehn Pfund Haushaltsgeld pro Woche abspeiste, vermachte er die 7000 Pfund Einnahmen aus dem ersten Buch komplett dem örtlichen Tierheim – obwohl er sich nie um den gemeinsamen Hund gekümmert hatte.
Der Coast to Coast Walk startet in dem kleinen Ort St Bees. Im Regen wandere ich von dort zunächst ein paar Kilometer an der dramatischen Atlantiksteilküste entlang, bevor der Weg mich nach Osten führt, um Wainwrights heiß geliebten Lake District zu durchqueren. Typisch für diese Gegend sind die gletschergeformten, weiten u-förmigen Täler mit lang gezogenen Seen. Bis auf ein paar vereinzelte Baumplantagen ist das Gelände unbewaldet und erstrahlt in den fifty shades of green der Farne, Gräser, Moose und Flechten. Bald erreiche ich den ersten See am Weg, den vier Kilometer langen Ennerdale Water, bei US- Amerikanern bekannt, weil Bill Clinton seiner Frau Hillary hier 1973 einen Heiratsantrag machte. Ich kann nur hoffen, dass die beiden besseres Wetter hatten als ich: Mitten im August schüttet es die meiste Zeit wie aus Eimern.
Rund 1000 Seen gibt es im Lake District, von denen erstaunlicherweise bloß einer ein »Lake« im Namen trägt, alle anderen heißen »Water«, »Tarn« oder enden auf »-mere«. Als ich abends zum Angle Tarn absteige, kann ich gar nicht glauben, dass ich dieses Postkartenidyll mit zwei kleinen Inselchen ganz für mich allein habe. Nur ein paar Dutzend Enten watscheln am Ufer entlang, die vielen Tagesausflügler sind schon lange wieder zu Hause. Wildzelten ist in England zwar nicht erlaubt, wird in den Nationalparks aber meist stillschweigend geduldet. Allerdings würde ich hier ohne Sichtschutz durch Bäume wie auf dem Präsentierteller liegen. Nach einigem Zögern baue ich mein Zelt dennoch auf einer Halbinsel zwischen ein paar Felsbrocken auf und nehme vor dem Schlafengehen noch schnell ein erfrischendes Bad.
In der absoluten Stille werde ich nachts um zwei Uhr abrupt durch ein Geräusch wach. Alarmiert spitze ich die Ohren und höre im Vestibül meines Zeltes ein lautes Knistern. Nach einer Schrecksekunde dämmert mir: Was da so raschelt, ist die Chipstüte in meinem Rucksack! Entrüstet greife ich zur Stirnlampe und stelle in ihrem Schein entsetzt fest, dass die ganze Packung verschwunden ist! Da war keine kleine Spitzmaus am Werk, sondern ein größeres Tier. Wild entschlossen, meinen Proviant bis aufs Äußerste zu verteidigen, klettere ich aus dem Zelt, stolpere halb nackt in der Dunkelheit herum und falle dabei fast über meine offenen Schnürsenkel. Doch der freche Dieb hat sich bereits aus dem Staub gemacht und nur eine Spur aus Paprikachips hinterlassen. Die Tüte finde ich erst am nächsten Morgen.
»Am Angle Tarn hat mir ein Fuchs auch schon mal nachts den Proviant weggefressen«, kommentiert mein englischer Wanderfreund Colin amüsiert unter meinem täglichen Post in den sozialen Medien. Die Tierwelt, von Mäusen bis zu Bären, lernt sehr schnell, wo es immer was Gutes zu fressen gibt. Daher sollte man an so idyllischen und damit populären Orten nicht zelten – ich sollte es eigentlich besser wissen.
Als ich ein paar Stunden später am 780 Meter hohen Kidsty Pike den höchsten Punkt meiner Coast-to-Coast-Wanderung erreiche, reißt gerade die graue Wolkendecke auf. Ich erhasche einen atemberaubenden Blick auf Riggindale, das zwischen steilen Felswänden 500 Meter unter mir liegende Tal, und verstehe plötzlich Wainwrights Aussage: »Einige Menschen flüchten sich in Träume, aber ich hatte das Glück, in einem perfekten Traumland zu leben, das wirklich existiert.« Nachdem er 1991 im Alter von 84 Jahren verstorben war, wurde seine Asche seinen Wünschen entsprechend am Haystacks, einem der Lakeland Fells, verstreut. Wer als Coast-to-Coast-Walker dort vorbeikommt, mag an Wainwrights augenzwinkernden Appell denken: »Und wenn du, lieber Leser, in den folgenden Jahren den Haystacks überquerst und dabei ein bisschen Dreck in die Schuhe bekommst, behandle ihn bitte mit Respekt. Es könnte sich um mich handeln.«
Der zweite Nationalpark entlang der Strecke sind die Yorkshire Dales. Im Gegensatz zum Lake District ist diese Landschaft moorig und eher hügelig als bergig, statt vieler Ausflügler treffe ich vor allem auf Schafe und ein paar Kühe. Zu ihrem Schutz werden seit Jahrhunderten Steinmauern hochgezogen, allein in den Yorkshire Dales beträgt deren Länge 8000 Kilometer! Wie riesige Puzzles sind sie ohne Mörtel aus passgenauen Steinen aufeinandergeschichtet, kleinere Füllsteine stabilisieren die großen. Überklettert werden diese Mauern entweder auf Holzleitern oder herausstehenden länglichen Steinen. Wainwrights Sohn Peter erzählt, dass sein übergewichtiger und ziemlich ungelenker Vater Hunderte Meter Umweg bis zu einem Tor lief, nur um ja keine Mauer übersteigen zu müssen.
Direkt am Eingang zum Nationalpark befindet sich eines der Wahrzeichen der Yorkshire Dales: Nine Standards Rigg, ein 662 Meter hoher Berg. Der Name leitet sich von neun zylindrischen Steintürmen ab, die mit einer Höhe von bis zu vier Metern weithin sichtbar sind. Erstaunlicherweise weiß niemand, wann und zu welchem Zweck sie errichtet wurden, dafür bietet sich hier eine grandiose Fernsicht auf die Pennines und den Ort Kirkby Stephen. Ganz in der Nähe kreuzt der bekannte Weitwanderweg Pennine Way den Coast to Coast Walk, über diesen Kamm verläuft außerdem die Hauptwasserscheide Englands.
Achtung: Ab diesem Aussichtspunkt wird das Moor so sumpfig, dass die Bergwacht schon Wanderer retten musste, die bis zur Hüfte im Morast versunken waren! Ohne GPS hätte auch ich mich verlaufen, denn es gibt im Gelände keinerlei Markierungen oder Orientierungspunkte. Glücklicherweise wurden an den schlimmsten Stellen mittlerweile Steinplatten verlegt. Sobald der Weg zum National Trail ernannt und durchgängig markiert worden ist, werden diese Navigationsprobleme aber hoffentlich entfallen.
Das Moor färbt zudem die Bäche – und damit mein Trinkwasser – schokoladenbraun. Erfreulicherweise hat die Farbe kaum Auswirkungen auf den Geschmack, wegen des vielen Viehs muss es allerdings gründlich desinfiziert werden. Beim Trinken stelle ich mir einfach vor, dass es sich um Apfelsaftschorle statt Sumpfwasser handelt.
Das Gefühl, inmitten romantisch-karger Natur unterwegs zu sein, trügt. Die halb verfallene Ruine von Blakethwaite wirkt auf den ersten Blick zwar wie ein verlassenes Kloster, ist aber eine ehemalige Industrieanlage. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde in der Gegend um den Ort Gunnerside Bleierz abgebaut und verhüttet. Bei den Überresten der Old Gang Smelting Mill ragt sogar noch ein riesiger Schornstein in den Himmel. Die vegetationslose Mondlandschaft ist nur teilweise klimatisch bedingt, sondern vor allem das Ergebnis von jahrzehntelangem hushing. Bei dieser alten Bergbaumethode wurden Flüsse und Bäche so umgeleitet, dass sie das Erdreich abtrugen und dadurch Erzadern freilegten. Danach wächst darauf natürlich nichts mehr.
Da ich nach einer Woche schon mehr als die Hälfte des Weges bewältigt habe, gönne ich mir in einem B&B in Richmond einen Ruhetag. Ich kann die freundliche Gastgeberin sogar überzeugen, meine verschlammte Wanderkleidung zu waschen. In einem Poloshirt ihres Mannes, das vermutlich in den Siebzigerjahren modern war, gehe ich einkaufen. Doch bei meiner Rückkehr nach zwei Stunden ist meine Wäsche immer noch nicht fertig. »Ihre Sachen haben so streng gerochen, dass meine Frau sie ein zweites Mal in die Maschine gepackt hat«, erklärt mir ihr Mann und staunt über meine groß gemusterte Oberbekleidung, die er erst nach einer Weile als seine eigene erkennt. »Ich dachte, das Teil wäre schon vor Jahren in der Altkleidersammlung gelandet.«
Als er hört, dass ich Deutsche bin, äußert er eine ungewöhnliche Bitte: »Mit diesem ganzen Brexit-Chaos muss ich für meinen Onlineshop eine Umsatzsteueridentifikationsnummer in Deutschland beantragen. Können Sie mir beim Ausfüllen der deutschen Formulare helfen?« Da ich ja nun schon seine Klamotten trage, kann ich wohl schlecht Nein sagen.
Das zu übersetzende Steuerformular hat sechs (!) Seiten und zwingt mich dazu, Begriffe wie §3c UstG (Umsatzsteuergesetz) zu googeln, zu verstehen, notdürftig zu übersetzen und dann zu erklären. Die Suche nach der englischen Übersetzung von Wörtern wie Vorsteuerabzugsberechtigung treibt mir in dem plüschigen Wohnzimmer den Schweiß auf die Stirn. Als der Vordruck nach zwei Stunden endlich ausgefüllt ist, ist auch der zweite Waschgang durch. Für meine Übersetzungstätigkeit bekomme ich einen Preisnachlass auf mein Zimmer. Dennoch hatte ich mir meinen Ruhetag etwas anders vorgestellt …
Wainwright hatte kurz vor seinem Lebensende ebenfalls erheblichen Ärger mit dem Finanzamt. Der Steuerinspektor verdächtigte ihn der Steuerhinterziehung, weil ihm das angegebene Einkommen im Verhältnis zu den gewaltigen Bucherfolgen viel zu gering erschien. Doch wie der Autor letztendlich erfolgreich darlegen konnte, hatte er stets auf einen Großteil seiner Einnahmen verzichtet und insgesamt eine Million Pfund an Tierschutzorganisationen gespendet.
In seiner zweiten und deutlich glücklicheren Ehe engagierte er sich auch privat für heimatlose Tiere: Besucher zählten bis zu 24 streunende Katzen im Haus der Wainwrights. Im Fish & Chips Shop zwackte er stets einen kleinen Leckerbissen für seine Lieblingskatze Totty vom Teller ab – nur leider vergaß er den Fisch oft in seiner Jackentasche. »Der Gestank war furchtbar«, erinnert sich seine zweite Frau Betty.
Der Tierfreund wäre sicherlich vom Richmondshire Museum begeistert gewesen, das ich an meinem Ruhetag besuche. Dort gibt es nämlich eine Ausstellung zu James Herriots Tierarztpraxis, weltbekannt durch den Bestseller und die gleichnamige Fernsehserie »Der Doktor und das liebe Vieh«. Herriot beschreibt darin humorvoll seinen Alltag als Landtierarzt in den North York Moors, dem letzten Nationalpark am Weg, den auch ich noch besuchen werde.
Aber zunächst geht es für mich durch das Vale of Mowbray, laut Wainwright der langweiligste Teil der Tour. Finde ich nicht, ganz im Gegenteil genieße ich diese einfache Etappe durch landwirtschaftlich genutztes Gebiet. Einmal führt der Weg als Trampelpfad sogar mitten durch ein Weizenfeld! An den kleinen Kirchen laden Hinweisschilder zu einer Rast im Inneren ein, gegen Spende darf man sich eine Tasse Tee kochen oder einen gekühlten Softdrink genießen. In einem besonders gut ausgestatteten Gotteshaus kann man sogar Blasenpflaster und feuchtes Toilettenpapier erwerben. Auch einige Farmer bieten in Kühlboxen Snacks und Getränke an. Hier wird man am Wegesrand ähnlich gut versorgt wie auf den spanischen Caminos!
Und dann wandere ich endlich hinauf zu James Herriots North York Moors, einem Hochmoor, das von tiefen Tälern durchschnitten wird. Steinplattenwege führen durch die dunkelviolette Heidelandschaft, immer am Rand des steil abfallenden Plateaus entlang. Bei schönem Wetter sind grandiose Ausblicke auf die schachbrettartigen Felder und Weiden garantiert, an diesem sonnigen Augustwochenende schweben an der Carlton Bank sogar noch Paraglider durch die Lüfte. Doch es ist England, das gute Wetter ist also nicht von Dauer …
Schon am nächsten Morgen erwache ich in Nebelsuppe und Dauerregen. Auf dem Glaisdale Rigg erwartet mich keine schöne Aussicht, sondern heftiger Wind, der mir immer wieder die Kapuze vom Kopf reißt. Im kleinen Örtchen Glaisdale suche ich Schutz unter der Markise des Dorfladens und versuche, mit dem Smartphone eine Unterkunft für meine letzte Nacht auf dem Trail zu finden. Aus meinen nassen Haaren tropft Wasser auf den Touchscreen, schnell fange ich an zu frieren. Und dann sind auch noch alle Unterkünfte belegt! Ein freundlicher Gastwirt gibt mir immerhin die Telefonnummer einer Nachbarin, die in »Notfällen« Wanderer aufnimmt. Ich erreiche die Dame erst zwei Stunden später, als ich mich aus dem Dauerregen in einen Pub gerettet habe und die beste heiße Tasse Tee meines Lebens genieße.
»Sie müssen aber gemeinsam mit Ihrem Gepäck kommen«, erklärt die Frau mir am Telefon, während ich zuschaue, wie sich an der Garderobe unter meiner Regenjacke eine riesige Wasserlache bildet.
»Kein Problem, ich halte meinen Rucksack einfach fest, wenn er schon vorauslaufen will«, bin ich versucht zu antworten – bis mir dämmert, dass die meisten Coast-to-Coast-Walker ja einen Gepäcktransport-Service in Anspruch nehmen. »Nein, ich trage mein Zeug selbst«, antworte ich also und reserviere das Zimmer. Natürlich hört es danach schlagartig auf zu regnen.
Als ich mich abends auf einem riesigen Doppelbett zwischen einem Dutzend Plüschkissen ausstrecke, denke ich bewundernd an Alfred Wainwright. Statt in atmungsaktiver Regenjacke und Funktionsunterwäsche wanderte er in normaler Straßenkleidung. Sein Sohn Peter erinnert sich: »Dad hatte nur vier Anzüge, alle aus Tweed. Der beste war für die Ratssitzungen. Der zweitbeste fürs Büro. Der drittbeste zum Wandern. Der viertbeste für die Gartenarbeit.« Über Regen beklagte sich der Pfeifenraucher trotzdem nie: »Wenn es richtig schlimm wurde, drehte er einfach die Pfeife um, damit kein Wasser reinkam. Er regte sich nur auf, wenn das Wetter zu schlecht war, um sie anzuzünden.«
An der Nordseeküste führt Wainwrights Route ein paar Kilometer an den spektakulären Klippen entlang und endet in dem kleinen Fischerort Robin Hood’s Bay. Über mir kreischen am grauen Himmel die Möwen, während ich der steifen Brise trotze und begeistert die bis zu 160 Meter hohen Klippen fotografiere. Als ich in den Bus einsteige, klart der Himmel abrupt auf, und mir kommt es fast so vor, als wollte Wainwright mir von dort oben höchstpersönlich zur Vollendung meiner Tour gratulieren. Über das Leben nach dem Tod sagte er einmal: »Ich werde mich im Himmel nicht fremd fühlen, weil ich so viele Jahre in dem irdischen Paradies des Lake District gelebt habe. Es könnte dort Berge zum Besteigen geben. Vielleicht sogar die Möglichkeit eines pictorial guidebook für den Himmel.« Ich würde das Buch sofort kaufen!
Für wen: