Land:
Norwegen | Länge:
341 km
Schwierigkeit:
*** | Budget:
€€€ | Jahreszeit:
Sommer
Natur:
*** | Kultur:
* | Special Interest:
Fjellwanderung zum Nordkap
Hätten Sie gewusst, wo der westlichste Punkt des europäischen Festlands liegt? Richtig, in Cabo de Roca in Portugal. Den südlichsten Punkt verorten die meisten wohl in Italien oder Griechenland, tatsächlich ist es Tarifa in Spanien. Beim östlichsten Punkt scheiden sich die Geister endgültig: Geopolitisch betrachtet liegt er in der russischen Republik Komi auf einem unspektakulären Bergrücken an der Wasserscheide zweier Flüsse. Beschränkt man sich auf die EU , befindet er sich im finnischen Nordkarelien an der Grenze zu Russland. Nur beim nördlichsten Punkt meint fast jeder Bescheid zu wissen: das Nordkap in Norwegen, berühmt durch das Denkmal in Form eines stilisierten Globus. Leider ist das falsch. Eigentlich ist der nördlichste Punkt gut vier Kilometer weiter westlich am Knivskjellodden. Allerdings liegen beide auf der Insel Magerøya, der nördlichste Punkt auf dem Festland wäre 68 Kilometer östlich am Kinnarodden.
Doch das Nordkap lässt sich eben besser vermarkten. Durch eine Straße erschlossen liegt es hoch oben auf spektakulären Steilklippen mit Blick aufs Meer und wurde so zum Sehnsuchtsort für Wohnmobilisten, Motorrad- und Radfahrer, selbst Kreuzfahrtschiffe nahmen es ins Programm. Und auf dem Europäischen Fernwanderweg E1 kann man Europa auf rund 8000 Kilometern von Sizilien bis zum Nordkap durchqueren.
Ich will das nördlichste und erst 2013 eröffnete Stück des E1 laufen und bin deshalb in Kautokeino, Startpunkt und mit etwa 1500 Einwohnern zugleich größter Ort entlang der Strecke. In dieser Metropole der Finnmark gibt es gleich drei Supermärkte, einen Geldautomaten, ein Hotel und zwei Campingplätze. Auf einem davon habe ich mich in einer Holzhütte einquartiert und wundere mich nun am Nachmittag über den lauten Krach. Das Straßendorf verläuft zwar entlang der Europastraße 45, aber so weit im Norden herrscht kaum Verkehr. Auf meinem Weg zum Einkaufen entdecke ich dann auf der Brücke über den Fluss Kautokeino eine für diese Gegend riesige Menschenansammlung – und damit auch die Lärmquelle: Die Leute verfolgen begeistert ein Rennen auf dem Fluss!
Was sich da unter der Brücke abspielt, scheint den Gesetzen der Physik zuwiderzulaufen. Schwere Schneemobile preschen mit röhrenden Motoren über das Wasser. Eine kurze Internetrecherche bestätigt, was ich da mit eigenen Augen sehe. Das schwere Gefährt kann wegen seiner breiten Kufen tatsächlich »schwimmen«, wenn es bereits mit einer angemessenen Geschwindigkeit auf dem Wasser aufkommt und der Fahrer beständig das Gaspedal durchdrückt. Willkommen in Lappland!
Meine ersten beiden Wegetappen führen über Schotterpisten und sind damit ideal zum Einlaufen. Wegweiser markieren sie als Wander-, Rad- und Schneemobilweg. Die dritte Etappe bringt mich in das winzige Nest Masi, das im Prinzip nur aus einer Holzkirche und einer Tankstelle mit Supermarkt und Postamt besteht. Der nächste kleine Laden ist 175 Kilometer entfernt, dazwischen bin ich gänzlich auf mich allein gestellt. Ohne Campingküche und Zelt ist man auf dieser Strecke aufgeschmissen. Während man auf dem populärsten skandinavischen Fernwanderweg, dem Kungsleden im Nachbarland Schweden, bequem von Hütte zu Hütte wandern und dort wie im Restaurant essen kann, gibt es zwischen Kautokeino und dem Nordkap auf 340 Kilometern gerade mal fünf Übernachtungsmöglichkeiten im Fjell, davon bloß eine einzige mit Essensangebot.
Für die unbewirtschaftete Bojobæskihytta lege ich sogar einen 36-Kilometer-Tag ein, so sehr freue ich mich auf ein richtiges Dach über dem Kopf. Mein Zelt ist nämlich morgens regelmäßig mit Raureif überzogen – und das Ende August! Meine Begeisterung wächst fast ins Unermessliche, als ich die Hütte bereits vorgeheizt vorfinde. Stine, eine junge Norwegerin, hat es sich vor dem Holzofen bequem gemacht. Die Bibliothekarin ist zusammen mit ihrem Hund auf einer einwöchigen Angeltour. Während dieses Hobby in Deutschland immer noch eine ausgemachte Männerdomäne ist, sind Anglerinnen in Norwegen an der Tagesordnung.
Stine und ich haben an diesem Tag keinen einzigen anderen Menschen gesehen und plaudern eifrig, bis wir sogar die Kerzen anzünden müssen. Ende August dämmert es gegen neun Uhr abends, von Ende Mai bis Ende Juli geht die Sonne so hoch im Norden erst gar nicht unter – ideal, wenn man pro Tag viele Kilometer reißen will.
Die Bojobæskihytta besteht wie die meisten Hütten des norwegischen Wanderverbandes DNT aus zwei Gebäuden. Wir sitzen in der bequemen Haupthütte mit Ofen, einem Tisch mit Bänken und sechs Betten, aber in einiger Entfernung steht noch eine kleine unbeheizte Nothütte für den Fall, dass das andere Gebäude abbrennt. Der Aufenthalt wird nachträglich per Banküberweisung gezahlt.
Nach einem gemeinsamen Frühstück mit Stine beginnt für mich der wildeste Teil der Strecke. Auf den nächsten knapp hundert Kilometern werde ich auf keine einzige Schutzhütte, keine Schotterpiste und schon gar keine Straße treffen, dafür auf jede Menge Sümpfe, Bäche und Flüsse. Anders als auf dem schwedischen Kungsleden helfen hier keine Bohlenwege oder Brücken dabei, die Schuhe trocken zu halten. Bis auf ein paar vereinzelte Krüppelbirken wachsen keine Bäume oder Sträucher, die mir beim Rasten oder Zelten wenigstens ein bisschen Windschutz bieten könnten. Ich bin den Elementen voll ausgesetzt. Im Notfall bräuchte ich mindestens einen ganzen Tag, um mich bis zu einer Autostraße durchzuschlagen. Erstaunlicherweise hat mein Handy in dieser menschenleeren Gegend streckenweise aber sehr guten Empfang.
Ich habe großes Glück mit dem Wetter: Außer ein paar vorübergehenden Schauern bleibt es trocken, die Tageshöchsttemperaturen liegen bei zehn bis zwölf Grad. Zudem ist der Pegel der Flüsse so spät im Sommer niedrig und reicht mir bis maximal zu den Knien. Eiskalt ist das Wasser trotzdem. Im Juni zur Schneeschmelze oder nach heftigen Regenfällen können die Furten auch unpassierbar sein. Deshalb beträgt das Zeitfenster für diesen Trail nur etwa drei Monate: Vor Mitte Juni liegt noch zu viel Schnee, ab Mitte September ist mit Frost und Neuschnee zu rechnen.
Die Samen kennen übrigens nicht bloß vier, sondern gleich acht Jahreszeiten. Der August ist der čakča-giesie, der Herbstsommer. Jetzt sind Pilze und Moltebeeren reif. Die blassrosa Früchte mit leicht säuerlichem Geschmack wachsen ausschließlich in sumpfigen Gebieten und versüßen mir dort die dauernassen Füße. Weiterer Vorteil dieser Jahreszeit: Es gibt kaum mehr Mücken!
Die sich langsam vom sommerlichen Grün in herbstliches Braun färbende Tundra erstreckt sich scheinbar endlos bis zum Horizont, ein paar Tümpel und Seen sind die einzige Abwechslung. In Ermangelung von Bäumen oder Felsen ist die Route mit Steinmännchen oder Steinplatten markiert, auf denen in roter Farbe ein »T« gemalt ist. Oft geht es einfach cross country durchs Gelände, nur manchmal folgen die Markierungen schwachen Fahrspuren.
Nach drei Tagen erreiche ich die Europastraße 6, von wo aus dreimal am Tag ein Bus nach Olderfjord fährt. Ich gehe den sechs Kilometer langen Abstecher einfach zu Fuß. Der kleine Ort lebt vor allem von den Touristen auf dem Weg zum Nordkap, daher gibt es neben der Besucherinformation einen riesigen Souvenirshop und einen kleinen Lebensmittelladen, dessen Angebot leider auf motorisierte Einkäufer ausgelegt ist. Von hier aus sind es aber nur noch hundert Kilometer bis zum Ziel. Ich brauche also nicht mehr viel Proviant und gönne mir für die letzte Etappe einen riesigen Block geitost, einen halbfesten Braunkäse aus Ziegenmilch mit süßlich karamelligem Geschmack. Dazu gibt es Fladenbrot und ein Stück getrocknetes Rentierfleisch.
Zurück auf dem E1 wird die Landschaft noch wilder. Jetzt sehe ich überhaupt keine Bäume mehr, und die Meeresnähe macht sich durch heftigen Wind bemerkbar. Ich bin froh, meine Pause in der offenen Notunterkunft Stohpojohka verbringen zu können, der privaten Hütte eines Samen. Während ich meinen geitost verdrücke und auf dem zähen Rentierfleisch herumkaue, studiere ich interessiert das Gästebuch. Wie klein doch die Welt der Thruhiker ist: Einige Wanderer, die sich hier verewigt haben, kenne ich sogar persönlich von früheren Touren. Doch selbst in der windgeschützten Hütte wird mir bald zu kalt. Also schnell weiter!
Vom sumpfigen Fjell stapfe ich hinauf zur Steinwüste auf dem Bergrücken Bealjáidcopma. Die Aussicht von 450 Meter Höhe ist gigantisch, der Wind leider auch. Vor mir kann ich das Meer erkennen, rechts und links blicke ich auf bleigraue Seen, die so zahlreich sind, dass sie statt Namen nur Nummern tragen. Schaumkronen zieren das Wasser, der norwegische Wetterdienst hat sogar eine Windwarnung ausgesprochen. In der Ferne ziehen immer wieder ein paar Rentiere vorbei, mehrfach stoße ich im Geröll auf weiß gewaschene Geweihe oder Knochen.
Etwa 200 000 Rentiere leben in Norwegen, laut Gesetz dürfen sie ausschließlich von Samen gehalten werden. Die riesigen Weideflächen sind mit kilometerlangen Zäunen begrenzt. Einige davon sind permanent, andere werden jährlich umgesteckt, was die Orientierung schwierig macht. Jetzt im Spätsommer treiben die Züchter die männlichen Tiere zur Schlachtung zusammen, heutzutage ganz unromantisch auf lautstark knatternden Quads.
Am Morgen des 31. August erhalte ich eine SMS von Dagmar, einer deutschen Auswanderin, die mich vor zwei Wochen beherbergt hat. »Hei Christine«, schreibt sie. »Meine samische Kollegin hat sich heute nach dir erkundigt und meint, das Wetter wird sich ändern. Die Rentiere kommen in Bewegung. Mach jetzt keine langen Pausen mehr. Es wird zwar noch mal schön, aber das ist die Ruhe vor dem Sturm. Der Winter steht direkt vor der Tür.« Dagmars Kollegin soll recht behalten. Bereits Mitte September wird es in der Finnmark zu einem frühen Wintereinbruch kommen. Ein Wanderkollege wird die letzten 250 Kilometer bis zum Nordkap auf der Straße laufen müssen, weil die Strecke des E1 durchs Fjell ohne Ski nicht mehr passierbar ist.
Doch ich schalte erleichtert mein Handy aus. Vor mir liegen nur noch 31 Kilometer – und der Nordkaptunnel. Er verbindet auf knapp sieben Kilometer Länge das Nordkap auf der Insel Magerøya mit dem Festland und verläuft an der tiefsten Stelle 212 Meter unter dem Meeresspiegel. Um Frostschäden zu vermeiden, ist er an beiden Enden mit Toren versehen, die sich ab einer bestimmten Temperatur automatisch verschließen. Drinnen sorgen gigantische Ventilatoren für Durchzug.
Obwohl am Eingang kein Verbotsschild für Fußgänger hängt, fahren die meisten E1-Wanderer mit dem Bus oder per Anhalter hindurch. Ich will aber wie immer dem ehernen Prinzip der connecting footsteps folgen und auch diese Strecke durchgängig laufen. Deshalb bin ich sogar extra früh aufgestanden, um noch vor Einsetzen des Touristenverkehrs auf der anderen Seite anzukommen. Als ich die dunkle Höhle mit weichen Knien betrete, fällt mir erst mal ein Stein vom Herzen. Auf beiden Seiten der Röhre gibt es einen gut fünfzig Zentimeter breiten, erhöhten Randstreifen, auf dem ich vor dem Verkehr geschützt bin. Mit einem Gefälle von neun Prozent geht es im gelben Schein der Straßenbeleuchtung stetig bergab und dann genauso steil wieder hinauf. Während es draußen bei starkem Wind heftig regnet, fühle ich mich tief unter dem Meeresspiegel sicher wie in Abrahams Schoß. Der Schall kündigt die wenigen Autos schon Minuten vorher an, nur beim lautstarken Anspringen der Ventilatoren erschrecke ich kurz. Als ich Licht am Ende des Tunnels sehe, bin ich fast traurig, dass dieses skurrile Erlebnis schon vorbei ist.
Das Nordkap befindet sich auf einem 307 Meter steil aus dem Wasser aufragenden Felsplateau, 514 Kilometer nördlich des Polarkreises und rund 2100 Kilometer südlich des Nordpols. Motorisierte Touristen müssen für den Besuch umgerechnet 26 Euro zahlen, als Wanderin kann ich das Kassenhäuschen unbehelligt passieren. Ein großer Granitblock mit dem roten »T« und der Inschrift »E1« markiert das Ende meiner Wanderung. Bei dem Versuch, davor einhändig ein Selfie zu machen, reißt mir der Wind mein Schlauchtuch vom Kopf. Blitzschnell spurte ich zwischen verwunderten Touristen hinterher und kann es gerade noch fassen, bevor es unwiederbringlich ins Meer geweht worden wäre.
Für das Foto unter dem berühmten Globus hole ich mir daher Hilfe: Zwei ältere deutsche Radler, die sich gerade im Souvenirshop aufwärmen, erbarmen sich meiner. Beim Posieren halte ich meine Kopfbedeckung dieses Mal vorsichtshalber fest … Lange ertrage ich den eisigen Wind auf dem ausgesetzten Plateau allerdings nicht, ich warte lieber in der Nordkaphalle auf die Abfahrt meines Busses. Auf dem Rückweg sehe ich die beiden Deutschen, die sich auf ihren Fahrrädern mühsam gegen den Wind vorwärtskämpfen. Ich winke ihnen zu und lasse mich erleichtert in meinen Sitz zurücksinken. Ich habe es geschafft!
Für wen: