Land:
Schweden | Länge:
353 km
Schwierigkeit:
** | Budget:
€€€ | Jahreszeit:
Sommer
Natur:
** | Kultur:
* | Special Interest:
Kungsleden einmal anders
Der skandinavische Begriff friluftsliv lässt sich nur schwer übersetzen. Natursport, Freiluftleben, draußen sein – all das trifft es nicht ganz, denn es handelt sich nicht um eine bloße Outdoorbeschäftigung, sondern eher um einen Lebensstil und sogar um eine Philosophie. Friluftsliv bedeutet, für das spirituelle und körperliche Wohlbefinden Zeit in der Natur zu verbringen – und hat wahrscheinlich sehr viel damit zu tun, dass Finnland, Schweden und Norwegen im jährlich erhobenen Glücksranking mit schöner Regelmäßigkeit ganz weit vorne liegen.
Etwa ein Drittel der Schweden ist mindestens einmal pro Woche draußen aktiv, 17 Prozent der insgesamt zehn Millionen Einwohner sind Mitglied in einer Frilufts- Organisation, wobei der Svenska Turistföreningen (STF ) mit etwa 250 000 Mitgliedern an der Spitze steht. Motto der bereits 1885 gegründeten Vereinigung: »Kenne dein Land!« Dazu unterhält der STF 320 vandrarhem oder Hostels sowie ein riesiges Sommer- und Winterwanderwegenetz, das auch einen der beliebtesten europäischen Trails umfasst: den Kungsleden im Norden Lapplands.
Im deutschsprachigen Raum gibt es wohl kein Outdoorforum und kein Wandermagazin ohne Berichte über diesen Traum jedes Skandinavienfans. Doch so spektakulär der Trail nördlich des Polarkreises ist, so überlaufen ist er auch: In der kurzen Sommersaison tummeln sich auf den gut 450 Kilometern bis zu 30 000 Wanderer! Die Schweden nennen ihn deshalb auch »Sillasksväg«, was übersetzt in etwa »Heringsdosenweg« heißt. Es ist so voll, dass ich in der Hochsaison im Juli kaum eine Chance habe, unbeobachtet pinkeln zu gehen.
Dabei existiert ein ähnlich interessanter, aber kaum begangener Zwilling. Ursprünglich sollte sich der Kungsleden nämlich über 1000 Kilometer hinweg bis zum südlichsten Fjäll Schwedens erstrecken, doch nur zwei Teilstücke wurden bisher realisiert: der populäre nördliche Kungsleden zwischen Hemavan und Abisko und gut 300 Kilometer entfernt der unbekannte südliche Kungsleden zwischen Sälen und Storlien.
Auf meiner Wanderung treffe ich in den ersten Tagen ab Sälen keinen einzigen Menschen. Kein Wunder, denn laut Trailstatistik begeht gerade mal ein Prozent der Kungsleden-Wanderer diesen Abschnitt. Bisher führte meine Route durch Schweden immer nur durch Wald, kaum habe ich nun das hölzerne Tor mit der Aufschrift »Södra Kungsleden« durchschritten, bin ich in einer anderen Welt. Die hügelige Landschaft Mittelschwedens erhebt sich langsam zum Skandinavischen Gebirge, besser bekannt als Fjäll. Ein paar Hundert Meter Höhenunterschied bringen mich schnell über die Baumgrenze hinein in diese weite Ebene mit grandioser Fernsicht. Lediglich ein paar winzige, windverkrüppelte Bäume stehen am Wegesrand, die höchste Erhebung am Horizont sind die Holzpfähle mit der Winterwegmarkierung des Kungsleden. Vor allem aber fasziniert mich die absolute Stille. Kein Rauschen von Blättern, kein Gluckern von Bächen und schon gar kein Verkehrslärm dringen an meine Ohren. Die einzigen Geräusche sind das Tschilpen der Vögel, mein keuchender Atem und manchmal das Knirschen meiner Schritte im Schnee, der jetzt Mitte Juni noch nicht ganz geschmolzen ist. Dabei hat der Frühsommer längst Einzug gehalten: Die ersten beiden Tage erlebe ich fast 24 Stunden Sonnenschein, denn so hoch im Norden wird es um die Mittsommerwende gar nicht richtig dunkel.
Doch schon am dritten Tag schlägt das Wetter um. In dieser kargen Landschaft bin ich Regen und Wind wehrlos ausgeliefert, nur selten steigt der Weg hinab in den schützenden Wald. Da für den Abend sogar noch heftigere Niederschläge angekündigt sind, steuere ich durchfroren und durchnässt die Tangåstugan am gleichnamigen Fluss an. Die Hütte hätte Platz für drei Personen, so früh in der Saison bin ich aber allein. Sofort entledige ich mich meiner nassen Kleidung und bereite mir auf dem Campingkocher einen heißen Tee zu, den ich dick eingemummelt am Hüttenfenster sitzend genieße. Monoton prasselt der Regen aufs Dach, Windböen peitschen die Tropfen ans Glas, durch das ich den rauschenden Fluss bloß verschwommen erkennen kann. Jetzt verstehe ich auch das Konzept hinter einem weiteren skandinavischen Begriff, hyggelig, behaglich, geborgen, gemütlich. Genauso fühle ich mich in der Sicherheit dieser warmen Hütte. Gerade mal zehn Euro, zahlbar per Überweisung, kostet die Übernachtung in dieser einfachen Unterkunft. Ich hätte ein Mehrfaches ausgegeben, nur um aus diesem Sauwetter rauszukommen.
Zwölf Stunden später sind die grauen Regenwolken im wahrsten Sinne des Wortes weggeblasen, mich begrüßen am Morgen strahlender Sonnenschein und der erste Elch auf dieser Tour. Die Route führt über ein Hochplateau mit vielen kleinen Seen, auf denen der Wind weiße Schaumkronen aufwühlt. Mühsam kämpfe ich mich voran, bis endlich die Särnmanskoja in Sicht kommt, eine spitzgiebelige Windschutzhütte und meine einzige Chance auf eine geschützte Mittagspause. Ich muss meine ganze Kraft aufbieten, um die Tür gegen die heftigen Windböen aufzuziehen. In der winzigen Holzhütte befinden sich lediglich zwei nackte Holzpritschen, ein paar Kerzenstummel und etliche leere Weinflaschen und Bierdosen, dennoch kommt sie mir vor wie ein kleines Paradies. Endlich kann ich meinen Kocher anwerfen und meine feuchten Füße und Schuhe ein wenig trocknen – auch wenn sie draußen sofort wieder nass werden.
Der Kungsleden führt nämlich immer wieder durch Sumpfgebiete. An den schlimmsten Stellen sind Bohlenwege verlegt, allzu oft stecke ich aber knöcheltief im Schlamm. Immerhin muss ich dann bei den Bachquerungen nicht lange überlegen, ob ich die Schuhe ausziehen soll, sie sind ja sowieso schon nass. Alle größeren Flüsse sind während der Wandersaison mit temporären Brücken versehen, die allerdings erst nach der Schneeschmelze aufgebaut werden. Wer also vor Mitte Juni startet, kann noch auf unpassierbare Hindernisse stoßen. Die Sommerroute ist außerdem hervorragend mit oranger Farbe und Steinmännchen markiert. Wetterschutz findet man in regelmäßigen Abständen in den unterschiedlichsten Arten von Hütten, angefangen vom primitiven offenen Windschutz bis zur luxuriösen Fjällstation, sogar eine ehemalige Schule und eine Sennerei sind dabei.
Grövelsjön, die südlichste Fjällstation Schwedens, liegt etwa in der Mitte des Weges und somit genau richtig für einen Ruhetag. Nachdem ich sechs Tage lang fast keinen Menschen getroffen habe, bin ich schon an der Rezeption vom großen Angebot überfordert: ein Zimmer mit eigenem Bad (100 Euro) oder Klo auf dem Gang (70 Euro)? Bettwäsche und Handtücher dazu (20 Euro extra)? Oder doch lieber draußen zelten (20 Euro)? Selber kochen oder die Mahlzeiten dazubuchen (50 Euro)? Abendessen um wie viel Uhr?
Für das billigste Zimmer einschließlich Frühstück und Abendessen muss ich pro Tag knapp 150 Euro hinblättern. Als ich abends in meiner winzigen Kammer auf dem Stockbett liege, frage ich mich, ob das alles den horrenden Preis wert ist. Nach dem Abendessen lautet meine Antwort eindeutig »ja«! Denn auf dem Speiseplan steht Roastbeef in Rotweinsoße mit Backkartoffeln, dazu eine leckere Suppe vorneweg, jede Menge Beilagen und zum Nachtisch frisch gebackene Brownies, und das alles mit unbeschränktem Nachschlag vom All-you-can-eat -Büfett. »Der Koch muss aus einem Fünfsternerestaurant kommen«, sage ich scherzhaft zu meiner schwedischen Sitznachbarin.
»Da hast du wahrscheinlich recht«, erwidert sie ganz ernsthaft. »Wegen der traumhaften Lage machen tatsächlich einige Spitzenköche ›Arbeitsurlaub‹ hier in den Bergen. Viele Schweden kommen gar nicht zum friluftsliv her, sondern wegen des ausgezeichneten Essens.«
Kein Wunder, dass Grövelsjön eher einem Wellnesshotel gleicht als einer Hütte. Es gibt sogar eine Sauna, dazu einen kleinen Lebensmittelverkauf und einen gut ausgestatteten Outdoorladen, wo ich mir neue Trekkingstöcke hole, denn die werde ich auf der nächsten Etappe dringend benötigen.
Vor mir liegt das Rogen-Gebiet, wo die eiszeitlichen Gletscher ein Mosaik aus Gesteinsschutt und jeder Menge kleiner Seen zurückgelassen haben. Diese Landschaft dicht an der norwegischen Grenze ist ein Paradies für Paddler, und auch ich wäre lieber mit dem Boot unterwegs als zu Fuß. Das Wandern über die teilweise riesigen Felsbrocken erfordert eine höllische Konzentration. Obwohl auf der markierten Route die größten Hindernisse weggeräumt wurden, kann schon ein falscher Schritt zu schmerzhaften Verletzungen führen. Glücklicherweise fällt mir dieser Balanceakt mit meinem ultraleichten Gepäck und den neuen Trekkingstöcken nicht besonders schwer. Die meisten Wanderer sind auf diesem Hindernisparcours allerdings mit bis zu 25 Kilogramm im Rucksack unterwegs!
Ich sehe schon von Weitem, dass die offene Windschutzhütte am Rogensee belegt ist. Zwischen den flechtenbewachsenen Waldkiefern steigt der weiße Rauch eines Lagerfeuers in den wolkenverhangenen Himmel. Das war zu erwarten, denn ab Grövelsjön steigt die Besucherzahl rasant. Neugierig mache ich den kurzen Abstecher zum Rastplatz und werde freundlich von einem jungen englischen Paar begrüßt: »Möchtest du eine Tasse Tee?«
Der Wasserkessel steht schon auf dem Rost über der Feuerstelle, daneben zwei Aluminiumtassen und ein großer Plastikbehälter mit Keksen und Bananen. Die beiden Ärzte können sich dieses Zusatzgewicht leisten, weil sie mit dem Kanu unterwegs sind. Bei einem so netten Empfang bleibe ich doch glatt hier und baue schnell mein Zelt am Wasser auf. Beim gemeinsamen Abendessen und Frühstück erzählen sie mir die erschreckendsten Geschichten aus ihrem Alltag in der Krankenhausnotaufnahme und von den Problemen des britischen Gesundheitssystems. »Wir sind einfach ausgebrannt«, berichten die gerade mal Dreißigjährigen resigniert, während wir dicht gedrängt um das Lagerfeuer vor der Schutzhütte sitzen. Ich hoffe, dass das friluftsliv ihren Frust zumindest lindern kann.
Am nächsten Morgen verlasse ich die zwei nur schweren Herzens, denn die Wetteraussichten sind alles andere als erfreulich. Vorsichtig erklimme ich den fast 1000 Meter hohen Tandsjövalen über knöchelgefährdende Blockfelder. Als ich meinen Blick vom flachen kargen Gipfel über den riesigen, von dunkelgrünen Wäldern umrahmten Rogensee schweifen lasse, kann ich am Himmel noch ein paar blaue Tupfer zwischen all den grauen Wolken erspähen. Doch schon am Nachmittag setzt der angekündigte Wettersturz ein. In den nächsten vier Tagen wird die Temperatur vier Grad Celsius nicht mehr übersteigen, dazu kommt ein heftiger Wind. Da es im Fjäll selbst im Hochsommer kurzfristig schneien kann, habe ich natürlich Handschuhe, eine warme Mütze und lange Unterwäsche dabei. Nur hatte ich nicht damit gerechnet, dass ich meine Winterkleidung und Regenjacke Ende Juni tagelang am Stück tragen würde. Und von der rauen Schönheit dieser Landschaft bekomme ich nun auch nicht mehr viel mit, denn meist verhüllt dichter Nebel die weiten Ebenen.
»Das ist noch gar nix!«, ruft ein schwedischer Lehrer aus, als ich grummelnd am Lager seiner Schülergruppe vorbeilaufe. Die roten Expeditionszelte der Jugendlichen sind die einzigen Farbtupfer im Grau von Wolken, Nebel und Regen. »Wir kampieren jedes Jahr genau an dieser Stelle, und viermal hat es um diese Jahreszeit sogar heftig geschneit!« Zum Beweis zeigt er mir ein Foto mit Zelten im Schnee.
»Haben Sie die Tour denn nicht abgebrochen?«, frage ich ungläubig nach, weil ich mir kaum vorstellen kann, dass die Jugendlichen in solchen Verhältnissen Spaß hatten.
»Nö, wir Schweden sind dieses Wetter ja gewohnt. In entsprechender Kleidung werden selbst Kindergartenkids bei Schnee und Regen zum Spielen nach draußen geschickt«, erklärt er mir grinsend und weckt damit meinen Ehrgeiz. Wenn selbst Kleinkinder diesem Wetter trotzen, dann will ich nicht als Weichei dastehen und in einer der Fjällstationen übernachten, die hier im Abstand von je zwanzig Kilometern entlang der Strecke liegen. Die Entscheidung wird mir auch durch die Preise leicht gemacht: Selbst ein Bett im gemischten Schlafsaal kostet fünfzig Euro, wohlgemerkt ohne Bettwäsche und Handtücher! Doch der hohe Preis ist gerechtfertigt, denn diese abgelegenen Hütten müssen aufwendig über Hundeschlitten oder Helikopter versorgt werden. Hunde sind übrigens ohne Mehrpreis willkommen.
Nach dem skandinavischen Jedermannsrecht darf im Fjäll eigentlich überall ganz legal gezeltet werden. Es ist nur gar nicht so einfach, eine passende Stelle zu finden. Denn in diesem flachen Gelände bieten weder Bäume noch Felsen Wetterschutz, stattdessen muss ich jede kleine Bodenunebenheit nutzen, um mich wenigstens ein bisschen vor dem beißenden Wind verstecken zu können. Dazu ist der Untergrund oft viel zu morastig für einen Lagerplatz. Schnell lerne ich, dass das wattebauschartige Wollgras ein guter Indikator für die Bodenbeschaffenheit ist, denn die weißen Tupfen erblühen ausschließlich in sumpfigen Moorgebieten. Wasser im Überfluss hat allerdings den riesigen Vorteil, dass ich tagsüber maximal einen Liter herumtragen muss.
Die nächsten drei großen Hütten steuere ich dennoch kurz an. Weil sie über einen eigenen Funkmast verfügen, gibt es nämlich hervorragenden Handyempfang. Mit dem nötigen Kleingeld kann man sowohl in den Fjällstationen als auch den größeren Hütten Proviant nachkaufen, die Preise beinhalten allerdings einen saftigen Wildniszuschlag. Ein richtiger Supermarkt findet sich nur im winzigen Ort Flötningen, zwei Kilometer von der norwegischen Grenze entfernt. Trotz der abgeschiedenen Lage hat er jeden Tag für Einkäufer aus dem Nachbarland geöffnet, denn dort sind Lebensmittel noch teurer als in Schweden.
»Ah, eine Kungsleden-Wanderin!«, erkennt mich der freundliche Eigentümer sofort, hat aber leider wenig outdoortauglichen Proviant im Angebot. Immerhin finde ich das typisch skandinavische rotmos, ein Instantpüree aus Wurzelgemüse, und lösgodis, ein Selbstbedienungsbüfett mit unverpackten Süßigkeiten, aus denen man sich eine eigene Mischung zusammenstellen kann. Ich kaufe gleich ein Kilogramm.
Am Ende dieser Tour in Storlien angelangt, bin ich noch immer kein Skandinavienfan, weil ich auch auf dem südlichen Kungsleden auf die typischen Probleme einer Fjällwanderung gestoßen bin. Bei schlechtem Wetter ist man den Elementen in der offenen Landschaft einfach schutzlos ausgeliefert. Man muss schon ein glühender Anhänger des friluftsliv sein, um mehrere Tage am Stück begeistert durch Matsch, Regen, Wind und Nebel zu laufen. Die vielen Fjällstationen und Hütten am Weg bieten zwar eine hyggelige Zuflucht, aber man muss sich das hohe Preisniveau erst mal leisten können.
Doch wenn der Himmel kurz aufreißt und die Sonne die schier endlose Weite bescheint; wenn plötzlich eine Rentierherde oder ein Elch meinen Weg kreuzt; wenn mir nach einem durchfrorenen Tag die heimelige Wärme einer Hütte entgegenschlägt, ja, dann verstehe ich sofort, warum es so viele Menschen immer wieder zum friluftsliv in den Norden zieht.
Für wen: