Land:
Polen | Länge:
420 km
Schwierigkeit:
* | Budget:
€ | Jahreszeit:
ganzjährig
Natur:
* | Kultur:
*** | Special Interest:
Ostpreußen
Kaum habe ich am 17. März 2021 die ersten zehn Kilometer östlich der Neiße zurückgelegt, da schickt mir ein Wanderfreund per SMS die Hiobsbotschaft: »Polen macht jetzt auch zu: Läden ab Montag geschlossen, touristisches Beherbergungsverbot!« Entsetzt starre ich mein Handy an. Gestern erschien mir Polen noch als großartiges Wanderziel. Während Deutschland weiterhin im Corona-Lockdown verharrt, brauchte ich bei meiner heutigen Einreise nicht einmal einen Test, und alle Geschäfte, Hotels und Museen sind geöffnet – jetzt allerdings nur noch bis Montag.
Die Hotelschließungen wären für mich als überzeugte Wildzelterin eigentlich kein Problem, wenn da nicht das Wetter wäre. Es herrschen nach wie vor winterliche Temperaturen, der Wetterbericht kündigt sogar Schneestürme an. Wenn ich gewusst hätte, dass mich der kälteste Frühling seit über neunzig Jahren erwartet, wäre ich wahrscheinlich gleich wieder nach Hause gefahren. So rufe ich nur alarmiert meine Wanderfreundin Agnieszka an und zitiere aufgeregt die Schlagzeile eines deutschen Zeitungsberichtes über die Corona-Situation: »Polen steht am Rande einer Katastrophe!«
Agnieszka bricht in schallendes Gelächter aus und gibt mir gleich ein Beispiel polnischer Lebenseinstellung: »Mach dir keine Sorgen, Christine. Polen steht seit Jahrhunderten am Rand des Abgrunds. Heute sind wir sogar schon einen Schritt weiter.«
»Aber der Lockdown wird meine Tour verdammt verkomplizieren«, protestiere ich, obwohl mich ihr schwarzer Humor grinsen lässt. Wieder ertönt Lachen am anderen Ende. »Welcher Lockdown? Ein paar Geschäfte und Hotels machen zu. Aber das ist Polen, da findet sich immer ein Weg. Glaub mir, du wirst keine Probleme haben.«
Agnieszka behält recht. Trotz aller Widrigkeiten kann ich wie geplant das gesamte Land von West nach Ost durchqueren. Der landschaftlich schönste Abschnitt sind die gut 400 Kilometer auf dem Europäischen Fernwanderweg E11 durch den dünn besiedelten Nordosten der Republik, von Olsztyn in Masuren bis zur litauischen Grenze in Podlachien. Hier wandere ich nicht nur durch einsame Natur, sondern auch durch die europäische und speziell deutsche Geschichte.
Und das merkte ich schon vor Tourenbeginn. Seit ich meine Pläne im Freundeskreis und auf den sozialen Medien kundgetan habe, hagelt es Anfragen wie: »Läufst du auch durch X/Y/Z …? Meine Oma/Schwiegermutter/Urgroßeltern kommen von dort!« Ich werde um Fotos gebeten, erfahre von berührenden Familiengeschichten und höre immer wieder den Satz: »Da wollte ich schon immer mal hin!«
Egal ob in Olsztyn (Allenstein), Dobre Miasto (Guttstadt), Lidzbark Warmiński (Heilsberg), Reszel (Rössel) oder Kętrzyn (Rastenburg) – überall stoße ich auf Spuren deutscher Geschichte in Form von verwilderten Friedhöfen, Inschriften auf Wegkreuzen sowie überdimensionierten Backsteinkirchen und -burgen, die heute inmitten von modernen sozialistischen Wohnblöcken seltsam archaisch anmuten. Auf deutsche Touristen ist man in dieser Gegend besonders gut eingestellt. Als ich in Olsztyn beim Fotografieren in der Kathedralbasilika St. Jakob zu nahe an den alarmgesicherten Bereich herantrete, schallt sofort lautstark eine scheppernde Stimme vom Band: »Den Altarraum bitte nicht betreten!« Und zwar auf Deutsch …
In der St.-Georg-Kirche zu Kętrzyn entdecke ich gar direkt an der Kanzel Gemälde der deutschen Reformatoren Martin Luther und Melanchthon! Verblüfft blicke ich mich um, doch das in Polen anscheinend obligatorische Bild von Papst Johannes Paul II . versichert mir, dass ich mich in einem katholischen Gotteshaus befinde. Eine Informationstafel, natürlich zweisprachig auf Polnisch und Deutsch, löst meine Verwirrung auf: St. Georg war wie die meisten Gotteshäuser in Masuren bis 1945 protestantisch, da sich die Mehrzahl der deutschsprachigen Bevölkerung zur evangelischen Konfession bekannte. Erst nach deren Vertreibung wurden so gut wie alle dieser Kirchen zum Katholizismus »konvertiert«.
Nicht nur in den ehemals deutschen Städten, sondern auch auf dem Land führt mich der E11 zu so manchem unbekannten historischen Kleinod. Im winzigen Örtchen Smolajny (Schmolainen) macht der Weg einen riesigen Schlenker zur ehemaligen Sommerresidenz der Bischöfe von Ermland, die vor Kurzem wieder auf Hochglanz renoviert wurde. Glücklicherweise kürze ich diesen Umweg nicht ab! In dem verwilderten Park des Barockschlosses mit seinen hohen Mauern, Torhäusern und verspielten schmiedeeisernen Toren komme ich mir fast vor wie eine Prinzessin in einem Märchenfilm – auch wenn ich in schlammbespritzter Wanderkleidung unterwegs bin und nicht im Rüschenkleid.
In weniger gutem Zustand ist Schloss Steinort am Mamry (Mauersee). Es gehörte Heinrich Graf von Lehndorff-Steinort, der an der Verschwörung gegen Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt war und deshalb in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde. Während sich im modernen Jachthafen bunte Boote und Touristen tummeln, versuchen ein paar Bauarbeiter, das halb verfallene Barockschloss mit einer Notsicherung vor dem endgültigen Einsturz zu bewahren, finanziert mit den Spenden einer deutsch-polnischen Stiftung.
Der Schauplatz des missglücken Attentats, das Führerhauptquartier Wolfsschanze, liegt nur 25 Kilometer weiter südwestlich, ebenfalls direkt am E11. Das weitläufige Gelände mit den unzähligen Betonbunkern wird heute von einem privaten Pächter als eine Art Erlebnispark betrieben. Bis vor Kurzem konnte man im ehemaligen Bunker von General Jodl sogar mit MP 40-Repliken, der Maschinenpistole der deutschen Wehrmacht, Paintball spielen. Hotelübernachtungen sind immer noch direkt auf dem Gelände möglich – in einer ehemaligen Kaserne für SS- Offiziere. Wem dieses »Hitler-Disneyland« für vier Euro Eintritt nicht behagt, der kann auch außerhalb des eingezäunten Geländes mehrere verfallene Bunkeranlagen besichtigen.
Die Puszcza Romincka (Rominter Heide), in die mich der Weg anschließend führt, war das Jagdrevier von Kaiser Wilhelm II . und Hermann Göring, der einen »Reichsjägerhof« errichtete. Heute liegen zwei Drittel des Gebietes in der russischen Enklave Kaliningrad, ein Drittel in Polen. Die Grenze zwischen Russland und der EU verläuft hier ungesichert mitten im Wald, nur unregelmäßig markiert mit ein paar Grenzsteinen. Eine Holztafel weist mir den Weg zu einem der »Kaiser Wilhelm Gedächtnissteine«. Auf dem halb im Sumpf versunkenen Stein kann ich mit etwas Mühe noch die Inschrift entziffern: »Hier erlegte Seine Majestät Kaiser Wilhelm II . am 23. September 1908 einen kapitalen 20 Ender.«
Kurz bevor ich an diesem Abend meine vorgebuchte Unterkunft erreiche, hält ein Jeep neben mir. »Polish border patrol«, lese ich auf der Camouflage-Jacke des Fahrers. Nun wird es Zeit für den Satz, den ich auf dieser Wanderung mehrfach täglich einsetzen muss: »Nie mówię po polsku – Ich spreche kein Polnisch.«
»Passport!«, fordert mich der Grenzschützer also auf Englisch auf. Seine Kollegin, trotz Tarnfleckenanzug perfekt geschminkt und mit rot lackierten Fingernägeln, versucht eine Viertelstunde lang, auf ihrem Laptop im warmen Fahrzeug meinen Ausweis zu überprüfen. Wahrscheinlich scheitert sie am ü in meinem Nachnamen, das auf der polnischen Tastatur nicht zu finden ist. Währenddessen gebe ich mir draußen im eisigen Wind Mühe, in einfachen Worten zu erklären, was zum Teufel ich mutterseelenallein mitten in dieser Pampa mache. So dicht an der russischen und litauischen Grenze blüht der Schmuggel mit Alkohol und Zigaretten, aber allzu viel illegale Ware kann ich in meinem Ultraleichtrucksack ja wohl nicht mitschleppen. Als die Beamten mir meinen Ausweis endlich zurückgeben, fragen sie noch, wo ich denn heute übernachten wolle. »Agroturystyka«, erkläre ich und weise erleichtert auf den nahe gelegenen Bauernhof. Immerhin muss ich nicht zugeben, dass ich wildzelte.
»Aber Hotel verboten wegen Covid«, radebrecht der Grenzschützer augenzwinkernd auf Englisch und grinst breit. Das Beherbergungsverbot scheint er wohl nicht durchsetzen zu wollen.
»Ich bin als Autorin beruflich unterwegs«, verteidige ich mich trotzdem vorsorglich, denn im Gegensatz zu touristischen Übernachtungen sind arbeitsbedingte Aufenthalte erlaubt. Beide Beamte können ein Lachen kaum unterdrücken, denn in meinen verschlammten Klamotten wirke ich wohl nicht wie ein Mitglied der schreibenden Zunft. »No problem!«, erklären sie gutmütig, obwohl sie mir kein Wort glauben, und winken zum Abschied freundlich.
Wie von Agnieszka vorhergesagt, finde ich trotz Corona-Beschränkungen problemlos Unterkünfte. Weder die Grenzschützer noch die Vermieter wollen dabei meine Arbeitsbescheinigung sehen. Meine Gastgeber bekomme ich meist gar nicht zu Gesicht, weil bei Ferienwohnungen Bezahlung und Check-in in der Regel völlig kontaktlos ablaufen. Die meisten Wohnkomplexe sind über einen Türcode zugänglich, der Wohnungsschlüssel wird vom Vermieter in einem Safe deponiert. Polen ist eines der günstigsten Länder der EU : Privatzimmer werden schon ab 15 Euro angeboten, ganze Ferienwohnungen ab 25 Euro, wobei die Ausstattung mit Induktionsherd, Spül- und Waschmaschine eher einer deutlich höheren Preisklasse entspricht.
Treffe ich Vermieter doch mal persönlich an, komme ich in den Genuss der polnischen Gastfreundschaft. »Wollen Sie einen Teller Suppe?«, fragt mich eine Gastgeberin am Wigry-See, als ich nach einem besonders winterlichen Tag verfroren in ihrer Pension ankomme und mir erst mal die Schneereste von der Jacke schütteln muss. Ich nicke begeistert, und sie serviert mir ein ganzes Abendessen mit Eintopf und Brotzeit. In Goldap steht meine Vermieterin gar mittags unangemeldet mit einem riesigen Wiener Schnitzel vor der Tür und verabschiedet sich sofort wieder mit einem freundlichen: »Smacznego – Guten Appetit!«
Da es selbst in kleinen Dörfern sklep spożywczy, kleine Tante-Emma-Läden, gibt, ist meine Verpflegung auch bei Zeltübernachtungen besser als sonst. Statt Tütengerichte schmause ich frische Piroggen. Diese typisch osteuropäischen Teigtaschen sind wahlweise gefüllt mit Quark, Kartoffeln, Sauerkraut, Pilzen oder Fleisch. Die süße Variante mit Heidelbeeren schmeckt sogar zum Frühstück.
Natürliche Quellen sind in dieser flachen Gegend selten, und aufgrund der anhaltenden Nachtfröste wurden die Wasseranschlüsse an den Friedhöfen noch nicht wieder angestellt. »Proszę, o wodę z kranu – Leitungswasser bitte!«, wird zum zweitwichtigsten Satz auf dieser Wanderung. Ein junger Mann, der an einer Garage soeben in sein Auto steigen will, antwortet darauf erstaunt in perfektem Englisch: »Was zum Teufel machen Sie denn hier bei diesem Wetter?« Ausländische Wanderer sind wohl eher selten.
Er braucht ungewöhnlich lange zum Wasserholen und kommt dann mit vollen Händen zurück. »Weil Ostern ist!«, meint er lächelnd und drückt mir mit meiner gefüllten Trinkblase jede Menge Süßigkeiten, zwei Orangen und einen Apfel in die Hand. Das Essen nehme ich natürlich gerne an, sein Angebot zum Mitfahren lehne ich trotz des April-Schneesturms höflich ab. Und das sind nicht die einzigen Geschenke – eine Bauersfrau gibt mir sogar einen halben Kuchen mit, liebevoll eingepackt in Alufolie: »Den habe ich gerade selbst gebacken …« In kaum einem anderen Land werde ich so reich mit Essen beschenkt. Aber vielleicht dachten die Polen angesichts des abschreckenden Wetters auch nur: Die arme Irre müssen wir füttern …
»Land der dunklen Wälder und kristall’nen Seen«, so wird die Landschaft im Ostpreußenlied treffend beschrieben, der wehmütigen Hymne der heimatvertriebenen Deutschen. Und tatsächlich führt mich der E11 auf sandigen Wegen und unbefestigten Straßen durch riesige Waldgebiete, in denen sich neben Elchen und Hirschen außerdem Wölfe tummeln sollen. In der Puszcza Borecka, ehemals Borkener Forst, befindet sich sogar eine Aufzuchtstation für Wisente! Die Route folgt den Markierungen verschiedener lokaler Wanderwege und ist selten explizit als E11 ausgeschildert. Mit Karte oder GPS stellt die Navigation in dem einfachen Gelände aber keinerlei Problem dar.
Doch bei aller Idylle: Spektakuläre Ausblicke hat man im Nordosten Polens nicht. Die Masurische Seenplatte ist eine eiszeitliche Moränenlandschaft, deren höchste Erhebungen gerade mal 300 Meter messen. Daher staune ich nicht schlecht, als ich am Goldaper Berg auf stolzen 272 Metern über dem Meeresspiegel an einem Wintersportzentrum mit Skiliften vorbeikomme.
Die Gletscher haben zwar keine atemberaubenden Berge hinterlassen, dafür 2700 Seen. Jeden Tag laden traumhafte Sandstrände an schilfbewachsenen Ufern zum Baden ein, aber bei immer noch winterlichen Temperaturen kann ich nur fröstelnd den Wasservögeln und Bibern beim Schwimmen zuschauen und mir sehnsüchtig vorstellen, wie schön es hier wohl im Sommer ist. Immerhin bleibe ich bei der Kälte von Mücken verschont.
Für andere hat der Frühling allerdings bereits begonnen. In Polen brütet ein Viertel der Weltpopulation der Weißstörche, sodass ich in manchen Dörfern gleich mehrere Nester auf den Pfosten der Stromleitungen erspähe und mich ihr Klappern morgens aus dem Schlaf reißt. Erdkröten, eine ihrer Nahrungsquellen, entdecke ich ebenfalls in Massen. Entweder liegen sie platt gefahren und eingetrocknet auf den Straßen oder hüpfen auf dem Weg zu den Laichgewässern an mir vorbei. Dabei lässt sich das kleinere Männchen vom Weibchen »tragen«, lauter Kröten im Huckepack kreuzen meinen Weg.
Egal zu welcher Jahreszeit: An Sonntagen sind die Kirchen so voll, dass die Gläubigen sogar bis vor die Tür stehen, obwohl die Gottesdienste im Stundentakt gehalten werden. 87 Prozent der Polen bekennen sich zum römisch-katholischen Glauben. Kein Wunder also, dass direkt am E11 auch vier bekannte Wallfahrtsorte liegen. Die riesige Klosteranlage von Stoczek (Springborn) fällt in dem gleichnamigen winzigen Ort mit gerade mal 300 Einwohnern völlig aus dem Rahmen. In den 1950er-Jahren war hier der Primas von Polen, Kardinal Stefan Wyszyński, von den Kommunisten interniert worden, seine damaligen Wohnräume können heute noch besichtigt werden. Im Nebengebäude entdecke ich sogar eine verwaiste Pilgerherberge. Eine halbe Stunde irre ich durch den wunderschön bemalten Kreuzgang und klopfe an jeder Tür des menschenleeren Gebäudes, doch ich kann niemanden entdecken, der mich eincheckt. Enttäuscht verbringe ich die Nacht also in meinem Zelt.
Eine Tagesetappe weiter erreiche ich die üppig ausgestattete Barockkirche von Święta Lipka (Heiligelinde) gerade rechtzeitig zum Abendgottesdienst. 200 000 Menschen pilgern in einem normalen Jahr hierher, nun zu Corona-Zeiten lausche ich mit gerade mal sechs anderen Besuchern der weltberühmten Orgel. An dem kunstvoll verzierten Prospekt bewegen sich geschnitzte Engel mit Trompeten und Lauten zu den Klängen der Musik. Am Eingang zum Gelände weist ein Schild darauf hin, dass die Pilgerherberge und sogar die öffentlichen Toiletten pandemiebedingt gesperrt sind. Auf der Suche nach Wasser tappe ich also wieder mal verzweifelt durch die langen Flure des Klosters. Als ich endlich mit aufgefüllten Flaschen ins Freie trete, schließt einer der Mönche gerade die schmiedeeiserne Tür zwischen den wuchtigen Klostermauern ab. In letzter Sekunde kann ich noch nach draußen schlüpfen – direkt in einen kalten Regenguss.
Stoczek, Święta Lipka und die Marienbasilika in Sejny an der litauischen Grenze gehören zu aktiven Mönchsklöstern, die Anlage in Wigry hingegen wurde vom Schweigeorden der Kamaldulenser schon vor 200 Jahren verlassen. In den Zellen der Eremiten sind heute Hotelgäste untergebracht. Bei der Standortwahl bewiesen die Mönche außerordentlich guten Geschmack: Die Kirche »Zur Unbefleckten Empfängnis Mariens« und die umgewidmete Klosteranlage sind höchst malerisch auf einer Halbinsel im glasklaren Wigry-See gelegen, mitten im gleichnamigen Nationalpark.
Nahe der Grenze zu Litauen und Belarus siedelten seit dem frühen 19. Jahrhundert die sogenannten Altgläubigen oder Philipponen, eine radikale Abspaltung der russisch-orthodoxen Kirche. Sie mussten aus ihrer Heimat fliehen, weil sie unter anderem den Militärdienst, den Eid und das Gebet für den Zaren ablehnten. Der preußische König Friedrich Wilhelm III . gestattete ihnen, sich hier auf unkultiviertem Boden niederzulassen, 1945 wurden sie allerdings auch aus Polen vertrieben. Am E11 erinnern ein paar russisch-orthodoxe Kreuze, ein verfallener Friedhof und die mittlerweile von Katholiken genutzte Holzkirche in Giby an diese russische Minderheit.
Vor 1939 lebten auch 3,3 Millionen Juden in Polen, heute sind es lediglich 5000. In Jeleniewo, einem kleinen Ort direkt am Weg, entdecke ich einen alten jüdischen Friedhof. Im Dezember 1939 wurden die hier lebenden 200 Juden, fast die Hälfte der Dorfbevölkerung, von den Nazis zusammengetrieben und in das Vernichtungslager Treblinka deportiert. Synagoge und Friedhof der Gemeinde wurden zerstört, die meisten der 500 Grabsteine für den Straßenbau verwendet. Erst in den 1990er-Jahren richtete Herman Storick, Nachfahre eines in die USA emigrierten Juden aus Jeleniewo, den völlig verwahrlosten Friedhof in einer Privatinitiative wieder her. Er fand nur noch 37 verwitterte Grabsteine, mazewot, vor. Nachdenklich wandere ich in einem Schneetreiben über den weitläufigen Friedhof, der auf Storicks Wunsch hin immer für Besucher geöffnet ist. Eine unscheinbare Plakette am Ausgang bringt meine Gedanken und das Motto dieser Wanderung auf den Punkt: »Wenn wir vergessen, wer wird sich erinnern?«
Für wen: