Land:
Litauen | Länge:
500 km
Schwierigkeit:
* | Budget:
€ | Jahreszeit:
ganzjährig
Natur:
* | Kultur:
** | Special Interest:
Unbekannter Pilgerweg für Anfänger
Unentschlossen blicke ich zum grauen Himmel hinauf. Soll ich trotz des ankündigten Regens weiterwandern oder lieber noch ein wenig im poilisis piligrimams, einer Hütte für Pilger, abwarten? Das zünftige Holzhäuschen ist mit Tischen, Bänken und Stromanschluss verlockend gut ausgestattet. Im reichlich gefüllten Kühlschrank kann ich mich an Brot, Butter, Salami und Käse bedienen, im Gefrierfach wartet sogar Schokoladeneis, oder ich könnte mir mit dem Wasserkocher eine Tasse Tee oder Kaffee zubereiten. Und für all das wird nicht einmal ein Obolus erhoben!
Auf der einzigen geteerten Straße des winzigen Dörfchens Rokoniai sinniere ich noch darüber nach, welcher Wohltäter diesen luxuriösen Pilgerrastplatz wohl unterhält, als mich ein älterer Mann anspricht – leider auf Litauisch. »Entschuldigen Sie, ich kann nur Englisch oder Deutsch«, erkläre ich frustriert in beiden Sprachen. Während die jüngere Generation Litauens in der Regel Englisch spricht, beherrschen die Älteren eher Russisch als Fremdsprache. Auch dieser freundliche Herr zuckt die Achseln und zieht sich in sein Heim zurück. Da noch kein einziger Regentropfen fällt, will ich gerade pflichtbewusst weitertrotten, als eine junge Frau aus dem Haus gelaufen kommt.
»Ich bin mit einer Freundin ebenfalls auf dem Camino Lituano unterwegs«, erklärt sie mir atemlos in Englisch. »Wir haben hier übernachtet, und der Hausherr möchte dich mit uns zusammen zum Mittagessen einladen!« Angesichts des drohenden Wolkengusses muss sie mich nicht lange überreden.
Zwei Minuten später nehme ich neben den beiden Pilgerinnen im Wohnzimmer von Kazimieras und Vitalija Platz. Der Tisch vor mir biegt sich fast unter all den Köstlichkeiten, die die Hausherrin aufgefahren hat: Brot, geräucherte Zunge, Salami, Käse, Tomaten, Gurken und Paprika. Schnell legt Vitalija ein weiteres Gedeck auf und serviert mir Cepelinai, mit Fleisch gefüllte »zeppelin«-förmige Kartoffelklöße, mit einem dicken Klecks saurer Sahne garniert. Da ich aus Deutschland komme, schleppt Kazimieras mir zu Ehren sogar einen gewaltigen Tonkrug Bier heran. Nur leider trinke ich das gar nicht.
»Macht nix«, meint Kazimieras und tischt stattdessen Schnaps und Likör auf. Letzterer passt besonders gut zu Šakotis, dem Gebäck zum Nachtisch. Dafür wird flüssiger Teig auf einen schnell drehenden Spieß gegossen, der beim Heruntertropfen zur »stacheligen« Form dieser Knüppeltorte führt.
Durch die Übersetzung der beiden Pilgerinnen erfahre ich, dass Kazimieras das Bier selbst gebraut hat, mit Wasser aus dem eigenen Brunnen. Das Gemüse stammt aus dem Garten vor dem Haus, und den Hirsch für die Salami hat er eigenhändig erlegt. Er unterhält auch die kleine Pilgerraststätte und hat sogar die überdimensionierte Kirche nebenan gebaut.
Nach zahlreichen Trinksprüchen auf die Pilger, Litauen und das Leben allgemein holt Kazimieras sein Akkordeon hervor und intoniert zusammen mit seiner Frau Volksweisen. Er ist ein so witziger und mitreißender Gastgeber, dass ich vor Lachen Tränen in den Augen habe und im Takt der Musik in die Hände klatsche. Begeistert stelle ich Kazimieras eine Frage nach der anderen, denn aus seinem bewegten Leben lerne ich viel über die Geschichte dieses kleinen Landes, das allzu oft Spielball der Weltmächte war. Es gehörte jahrhundertelang entweder zu Polen oder Russland oder wurde von Deutschland besetzt, nur zwischen den beiden Weltkriegen war Litauen ein unabhängiger Staat.
»1944 feierte mein Vater in diesem Haus noch abends mit den deutschen Soldaten. 24 Stunden später waren sie alle tot, erschossen von den vorrückenden Russen«, erzählt der 78-Jährige, der damals ein Baby war. »Wo ihre Leichen verscharrt sind, habe ich vor ein paar Jahren einen Gedenkstein errichtet.«
In der Zeit der sowjetischen Besatzung wurde die Familie enteignet. Kazimieras arbeitete als Traktorist in der Kolchose, seine Frau Vitalija als Buchhalterin. Als ich ihn bitte, die mir unbekannte litauische Nationalhymne zu spielen, lehnt der sonst so heitere Mann brüsk ab. »Ein Verwandter hat in den 1980er-Jahren auf einer Feier die Nationalhymne des unabhängigen Litauen angestimmt. Er wurde verpfiffen, und die Sowjets steckten ihn deshalb ein paar Jahre ins Gefängnis«, erklärt er bitter. »Dabei hatte er noch Glück. In den 1950er-Jahren hätten sie ihn dafür nach Sibirien geschickt.« Betreten nippe ich an meinem Schnapsglas.
»Trotzdem hasse ich die Russen nicht, ich verabscheue nur ihr politisches Regime«, sagt er und stimmt stattdessen eine Polka an.
Nach der Unabhängigkeit Litauens im Jahr 1991 wurde der Landbesitz an die früheren Eigentümer oder deren Nachfahren restituiert, so auch an Kazimieras. »Doch die meisten Jungen konnten gar nichts mit dem Land anfangen und wollten es schnell wieder loswerden«, erklärt er mir. »Die Leute haben mich damals für verrückt erklärt, aber ich habe einfach alles rund um mein Grundstück herum billig aufgekauft. Heute besitze ich 800 Hektar Land.« Mir fällt die Kinnlade herunter. Ein durchschnittlicher deutscher Bauer bewirtschaftet nicht mal ein Zehntel dieser Fläche.
Dieser riesige Grundbesitz ist kein Einzelfall. Seit Tagen wandere ich auf dem Camino Lituano durch Weizenfelder mit gigantischen Ausmaßen. Jetzt im August kann ich bis in die Nacht hinein das Brummen der gewaltigen Mähdrescher hören, die sogar bei Scheinwerferlicht die Ernte einfahren. Hinter jeder der Maschinen stakst ein halbes Dutzend Störche her, denen das frisch bearbeitete Erdreich wahrscheinlich vorkommt wie mir ein All-you-can-eat -Büfett. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viele landwirtschaftliche Maschinen (und Störche) im Einsatz gesehen wie auf dieser Tour durch Litauen.
Kazimieras hat sein Land mittlerweile verpachtet. »Stattdessen fliege ich jetzt«, erklärt er schmunzelnd, und ich glaube erst an einen Übersetzungsfehler.
»Doch, doch«, bestätigen die beiden Pilgerinnen. »Wir sind heute Morgen mit Kazimieras spazieren geflogen.« Der ehemalige Traktorist und Bauer hat im Ruhestand den Pilotenschein gemacht und sich gleich vier Sportflugzeuge angeschafft. »Zusätzlich zu den Autos und Motorrädern«, erläutern die jungen Frauen. »Nach dem Spazierflug hat er uns in seinem Hummer-Geländewagen zur nächsten Kirche gefahren.« Dieser Mann ist einfach verrückt nach Motoren …
Die Einladung hatte das perfekte Timing, denn während des Essens schüttet es wie aus Kübeln. Nach vier Stunden klart der Himmel endlich auf, trotz der fortgeschrittenen Tageszeit wollen wir drei Pilgerinnen jetzt weiter. Beim Abschied zeigen die beiden Frauen unseren Gastgebern noch ein paar Fotos auf ihrem Smartphone.
»Seid ihr auf eine Klosterschule gegangen?«, frage ich, als ich unter den Aufnahmen ein Gruppenfoto mit Frauen in Ordenstracht erspähe.
»Nein, wir sind selber Nonnen«, erklären sie mir – und ich bin zum wiederholten Male an diesem Nachmittag sprachlos. Magdalena und Benedikta tragen kein Habit, sondern Wanderkleidung, weil sie gerade Pilgerurlaub machen.
Der Camino Lituano ist zwar alles andere als überlaufen, trotzdem habe ich bisher fast jeden Tag neue Wanderer getroffen: eine litauische Frauengruppe in einheitlichen Pilger-T- Shirts, ein älteres Ehepaar, das hier jedes Wochenende für die spanischen Caminos trainiert, oder ein junges Pärchen, das den geplanten Thruhike schon nach einem Tag wegen falscher Schuhe abbrechen muss. Die beiden Nonnen aber sind bei Weitem die interessantesten Gesprächspartnerinnen und sprechen dazu noch gut englisch.
Unsere Route führt größtenteils über Schotterpisten oder andere unbefestigte Fahrwege durch eine brettflache Landschaft und ist hervorragend mit dem gelben Symbol der Jakobsmuschel markiert. Außer ein paar Schlammpfützen oder von Traktoren zerfahrenen Wegen gibt es also kaum technische Hindernisse. Mit dem Fahrrad würde ich das wahrscheinlich anders sehen, denn die Autos haben die staubigen Straßen mit tiefen Wellblechrinnen versehen. Als Fußgängerin kann ich mich nun jedoch auf den 13 Kilometern bis zur nächsten Pilgerherberge sehr gut mit Magdalena und Benedikta unterhalten.
»Sind hier viele Pilger aus religiösen Gründen unterwegs?«, frage ich neugierig. Laut Statistik bekennen sich mehr als drei Viertel der insgesamt drei Millionen Einwohner zum katholischen Glauben.
»Oh nein!«, rufen beide aus. »Die meisten Litauer sind bloß auf dem Papier katholisch und gehen höchstens zu den Feiertagen in die Kirche.« Das entspricht auch meinen Erfahrungen: Die Gotteshäuser in Litauen sind meist verschlossen, Messen finden – wenn überhaupt – nur einmal wöchentlich statt. »Als ich mit 17 Jahren meiner Familie mitteilte, dass ich Nonne werden will, wollte meine Mutter mich gar vor die Tür setzen«, erzählt Benedikta, die heute das jüngste Mitglied ihres Ordens ist. Die 28-Jährige hat mittlerweile Theologie und Mathematik studiert und unterrichtet an einer Schule.
Wie fast alle Pilger übernachten die beiden in Herbergen am Weg. Pro Nacht kostet das von fünf Euro in Gemeinschaftsunterkünften bis zu dreißig Euro in Hotels. Vom urigen holzgetäfelten Schlafsaal auf dem Sunny-Nights-Campingplatz bis zum Privatzimmer in dem luxuriös restaurierten Herrenhaus von Burbiškis ist alles dabei. Die entsprechende Unterkunftsliste habe ich mir im Internet heruntergeladen, obwohl ich wie üblich meist wildzelte. Das ist in Litauen außerhalb von Naturschutzgebieten und Nationalparks sogar legal!
Die nächste Herberge befindet sich in Vadaktai im ehemaligen Gesundheitszentrum des Dorfes, ein Poster über gesunde Ernährung weist noch auf die frühere Verwendung hin. Heute stehen in den drei Räumen je zwei Liegen, dazu wurden für die Pilger eine kleine Teeküche, Dusche und WC sowie eine Waschmaschine mit Trockner installiert. Magdalena hat die Übernachtung bereits am Vortag reserviert und kündigt nun unsere genaue Ankunftszeit telefonisch an.
Als wir den grauen, würfelförmigen Backsteinbau neben dem Tante-Emma-Laden gegen 20:30 Uhr erreichen, erwartet uns die freundliche Verwalterin bereits mit dem Schlüssel. Sie kassiert pro Person zehn Euro und stellt uns darüber eine akribische Quittung aus. Zelten neben der Herberge ist umsonst, ich zahle aus Solidarität aber trotzdem und schlage mein Lager auf der Wiese hinter dem Haus auf. »Die Letzte schließt morgen früh bitte ab und legt den Schlüssel unter die Fußmatte«, ermahnt uns die hospitalera beim Abschied.
Wie fast alle Unterkunftsanbieter am Weg spricht sie außer Russisch keine weitere Fremdsprache. Damit es auch ohne passende Sprachkenntnisse mit der Reservierung klappt, haben ausländische Pilger zwei Möglichkeiten: Entweder sie bitten litauische Wanderkollegen um einen Anruf, oder sie schicken eine SMS auf Englisch. Jeder Vermieter kann diese mithilfe eines Übersetzungsprogrammes verstehen und beantworten. Telefonnummern und Preise findet man im kostenlosen Pilgerführer.
Am nächsten Morgen erwache ich bei dichtem Nebel in einem klatschnassen Zelt. Obwohl sich mein Lager direkt an der Hauptstraße von Vadaktai befindet, habe ich hervorragend geschlafen – Verkehrslärm gibt es hier nachts nicht. Während ich beim Frühstück mein Zelt trockne, brechen die beiden Nonnen bereits auf. Daher wandere ich am Vormittag allein unter einem grauen Himmel durch die abgeernteten Felder, bis mich auf einmal ein heftiger Wolkenbruch erwischt. Ich rette mich in den Dorfladen der nächsten Ortschaft und entdecke dort sogleich Benedikta und Magdalena, die auf zwei Getränkekisten sitzend eine heiße Suppe löffeln. »Die Ladenbesitzerin hat uns das Instantgericht in der Mikrowelle warm gemacht«, erklären sie mir. Die kleine Verkaufsfläche ist vollgestopft mit Kühlschränken, Regalen und einer riesigen Theke, aber die Besitzerin holt dennoch eine weitere Bierkiste aus dem Lagerraum und bedeutet mir, mich neben meine Kolleginnen zu setzen. Die nächsten Kunden müssen dann eben über unsere Füße steigen.
Der Camino Lituano führt jeden Tag an Einkaufsmöglichkeiten vorbei. Da die Läden auch sonntags geöffnet sind, muss ich kaum Proviant schleppen, sondern kann mich unterwegs verköstigen. Mein liebster Pausensnack sind surelis, die typisch baltischen Quarkriegel mit Schokoladenüberzug aus dem Kühlregal, dazu ein Liter Kefir, der mich mit Wasser verdünnt den ganzen Tag über erfrischt.
Die beiden Nonnen wollen heute zur Herberge in Paberžė, der ehemaligen Wirkungsstätte von Pater Stanislovas. Der 2005 verstorbene Kapuzinermönch und Priester ist in Litauen so etwas wie ein heimlicher Heiliger, weil er zum Widerstand gegen die sowjetische Besatzungsmacht aufrief. Zehn Jahre musste er dafür in sibirischen Internierungslagern verbüßen. Aus der Verbannung zurückgekehrt übernahm er 1966 die Pfarrei von Paberžė, renovierte die verwahrloste Holzkirche sowie deren Friedhof und sammelte religiöse Volkskunst, die von den Sowjets überall im Land verboten wurde. Seine Gemeinde wurde nicht nur Anlaufstelle für Dissidenten, sondern er unterstützte auch Obdachlose und Drogenabhängige. »Pater Stanislovas hat sogar noch meine beiden Kinder getauft«, erzählt die Ladenbesitzerin ehrfürchtig, während wir Eis aus ihrer Kühltruhe schlecken.
Drei Stunden später stehe ich auf dem Friedhof von Paberžė vor dem Grab des verehrten Volksheiligen, das mit einem hoch aufragenden Holzkreuz geschmückt ist. In den Stamm sind drei Knoten geschnitzt, die im Habit seines Kapuzinerordens die drei Gelübde von Armut, Gehorsam und Keuschheit symbolisieren. Die dunklen Regenwolken sind mittlerweile einem strahlend blauen Himmel gewichen. Ich wandere durch das noch nasse Gras und betrachte die geschnitzten Holzstatuen auf dem Kirchengelände, die typisch sind für die litauische Volkskunst. Entlang des Camino Lituano habe ich Dutzende dieser mannshohen Figuren mit religiösen und manchmal weltlichen Motiven fotografiert. Selbst auf den Friedhöfen werden geschnitzte Darstellungen der Verstorbenen als Grabsteine eingesetzt. Die Holzkreuze wurden genau wie die schmiedeeisernen Kruzifixe, die man in Paberžė an den Giebelseiten der Häuser bewundern kann, von der UNESCO zum immateriellen Kulturerbe erklärt.
Die friedvolle und spirituelle Aura des charismatischen Priesters ist nach wie vor in Paberžė zu spüren. Die Pilgerunterkunft in einem der alten Holzhäuser wird heute von seiner ehemaligen Haushälterin geleitet, doch für eine Übernachtung ist es zu früh. Stattdessen überquere ich wenige Stunden später auf einer langen und bedrohlich schwankenden Hängebrücke mit wenig vertrauenerweckenden Holzplanken den Fluss Nevėžis. An seinem Ufer geht es weiter Richtung Kaunas, wo er in die gewaltige Nemunas (Memel) mündet. Dazwischen muss ich sogar noch einen kleinen Nebenfluss furten, was im kniehohen Wasser ohne nennenswerte Strömung auch für ungeübte Wanderer kein Problem wäre, und lande zum Schlafen auf einer Wiese hinter einem Friedhof.
In Kaunas lege ich aus zwei Gründen einen Ruhetag ein. Erstens gibt es hier einiges zu besichtigen: die stattliche Burg mit ihrem Aussichtsturm; die von außen unscheinbare, aber innen prunkvoll eingerichtete barocke Kathedrale St. Peter und Paul; die beeindruckende Befestigungsanlage aus dem 19. Jahrhundert. Zweitens habe ich eine Verabredung mit Marius Minkevičius, dem »Erfinder« und Organisator des Camino Lituano. Nachdem der litauische Unternehmer den spanischen Camino Francés gewandert war, beschloss er: »So einen Pilgerweg brauchen wir auch!« Innerhalb weniger Monate baute er über die sozialen Medien einen Kreis von Unterstützern auf, die in Windeseile die Strecke erkundeten und ausgezeichnet markierten.
Die Hauptstrecke des Camino Lituano beginnt in Žagarė an der lettischen Grenze, dem Ende des Camino Latvia. Der exakte Startpunkt ist das »Topfhaus« eines örtlichen Künstlers, der seine Hausfassade von oben bis unten mit ausrangierten Töpfen und Pfannen dekoriert hat. Davor befindet sich in einem alten Telefonhäuschen die erste Stempelstelle, viele Pilger haben Fotos von sich an die Scheiben geklebt. Ein blaues Schild weist zum Endpunkt des Camino Lituano in einem polnischen Wallfahrtsort zwölf Kilometer hinter der litauischen Grenze: »Sejny – 500 km«.
Zu unserem Treffen kommt Marius mit seiner Freundin, deren beruflicher Hintergrund einen interessanten Einfluss auf den Camino Lituano hat: Jolanta arbeitet für die litauische Blindenorganisation und organisierte 2020 erstmals eine gemischte Wanderung von gut einem Dutzend sehbehinderter und blinder Menschen mit einer Handvoll sehender Begleiter. Damals mit dabei war der blinde Masseur Povilas, der wenig später ebenfalls zu uns stößt.
»Am Anfang glaubten die Helfer, uns Blinde bei jedem Schritt bemuttern zu müssen«, erzählt der schlaksige junge Mann schmunzelnd. »Dabei brauchten wir lediglich ein wenig Unterstützung bei Richtungsänderungen und eine Einweisung in Unterkünfte.«
»Ich konnte mit Povilas Tempo nicht mithalten«, ergänzt Marius lachend. Kein Wunder, denn der junge Mann mit den kurz geschorenen Haaren ist ein Profiathlet und hat für Litauen sogar an den internationalen Paralympics teilgenommen.
2021 startete die nächste Gruppe behinderter Menschen auf dem Camino Lituano. In wechselnder Besetzung erkundeten Blinde, Rollstuhlfahrer und Menschen mit geistigen Einschränkungen die 500 Kilometer lange Strecke. Das litauische Fernsehen berichtete darüber in einer regelmäßigen Dokusendung.
»Die gemeinsamen Wanderungen waren unglaublich hilfreich, um gegenseitige Vorurteile abzubauen«, bestätigen sowohl Povilas als auch Marius, der gleich das nächste Projekt startete. Nachdem die Blinden bestimmte Etappen quasi auswendig gelernt hatten, wurden bei der folgenden Wanderung die Rollen vertauscht: Die Sehenden verschlossen ihre Augen mithilfe spezieller Brillen, und die Blinden übernahmen ihre Betreuung.
»Povilas hat mich acht Kilometer lang an der Hand geführt«, berichtet Egidius, ebenfalls Mitglied der Pilgervereinigung, und setzt lachend hinzu: »So lange habe ich selbst in zwanzig Jahren Ehe nicht mit meiner Frau Händchen gehalten.«
Die Hauptstrecke des Camino Lituano durchzieht das gesamte Land von Nord nach Süd, und Marius hat bereits weitere Pläne: »Jolanta und ich haben gerade mit unseren Mountainbikes eine Zubringerstrecke von Klaipėda ausgekundschaftet. Die Gegend ist landschaftlich spannender, und ihr Deutschen könnt dann mit der Fähre direkt von Kiel aus zu unserem Camino fahren.«
»Gibt es dort denn eine alte Pilgerroute?«, will ich wissen.
Marius winkt lachend ab: »In ganz Litauen wirst du keine historischen Caminos finden. Als ihr im Mittelalter schon fleißig nach Santiago gepilgert seid, waren wir noch alle Heiden.« Das ist geschichtlich betrachtet zwar etwas übertrieben, aber nicht ganz falsch: Die offizielle Christianisierung Litauens wurde erst 1387 vollzogen!
Doch auch auf der Hauptroute des Camino Lituano wird es im Süden des Landes immer interessanter. Nach der Nevėžis wandere ich nun an der Memel entlang, die sich auf ihrem Weg von Weißrussland zum Kurischen Haff in endlosen Schleifen durch Litauen windet.
In einer davon stoße ich auf alte Bekannte: die Kamaldulenser! Schon der E11 brachte mich am polnischen Wigry-See zu einem ihrer Klöster, den namensgebenden Ort der Ordensgründung, Camaldoli, werde ich am italienischen Franziskusweg erforschen. Und nun entdecke ich am Camino Lituano in Pažaislis vor den Toren von Kaunas eine ehemalige Niederlassung dieser asketisch und zurückgezogen lebenden Mönche.
In der beeindruckenden Kirche gibt es nicht einmal eine Orgel, die die Gläubigen vom inbrünstigen Gebet hätte ablenken können, Frauen durften sie unter Androhung der Exkommunikation gar nicht erst betreten. Die Kamaldulenser wurden jedoch schon im 19. Jahrhundert vertrieben, und der prachtvolle Barockbau wurde in ein russisch-orthodoxes Kloster verwandelt. Nach der Unabhängigkeit des Landes wurden im Jahr 1920 Nonnen vom Orden der Schwestern des heiligen Kasimir aus dem US- amerikanischen Chicago nach Pažaislis entsandt und die Kirche wieder katholisch – nur um während der sowjetischen Besatzung als Nervenheilanstalt und Feriencamp zu dienen. Heute leben hier wieder 17 Schwestern des heiligen Kasimir, im Kreuzgang des weitläufigen Komplexes betreiben sie eine Pilgerherberge.
Auf den letzten Etappen des Camino Lituano weichen die endlosen Weizenfelder endgültig riesigen Viehweiden, das Gelände wird hügeliger. Die polnische Grenze hätte ich beinahe verpasst, denn es gibt weder Schlagbaum noch Grenzstein. Als ich zwölf Kilometer weiter die Wallfahrtskirche von Sejny betrete, komme ich mir trotzdem vor wie in einer anderen Welt. Während das religiöse Leben in Litauen nach den langen Jahren der russischen Okkupation keine große Rolle spielt, knien in Polen selbst an diesem Werktag Dutzende von betenden Gläubigen in den Bankreihen, und unzählige Opferlichter flackern vor den Altären. Dankbar, dass ich ein so spannendes Land auf einer berührenden Pilgerreise entdecken durfte, entzünde auch ich eine Kerze.
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