Land:
Griechenland | Länge:
500 km
Schwierigkeit:
*** | Budget:
€€ | Jahreszeit:
Frühjahr und Herbst
Natur:
*** | Kultur:
** | Special Interest:
Meer und Berge
Mitte Mai ist der Flieger von Berlin nach Heraklion komplett ausgebucht, und leider sitze ich eingequetscht zwischen zwei übergewichtigen Herren. Doch als ich nach 3,5 Stunden Flug völlig gerädert aus dem Flughafengebäude trete, traue ich meinen Augen nicht: An der öffentlichen Bushaltestelle wartet außer mir kein Mensch! Alle strömen zu den Mietwagenfirmen oder besteigen Charterbusse zu ihren Ferienanlagen. Und genau so geht es auf meiner einmonatigen Wanderung auch weiter. Obwohl Kreta jährlich von vier Millionen Touristen besucht wird, begegne ich keinem einzigen Weitwanderer.
Für outdoorbegeisterte Individualreisende ist die Insel bisher nämlich wenig erschlossen. Der Europäische Fernwanderweg E4, der von Zypern bis zum spanischen Tarifa einmal quer durch Europa führt, durchläuft die Insel zwar theoretisch in Ost-West-Richtung, praktisch ist er jedoch nur sporadisch markiert. Nicht einmal Start- und Endpunkt sind klar. Als östlicher Terminus werden wahlweise das Dorf Chochlakies oder der Küstenort Kato Zakros angegeben. Da keiner von beiden zur Wandersaison mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar ist, entscheide ich mich für die preiswertere Lösung und fahre mit dem Taxi ins näher gelegene Chochlakies.
Von dort gelange ich nach ein paar Olivenhainen in die gleichnamige Schlucht, in deren ausgetrocknetem Flussbett blassrosa Oleander wuchert. Wegmarkierungen gibt es nicht, zwischen den hohen Felswänden ist Verlaufen allerdings sowieso unmöglich. Dafür kraxele ich über Felsbrocken und loses Geröll, das sich in der heißen Nachmittagssonne aufgeheizt hat. Wenn ich mir nicht gleich in der ersten Stunde meiner Wanderung den Knöchel verstauchen will, muss ich bei jedem Schritt höllisch aufpassen. Hoch konzentriert starre ich auf den Boden vor mir, als nach einer letzten Windung plötzlich der Traumstrand von Karoumes vor mir auftaucht, ein Geheimtipp in den Reiseführern. Trotz feinstem Sand ist er menschenleer, denn er ist komplett von Meer und Felsen eingeschlossen. Man kann ihn nur zu Fuß durch die Schlucht oder mit dem Boot übers Wasser erreichen. Das erste gelbe E4-Schild an einer verkrüppelten Pinie zeigt mir zwar an, dass ich richtig bin, aber nicht, wo es weitergeht. Statt am Traumstrand zu relaxen, suche ich also einen Weg über die steil aufragenden Felsen.
Ich erwäge schon verzweifelt, um die Klippen herumzuschwimmen, als mir ein paar verblasste Farbtupfer die Richtung nach oben weisen. Dort erwarten mich ein atemberaubender Blick übers Meer und die Küste – und leider auch poröser scharfkantiger Kalkstein, pures Gift für meine empfindliche Isomatte. Aber in diesem Felsengewirr ist sowieso weit und breit kein ebenes Plätzchen zu sehen. Also schnell weiter! Die Abendsonne färbt sich schon orange, als ich wie durch ein Wunder eine mit Sand gefüllte Kuhle entdecke, gerade groß genug für mein Zelt. Ein kurzes Stück die Klippen hinunter befindet sich sogar ein winziger Sandstrand. Ich schlafe friedlich ein mit dem Geruch von Salzwasser in der Nase und dem leisen Plätschern der Wellen im Ohr. Noch ahne ich nicht, dass ich auf der gesamten Strecke solche Wechselbäder der Gefühle durchleben werde.
Auf seinem Weg über die nur gut 250 Kilometer lange und 60 Kilometer breite Insel durchquert der E4 drei überraschend hohe Gebirgsketten: das Dikti-Massiv im Osten, das Ida-Gebirge in der Mitte und die Weißen Berge, auf Griechisch Lefka Ori, im Westen Kretas. Alle drei ragen mehr als 2000 Meter empor, höchster Berg ist mit 2456 Metern der Psiloritis, den ich ausgerechnet am einzigen Regentag dieser Tour besteige.
Dabei schwitze ich zunächst in Shorts und T- Shirt, als ich im Örtchen Kamares auf 580 Höhenmeter mit dem Aufstieg beginne. Erfreulicherweise folgt die Route einer Wasserleitung mit zwei Zapfstellen für durstige Wanderer. An der letzten Quelle auf 1746 Meter Höhe ziehen langsam dunkle Wolken und Nebel auf. Zum Glück sind es ja nur noch acht Kilometer bis zum Gipfel, denke ich. Aber kaum habe ich das letzte bisschen Vegetation und die Ziegenherden hinter mir gelassen, peitscht mir ein immer heftigerer Wind den Regen ins Gesicht. Kleine Altschneefelder zieren selbst jetzt im Juni die Hänge. Der einzige Schutz in dieser Steinwüste ist eine mitata, eine Art Iglu, aufgeschichtet aus Steinplatten. Der Eingang zu dieser Schäferhütte ist so winzig, dass ich auf allen vieren hineinkrabbeln muss. Bibbernd ziehe ich mir in der Mittagspause einen warmen Pullover unter die Regenjacke und muss doch schon viel zu bald weiterlaufen, um nicht auszukühlen. Erst als ich erschöpft den Gipfel mit der Kapelle Timios Stavros erreiche, reißt die Wolkendecke auf – und plötzlich sind alle Mühen vergessen. Ich läute die Kirchenglocke und schicke dazu ein Lachen der Erleichterung gen Himmel.
Beim 360-Grad-Panoramablick vom höchsten Punkt Kretas sehe ich bis weit hinaus aufs Meer. Die beliebten Touristenorte mit Strandbars und Diskotheken liegen nicht nur knapp 2500 Höhenmeter unter mir, sondern Welten entfernt von dieser kargen Bergeinsamkeit. Da die Kapelle auch als Notunterkunft dient, hätte ich mir gerne von hier oben die nächtlich funkelnden Lichter angeschaut, der Wassermangel treibt mich jedoch schnell wieder hinunter. Mit jedem verlorenen Höhenmeter wird es wärmer, nach zwei Stunden gelange ich in einen alten Kermeseichenwald, in dem ich erschöpft mein Lager aufschlage. Den letzten Liter Wasser verwende ich für mein Abendessen, und erst am nächsten Vormittag kann ich völlig ausgedörrt meine leeren Flaschen im Ort Fourfouras auffüllen.
Nach dieser eindrucksvollen, aber anstrengenden Gipfelbesteigung habe ich die Wahl: Ich kann sofort durch die Imbros-Schlucht zum Meer absteigen oder erst durch die Lefka Ori wandern und mich dann über die berühmte Samaria- oder die Rouvas-Schlucht Richtung Süden wenden. Den Ausschlag gibt ein deutscher Kretafan, der die zweite Variante vor ein paar Jahren als freiwilliger Helfer des griechischen Alpenvereins mit Stangen markiert hat. »Die Weißen Berge sind auf jeden Fall eine Durchquerung wert. Nichtsdestotrotz würde ich sagen, dass der E4 auf diesem Teilstück sehr anspruchsvoll ist, sowohl in der Wegfindung wie auch im Untergrund«, so kontaktiert mich Simon mit einer Mail und schickt mir freundlicherweise einen aktuellen Track der Route für mein GPS .
Schon auf den ersten beiden Kilometern dieser Etappe kann ich feststellen, dass »anspruchsvoll« fast noch eine Untertreibung ist. Einen Weg gibt es nicht, die Route führt mich cross country über nackten Fels an einem Steilhang entlang. Ein paar Bergziegen beobachten neugierig, wie ich trotz heftiger Fallwinde versuche, auf den glatten Steinplatten das Gleichgewicht zu halten und dabei die nächste Markierungsstange zu erspähen – leider vergeblich! Mit wackligen Knien lasse ich mich vorsichtig auf einem Felsblock nieder und evaluiere meine Situation. Mein Schuhprofil ist bereits ziemlich abgelaufen, der Wind lässt nicht nach, und Handyempfang ist Fehlanzeige. Dazu wird das Gelände laut Simons Wegbeschreibung auf den nächsten Kilometern noch schwieriger und die Stangen seltener. Da er mir in weiser Voraussicht zusätzlich eine einfachere Alternativstrecke beschrieben hat, ist mein Entschluss schnell gefasst. Ich kehre um und nehme die deutlich längere, dafür leichtere Route – die zu einem weiteren Highlight dieser Tour wird.
Denn die Weißen Berge sind eine in der nördlichen Hemisphäre einzigartige Hochwüste. Weil der kristalline Kalkstein schnell bis auf Sandkorngröße verwittert, versickert das Wasser bei der Schneeschmelze komplett im Boden. Das Gebiet erinnert an eine Mondlandschaft, in der keine Pflanzen gedeihen. Einzige Wasserquelle auf dieser Etappe ist eine Zisterne, die glücklicherweise so früh in der Saison noch gutes, klares Wasser enthält. Nur leider nehme ich davon zu wenig mit. Ohne Schatten der brennenden Sonne ausgesetzt brauche ich in dem schwierigen Gelände viel länger als geplant, dazu attackieren mich immer wieder unerwartet heftige Fallwinde. Als ich am Melindau, dem letzten Gipfel über 2000 Metern mit Blick bis zum Meer, endlich wieder Handyempfang habe, kündige ich dem Wirt der nahe gelegenen Kallergi-Hütte per SMS meine Ankunft an. »Leider bin ich nicht da, und die Unterkunft ist geschlossen«, kommt prompt die Antwort von Christoforos. »Aber ich habe vier Flaschen Wasser am Eingang deponiert. Wenn jemand anders die schon mitgenommen hat, musst du weiter in den nächsten Ort absteigen.«
Auf den letzten Kilometern klebt mir die Zunge am Gaumen, und jeder einzelne Stein schmerzt meine malträtierten Füße. Ich habe sogar Blasen an den Handflächen, weil ich mich bei den steilen Abstiegen ständig auf die Trekkingstöcke stützen musste. Als der Weg schon in Sichtweite der Hütte einen unerwarteten Schlenker macht, breche ich vor Erschöpfung fast in Tränen aus. Endlich erreiche ich den verschlossenen Eingang und finde Gott sei Dank noch zwei der vier Flaschen mit insgesamt 1,5 Litern Wasser vor. Eine davon stürze ich sofort hinunter, den Inhalt der zweiten teile ich mir genau ein. Die Hütte thront hoch oben am Berg und wird nicht von einer Quelle mit Wasser versorgt, sondern über eine Zisterne – und die ist leider abgeschlossen. Erst am nächsten Vormittag werde ich im 500 Höhenmeter tiefer gelegenen Omalos wieder auftanken können.
Daher muss Kochen wegen Wassermangel leider ausfallen. Mein karges Abendessen aus ein paar Schokoriegeln, die ich in eine Tortilla einwickle, wird immerhin verschönt durch den spektakulären Blick auf die Samaria-Schlucht, die gerade vom orangefarbenen Schein der untergehenden Sonne dramatisch erleuchtet wird. Mein Zelt stelle ich vor der Hüttentür auf, über der ein Paar Langlaufskier prangt. Selbst wenn es mir in dieser trockenen Nacht schwerfällt zu glauben: Hier wird Wintersport betrieben!
Glücklicherweise beschränken sich solch gravierende Probleme mit der Wasserversorgung auf diese beiden besonders schwierigen Bergetappen. Außerhalb des Gebirges genügt entsprechende Vorausplanung, denn der E4 verläuft meist durch Olivenhaine, die über ein ausgeklügeltes System von Pumpen und Schläuchen bewässert werden. Mein persönliches Symbol für Kreta sind daher die ellenlangen schwarzen Plastikschläuche in unterschiedlichen Durchmessern, die sowohl zu den Plantagen als auch zu den Viehtränken führen. Dazu finde ich selbst in den kleinsten Ortschaften öffentliche Wasserspender oder bediene mich an den Gartenschläuchen, die an vielen der weiß gekalkten Häuser zum Gießen der üppig sprießenden Topfpflanzen angebracht sind. Den schönsten Brunnen Kretas entdecke ich am Kloster Vrontissi: Adam und Eva aus dem 15. Jahrhundert thronen leicht bekleidet über vier Mündern, aus denen köstliches Quellwasser in ein Becken fließt.
Trotz des trockenen Klimas erblüht zwischen den staubigen Olivenhainen eine wahre Farbenpracht: rosa Oleander, weiße Kapernbuschblüten, der lila schimmernde kretische Ebenholzstrauch und die orchideenartige Drachenwurz. Kein Wunder, dass die Imkerei hier gedeiht. Alle paar Kilometer entdecke ich Bienenkörbe, die kretischen Imker halten mehr als 140 000 Bienenvölker!
Meine liebsten Rastplätze sind die kleinen, gedrungenen Kirchen, die aufgrund der intensiven Sonneneinstrahlung nur durch ein winziges Fenster in der Apsis beleuchtet werden. Drinnen brennen Öllämpchen vor den Ikonen, zusätzlich liegen Wachskerzen, Streichhölzer und alte Plastikflaschen mit Öl zum Nachfüllen bereit. Die Glocke hängt nicht versteckt in einem Turm, sondern oft nebenan in einem Baum. Der meist überdachte und damit schattenspendende Vorraum mit Bänken ist ideal für eine ausgedehnte Pause in der Mittagshitze.
Noch idyllischer sind die vielen aktiven Klöster am Weg. Das Agarathos-Kloster erreiche ich am Ende der Abendandacht, als die Mönche aus ihrer mit Weihrauchduft geschwängerten Kirche ziehen und dabei die Ikonen küssen. Ich habe mich gerade zwischen den Orangenbäumen im Innenhof zu einer Rast niedergelassen, als mich einer der Mönche aus seiner dunklen Zelle heraus zu sich heranwinkt. Bin ich vielleicht mit Shorts und T- Shirt zu leicht bekleidet für diesen geweihten Ort? Doch anstatt mich zu ermahnen, streckt er mir lächelnd ein paar Orangen und Gebäck entgegen. »Geschenk für dich«, radebrecht er dabei auf Englisch und nötigt mich freundlich, selbst noch mal in seine Keksdose zu greifen.
Griechisch-orthodoxe Mönche und Nonnen kleiden sich immer in bodenlange schwarze Gewänder. Die Männer schneiden sich weder Bart- noch Kopfhaar, die Frauen tragen einen den Kopf rundum verhüllenden Schleier, der nur das Gesicht frei lässt. Welch ein Kontrast zu den Strandbesuchern Kretas! Nachdem ich über die beeindruckende sechs Kilometer lange Agia-Irini-Schlucht zum Küstenort Sougia abgestiegen bin, tummeln sich am Kieselstrand Touristinnen aus aller Herren Länder in knappen Bikinis oder gar komplett hüllenlos. Auch ich stürze mich zum ersten Mal ohne Reue in das kristallblaue Meer, weil ich einen Ruhetag einlegen werde und anschließend in meinem Hotel duschen kann – sonst würde das getrocknete Salzwasser auf der Haut schnell zum »bösen Wolf« führen.
Zwei Tagesetappen weiter führt mich der E4 über den Hippiestrand von Kedrodasos. Wie schon seit Jahrzehnten kampieren hier Aussteiger unter den Zedernbäumen in den Dünen. Doch so früh am Morgen schlafen alle noch in ihren Hängematten und Zelten, und ich habe den Strand ganz für mich allein.
»Was denken die Griechen denn über all die freizügigen Urlauber?«, frage ich neugierig meine Vermieterin in Archanes im blumengeschmückten Innenhof ihrer Pension.
»Als ich ein Kind war, traf mein Vater bei der Arbeit in den Olivenhainen oft verirrte Touristinnen«, antwortet Eirini schmunzelnd. »Weil er Gerede im Dorf vermeiden wollte, hat er dann immer erst meine Mutter zu Hause abgeholt und die Mädchen gemeinsam mit ihr als Anstandsdame zu ihrem Ziel gefahren. Als Mutter ihn fragte, ob er denn nichts Besseres zu tun habe, antwortete er immer: ›Diese Menschen sind von so weit hergekommen, um unser Land zu besuchen, da sollten wir freundlich zu ihnen sein.‹«
Gastfreundlich sind die Kreter auch heute noch. Obwohl ich nur eine einzige Nacht in ihrer Pension verbringe, lädt mich die pensionierte Griechischlehrerin zu selbst gemachter Zitronenlimonade und Teigtaschen mit Wildgemüse ein, liebevoll von ihrer alten Mutter gebacken. Generell endet jeder meiner Restaurantbesuche mit einem Raki aufs Haus, meist gibt es sogar einen kleinen Nachtisch gratis dazu. Allerdings muss ich mein Essen vorher vor hungrigen Katzen und Hunden verteidigen, die mir immer just in dem Moment um die Beine streichen, wenn die Bedienung einen vollen Teller auf den Tisch stellt. Kaum ist alles abgeräumt, findet die Zuneigung der Vierbeiner ein rasches Ende.
Die Küstenetappen sind zwar ein Leckerbissen für Strandliebhaber, einfach zu wandern sind sie jedoch nicht. Zwischen den Traumbuchten mit Sandstrand klettere ich über scharfkantigen Kalkstein, der bei jedem noch so kleinen Sturz schlimme Hautabschürfungen verursachen würde. Wenn keine kühlende Brise vom Meer her weht, heizt die Sonne mir gnadenlos ein – ohne rettende Trinkwasserquellen. Zwei Wochen nach meiner Abreise verstarb genau auf diesem Küstenabschnitt des E4 die französische Touristin Violet Gigano an einem Hitzschlag. Die 29-Jährige hatte auf einem Tagesausflug zum Strand die Länge der Etappe unterschätzt und wohl zu wenig Wasser dabei.
Sommerliche Höchsttemperaturen und Schnee im Gebirge begrenzen die Wandersaison auf Kreta ganz erheblich, gefahrlos kann man den E4 durchgängig nur im Mai/Juni oder September/Oktober wandern. Wenn man hingegen die Gebirgsetappen auslässt oder an der Küste umgeht, ist Kreta auch ein wunderbares Ziel für die Wintersaison.
Hunde sind übrigens – anders als im restlichen Griechenland – auf Kreta mittlerweile kein Problem mehr. Die Bauern haben ihre Schaf- und Ziegenherden nämlich eingezäunt, allerdings nicht mit Stachel- oder Maschendraht, sondern mit Armierungsgittern. Leider kann man diese Baustahlmatten, die mit Draht an dicken Moniereisen befestigt sind, nicht einfach auseinanderziehen oder hochheben, um hindurchzuschlüpfen. Mein Versuch, einen dieser rostigen Zäune zu überklettern, endet mit einer blutigen Wunde an meiner linken Wade. Glücklicherweise bin ich gegen Tetanus geimpft.
Nur wenn der Bauherr eine der Matten wie eine Tür befestigt hat, birgt sie keine Verletzungsgefahr. Im Idealfall wird dieses Tor mit einem Seil oder Schnürsenkel verschlossen, allzu oft auch mit rostigem Draht. Eine Zange wäre also ideal für diesen Trail, passt aber leider nicht in mein Ultraleichtgepäck. Viel befahrene Durchgänge an Straßen werden einfach offen gelassen und von Kettenhunden bewacht, die ein wahrhaft trauriges Dasein fristen. Als Wetterschutz dient ihnen meist bloß eine alte Blechtonne, und ihre Kette ist gerade mal so lang, dass keine Ziege durch die Zaunlücke entwischen kann. Für Wanderer stellen diese bedauernswerten Hunde keine Gefahr dar, ganz im Gegenteil verstecken sie sich verängstigt vor Menschen.
Ich kenne kaum eine Gegend in Europa, die so viel Outdoorpotenzial birgt wie Kreta und zugleich wandertechnisch so wenig erschlossen ist. E4-Markierungen sind in der Regel nur da angebracht, wo man sie am wenigsten braucht: entlang von Straßen. Und leider wird die Route an einigen Stellen lieblos über Asphalt geführt, obwohl parallel dazu Pfade oder Wirtschaftswege verlaufen. Das verleitet die Autoren der verschiedenen Wanderführer natürlich dazu, die Strecke nach eigenem Gusto abzuwandeln. Doch was zum Erscheinungsdatum des jeweiligen Buches vielleicht eine gute asphaltfreie Alternative war, birgt schon ein paar Jahre später unangenehme Überraschungen. Ich lande regelmäßig vor unüberwindbaren Zäunen, überwucherten Wegen oder steil aufgebaggerten Böschungen.
Fast alle Berghütten am E4 sind dauerhaft geschlossen und unzugänglich, darunter die spektakulär gelegene Prinos-Schutzhütte an der Ostflanke des Psiloritis. Der offene Notunterstand daneben wird von den Ziegen als Stall missbraucht. Ich muss notgedrungen über den Zaun auf die Terrasse der Hütte klettern, um geschützt vor den Weidetieren und deren Odeur mein Zelt aufbauen zu können. Dafür ist der Blick von hier oben einfach unbezahlbar! Nachts sitze ich noch lange auf der Holzbank vor dem Haus und blicke auf die glitzernden Lichter von Heraklion.
Dort wurde 1883 einer der bekanntesten Kreter geboren: der Schriftsteller Nikos Kazantzakis. Im Städtchen Myrtia, direkt am E4, habe ich zwei Tage zuvor das moderne Museum zu seinen Ehren besichtigt. Sein berühmtestes Werk »Alexis Sorbas« spielt auf Kreta und ist daher meine Reiselektüre auf dieser Tour. Über die Liebe zu seiner Heimatinsel schreibt Kazantzakis: »Wenn ich wiedergeboren würde, so möchte ich das Licht auf diesem Fleckchen Erde wiedersehen. Hier gibt es einen unbezwingbaren Zauber.« Trotz aller Strapazen kann ich ihn nach dieser Wanderung gut verstehen.
Für wen: