Für Schafskäsegourmets:
Bergwanderweg der Freundschaft Kom–Emine

Land: Bulgarien | Länge: 600 km
Schwierigkeit: ** | Budget: € | Jahreszeit: ganzjährig
Natur: ** | Kultur: ** | Special Interest: Bergwanderweg für jede Jahreszeit

 

Vom namensgebenden Startpunkt des Trails, dem über 2000 Meter hohen Berg Kom, sehe ich durch den dichten Nebel herzlich wenig. Ein Schild weist auf Bulgarisch und erstaunlicherweise auf Deutsch darauf hin, dass der Weg Teil des Europäischen Fernwanderweges E3 ist. Knapp 600 Kilometer sind es von hier zu Fuß bis zum Kap Emine am Schwarzen Meer, immer hoch oben auf dem Kamm der Stara Planina, wie das Balkangebirge auf Bulgarisch heißt. Traditionell übernachten die Wanderer auf diesem Gipfel und beginnen ihre Tour mit dem ersten Tageslicht, doch bei dem miesen Wetter würde ich vom Sonnenaufgang sowieso nicht viel sehen und laufe einfach weiter. Ich nehme auch keine zwei Steine mit. Wenn mir das Ultraleichtprinzip nicht so wichtig wäre, würde ich einen davon am Schluss ins Schwarze Meer werfen und den anderen als Erinnerung behalten.

Am Ende des ersten Wandertages bin ich patschnass, von außen durch den Dauerregen und von innen durch den anstrengenden Aufstieg. Als ich auf der asphaltierten Straße am Petrohan-Pass an einer Unterkunft vorbeitrotte, winkt mich der Besitzer heran, und ich kann der Versuchung eines warmen Bettes nicht widerstehen. Mein Zimmer hat zwar nur Wände aus Spanplatten, und die Matratze ist schmal wie ein Handtuch, dafür erwarten mich eine Heizung und eine heiße Dusche. Das angeschlossene Restaurant wirkt mit seinen Beistelltischen und Schränken eher wie ein überdimensioniertes Wohnzimmer. Die Essensbestellung gestaltet sich überaus schwierig.

»Was gibt es zu essen?«, tippe ich in die Übersetzungs-App meines Smartphones und reiche es dem Eigentümer. Diese Art der Handykommunikation klappte bisher in ganz Osteuropa hervorragend, jetzt starrt mein Gegenüber bloß angestrengt auf den Bildschirm und kratzt sich am Kopf. Plötzlich fällt mir der Grund wie Schuppen von den Augen: Meine Tastatur zeigt lateinische Buchstaben, die Bulgaren schreiben jedoch in kyrillischer Schrift.

Bevor ich die Spracherkennung aktivieren kann, hat sich der Wirt schon auf eine andere Lösung besonnen. Statt einer Speisekarte stellt seine Ehefrau einfach ein paar Kochtöpfe zur Auswahl vor mich hin. Leider hat auch diese Methode ihre Tücken. Was ich für einen Eintopf mit Hühnerfleischstreifen halte, entpuppt sich zehn Minuten später auf meinem Teller als das bulgarische Nationalgericht Schkembe tschorba: Kuttelsuppe! Ich gehe dann doch ziemlich hungrig ins Bett. Beim Frühstück kann ich mein Kaloriendefizit aber schnell wieder ausgleichen. Es gibt Mekiza, in Fett ausgebackene Hefekrapfen, die mich stark an die Knieküchla meiner fränkischen Heimat erinnern.

Der Blick auf den Wetterbericht ist dagegen niederschmetternd: Dauerregen für die nächsten Tage! Mein Wanderführer zeigt für die nächste Etappe ein Bild des Siniya vir, eines Wasserfalls mit vielen kleinen Pools und fröhlich darin planschenden Menschen. Als ich daran vorbeikomme, ist mir nicht nach Baden zumute, ganz im Gegenteil fröstle ich unter meiner Regenkleidung. Immerhin heben ein paar leuchtend gelbe Feuersalamander auf dem Weg meine Laune.

In Gara Lakatnik durchschneidet der Fluss Iskar in einer tiefen Schlucht das Balkangebirge. Ich überquere sie auf einer Fußgängerbrücke, von wo aus ich trotz des diesigen Wetters einen fantastischen Blick auf die 250 Meter steil aufragenden Felsen habe. Darin befinden sich mehrere Höhlen, die größte passenderweise Temnata Dupka, »düsteres Loch«, genannt, mit einem Labyrinth von Durchlässen, Gängen, Wasserfällen, Stufen, unterirdischen Seen und Flüssen. An einer dieser vertikalen Wände klebt auch das Adlernest, eine Schutzhütte, die ausschließlich Kletterern zugänglich ist, für mich also unerreichbar. Dafür habe ich ein Zimmer in einem Gästehaus reserviert, wo ich dieses Mal keinerlei Kommunikationsprobleme habe. Die 16-jährige Tochter der Wirtin spricht ausgezeichnet Englisch und bekocht mich sogar.

»Möchten Sie die Pommes mit oder ohne Käse?«, fragt Mariana und erklärt mir angesichts meines verblüfften Gesichtsausdrucks eine weitere Besonderheit der bulgarischen Küche. Sirene ist ein weißer Salzlakenkäse, quasi eine Art bulgarischer Feta, der zu fast jeder Mahlzeit gereicht wird. In den Supermärkten sehe ich ganze Kühltheken voll mit unterschiedlichen Sorten. Eigentlich kannte ich ihn bisher nur vom Schopska-Salat, doch in Bulgarien wird er schon beim Frühstück zu den Krapfen gereicht und jetzt über mein Abendessen gerieben. Erstaunlicherweise schmecken »Pommes weiß« gar nicht schlecht …

Außer Mariana werde ich auf meiner Wanderung wenige junge Leute treffen. Bulgarien ist das Land mit der am schnellsten schrumpfenden Bevölkerung weltweit – und zwar nicht nur wegen seiner niedrigen Geburtenrate, sondern vor allem durch Massenemigration qualifizierter Arbeitskräfte. Kein Wunder, denn Bulgarien hat mit 617 Euro das niedrigste durchschnittliche Bruttomonatsgehalt und gleichzeitig den höchsten Korruptionsindex in der EU .

Gemäß dem Motto »Ein schlechter Job im Ausland ist immer noch besser als ein guter Job in Bulgarien« leben heute geschätzte 1,1 Millionen Bulgaren außerhalb ihrer Heimat, eine gewaltige Zahl für ein Land mit gerade mal sieben Millionen Einwohnern. Vor dem Fall der Mauer 1989 waren es zwei Millionen mehr.

Dass überall Todesanzeigen an Hauswänden, Bushaltestellen und Laternenmasten kleben, verstärkt zwar den Eindruck einer sterbenden Nation, hat aber einen ganz anderen Grund. Trauerfälle werden in Bulgarien nicht nur zum Todeszeitpunkt verkündet, ihrer wird mit diesen kopierten Zetteln auch in regelmäßigen Abständen gedacht.

Bevor ich am nächsten Morgen Gara Lakatnik verlasse, hole ich mir im kleinen Laden des Ortes noch mal Proviant. Die nächste Einkaufsmöglichkeit direkt am Weg liegt 14 Tagesetappen entfernt. Hungern müssen Kom-Emine-Wanderer trotzdem nicht: Entlang des Weges stehen in regelmäßigen Abständen 27 Berghütten, in denen man übernachten und fast immer auch etwas essen kann. Auf Wunsch gibt es sogar ein Lunchpaket für den nächsten Tag – man sollte halt nur Sirene mögen. Oder man fährt per Bus oder Anhalter auf einer der 18 Passstraßen, die die Stara Planina überqueren, in die nächste Stadt zum Einkaufen. Von meinem ersten Ruhetag in der Stadt Botewgrad nehme ich mir wegen der günstigen Preise sogar ein Taxi zurück zu meinem Ausstiegspunkt am Pass.

Der Trail selbst ist erfreulich asphaltfrei: Nur fünf Prozent der Gesamtstrecke verlaufen auf befestigten Straßen, ansonsten bin ich ausschließlich cross country, auf Pfaden oder Jeeptracks unterwegs.

Zwei weitere Tage tappe ich durch dichten Nebel, wobei mir eine Besonderheit des Kom-Emine-Trails zugutekommt. Die weiß-rot-weißen Streifen der Sommerroute übersieht man bei diesem Wetter leicht, zum Glück ist die größtenteils identische Winterroute mit gut sichtbaren schwarz-gelb gestreiften Pfosten ausgesteckt. Mit Langlaufskiern oder Schneeschuhen kann der Weg also auch im Winter begangen werden, selbst für Mountainbiker gibt es eine separate Route, die die alpinen Stellen weiträumig umgeht und daher etwas länger ist.

Als ich im Nationalpark Zentralbalkan den höchsten Teil des Gebirges erreiche, hat sich das Wetter endlich gebessert. Der Kamm der Stara Planina ist hier gänzlich unbewaldet und bietet kilometerweite Ausblicke nach Norden und Süden. Vom Gipfel des 1818 Meter hohen Yumruka kann man angeblich siebzig Prozent des gesamten bulgarischen Staatsgebietes sehen! Ich schaue hinab auf den dichten Primärwald an den Bergflanken, der ein Durchschnittsalter von 115 Jahren hat.

Für den Kom-Emine-Trail existiert ein reich bebilderter englischer Wanderführer mit Landkarten, Höhenprofilen sowie Informationen zu Unterkünften und Wasserversorgung. Ich starre gerade gedankenverloren in dieses Buch, als ich direkt hinter mir ein lautes Schnauben höre. Schon glaube ich, den heißen Atem eines Angreifers im Nacken zu spüren, reiße mit einem lauten Schrei den Kopf herum – und muss erleichtert loslachen. Hinter mir rupft ein Pferd genüsslich ein paar Grashalme. Das hätte ich mir eigentlich denken können, denn die überall frei herumlaufenden Tiere haben mich bereits am Zelt besucht. Selbst einem »Cowboy« bin ich begegnet, der die Tiere jetzt am Saisonende zusammentrieb und mich um eine Zigarette anschnorrte. Die breiten, grasbewachsenen Bergrücken, der weite Ausblick auf die umliegenden Ebenen, das frei laufende Vieh – all das erinnert mich immer wieder an den Continental Divide Trail im Westen der USA , der ebenfalls auf einer Wasserscheide entlangführt. Selbst Bären und Wölfe sowie die größte Wildkatzenpopulation Südosteuropas leben im Nationalpark Balkangebirge.

Trotz all dieser Highlights habe ich bisher Anfang Oktober keinen einzigen Wanderer getroffen. Im Sommer ist deutlich mehr los, in der dritten Juliwoche startet sogar jedes Jahr ein großer »Volksmarsch« mit Gepäcktransport, bei dem um die hundert Bulgaren vom Berg Kom bis zum Kap Emine wandern. Die ersten Wanderkollegen entdecke ich auf der steingepflasterten Terrasse der Dobrila-Schutzhütte, und zu meinem großen Erstaunen sprechen sie deutsch! Nachdem sich meine direkte Kommunikation seit Tagen auf Radebrechen per Handy-Übersetzungsprogramm beschränkt hat, begrüße ich meine Landsleute freudig. Prompt laden sie mich an ihren Tisch ein, weshalb meine Campingküche heute kalt bleibt.

Die Dobrila-Hütte ist eine der luxuriösesten Unterkünfte am Weg und mit umgerechnet zwölf Euro pro Bett auch eine der teuersten, dafür gibt es heiße Duschen, Innentoilette und sogar Wifi. In der Cafeteria im Erdgeschoss bestelle ich mein Mittagessen anhand der zweisprachigen Speisekarte. Selbst wenn die englische Übersetzung manchmal unfreiwillig komisch ist, vermittelt sie mir doch eine ungefähre Vorstellung vom Angebot. So landet dieses Mal auch das auf meinem Teller, was ich zu bestellen glaubte.

Beim Essen und dem anschließenden Plausch sitzen wir noch sommerlich bekleidet unter einem strahlend blauen Himmel im Freien, dabei sind für die nächsten Tage ein drastischer Temperatursturz und Schneefall vorhergesagt. Die Deutschen feiern schon mit einer Dose Bier den Abschluss ihrer Tour, für sie geht es zurück in die Heimat. Mich führt der Trail ausgerechnet morgen auf den 2376 Meter hohen Botew. Dieser höchste Gipfel des Balkangebirges ist nach dem bulgarischen Dichter und Nationalhelden Christo Botew benannt, der 1848 in einem kleinen Ort am Fuße des Berges geboren wurde. Durchschnittlich 305 Tage im Jahr ist der Botew in dichte Wolken gehüllt und von heftigen Winden umtost, weil an dieser Wetterscheide zwei Klimazonen aufeinandertreffen. Dicht nebeneinander drängen sich auf dem Gipfel eine Militärbasis, eine Wetterstation und ein Fernsehsendemast, der aufgrund seiner exponierten Lage 65 Prozent des Landes versorgt.

Der Kom-Emine-Trail ist zwar technisch ausgesprochen einfach, selbst im alpinen Zentralbalkan führt er auf sicheren Wegen über alle Felsausbrüche oder Klippen. Doch die morgige Etappe ist die schwierigste der gesamten Strecke und sogar seilversichert, selbst die einfachere Alternativroute ist extrem ausgesetzt. Mein Wanderführer warnt ausdrücklich davor, sie bei schlechtem Wetter anzugehen. Da ich die Schlechtwetterphase aber nicht tagelang im Schlafsaal einer Berghütte aussitzen will, beschließe ich, die nächsten zwei Etappen einfach im Tal zu umwandern.

Angenehmer Nebeneffekt meiner Entscheidung: Ich kann Trojan besuchen, das drittgrößte orthodoxe Kloster des Landes, bekannt für die Ikone einer dreihändigen Muttergottes. Die Kirche ist innen und außen mit großflächigen Wandmalereien verziert, die gerade restauriert werden. Amüsiert beobachte ich eine Taufe, bei der der kleine Bruder des Täuflings die lange Taufkerze wie ein Star-Wars-Laserschwert durch die Gegend schwingt, statt andächtig die Zeremonie zu beleuchten. Trotz der vielen Gerüste wimmelt es von Gläubigen, Schulkindern und vor allem bulgarischen Touristen, denn die Kirche »Zur Entschlafung der Gottesmutter« ist gleichzeitig nationales touristisches Objekt Nummer 31.

Schon 1966 hat das bulgarische Fremdenverkehrsamt insgesamt hundert wichtige Sehenswürdigkeiten auf einer Liste gesammelt, die zusammen ein umfassendes Bild vom reichen kulturhistorischen Erbe und von der Natur des Landes geben sollen. Kirchen und Klöster sind ebenso darunter wie Museen, Ausgrabungsstätten und sogar Berggipfel. So ist der Berg Kom Nummer 34 und der Botew Nummer 46 auf der Liste. Umgerechnet fünfzig Cent kostet das Stempelheft, in dem man sich den Besuch der einzelnen Objekte bestätigen lassen kann. Für 25, 50 oder 100 verschiedene Stempel gibt es ein bronzenes, silbernes oder goldenes Abzeichen, einmal jährlich findet sogar eine Verlosung unter den Teilnehmern statt.

Als ich am nächsten Morgen auf meiner Umgehungsroute in einem Hotel in der Kleinstadt Aprilzi aufwache, schüttet es in Strömen, und die Gipfel des Balkangebirges sind weiß von Schnee. Ich setze den ganzen Tag keinen Fuß vor die Tür, denn glücklicherweise verfügt die Unterkunft über ein eigenes Restaurant. Einen Tag später regnet es immer noch, und mir fällt langsam die Decke auf den Kopf. Mittags breche ich im Nieselregen auf, komme bald in knöchelhohen Schneematsch und erreiche zurück auf dem Trail just bei Sonnenuntergang die Hütte Partizanska Pesen, zu Deutsch »Partisanenlied«. 1944, als Bulgarien offiziell an der Seite Deutschlands kämpfte, wurde hier in der Nähe der 13-jährige »Partisan« Mitko Palauzow von der Polizei getötet. Das spätere kommunistische Regime stilisierte den Jungen, der von seinen Eltern wohl eher unfreiwillig in den Guerillakampf hineingezogen worden war, zum jüngsten antifaschistischen Widerstandskämpfer Bulgariens, setzte ihm ein Denkmal und widmete ihm das namensgebende Lied.

Als ich morgens vorsichtig den Kopf aus dem Fenster meines gut geheizten Zimmers strecke, erwartet mich endlich wieder ein strahlend blauer Himmel! Gleich 2 ½ Nationale Touristische Objekte liegen auf der heutigen Tagesetappe. Nummer 19 ist ein weiß-grün-rot gestreifter Dreibein mitten auf einer Wiese. Ohne meinen Wanderführer wäre ich sicher nicht darauf gekommen, dass dieses gerade mal einen Meter hohe Monument in den bulgarischen Nationalfarben den geografischen Mittelpunkt des Landes markiert.

Am 1185 Meter hohen Schipkapass erwarten mich Nummer 93 und eine Lektion in bulgarischer Geschichte, von der ich ehrlicherweise vorher so gut wie nichts wusste. Bulgarien stand seit dem Mittelalter fünf Jahrhunderte lang unter osmanischer Herrschaft. Dieses »türkische Joch« konnten die Bulgaren erst mithilfe von Zar Alexander II . im Russisch-Osmanischen Krieg abschütteln, einige der wichtigsten Schlachten fanden im August 1877 hier statt. Der russische Major Stoletow verteidigte den Schipkapass mit gerade mal 2000 Soldaten und 5500 bulgarischen Freiwilligen gegen 27 000 Türken unter Süleiman Pascha. Als den unzureichend mit Wasser und Waffen ausgerüsteten Bulgaren die Munition ausging, bewarfen sie die Gegner sogar mit Steinen und den Leichen ihrer Kameraden. Obwohl sich die Türken nach diesem Krieg aus Bulgarien zurückzogen, blieb das Land formell noch drei Jahrzehnte Teil des Osmanischen Reichs und damit tributpflichtig. Erst 1908 erklärte Fürst Ferdinand I . die vollständige Unabhängigkeit.

Ich steige die 890 Stufen hinauf zum »Denkmal der Freiheit«, einem gut dreißig Meter hohen Turm, in dem ein Marmorsarkophag mit den Gebeinen der russischen und bulgarischen Gefallenen steht. Davor hat inmitten der letzten Schneereste eine Malerin ihre Staffelei aufgestellt und arbeitet in Winterjacke und mit Pudelmütze an einem Landschaftsgemälde. Zwischen ein paar alten Kanonen genieße auch ich die grandiose Aussicht nach Norden auf die Donauebene und nach Süden auf die Oberthrakische Tiefebene.

Im Osten kann ich schon das nächste Highlight erkennen: Busludscha, offiziell »Heimdenkmal der Kommunistischen Partei Bulgariens«, aufgrund seiner Form inoffiziell auch »UFO « genannt. Das 1981 eingeweihte Gebäude war bis 1989 Nummer 88 der 100-Monumente-Liste, wurde aber nach dem unblutigen Sturz des kommunistischen Regimes durch ein Naturdenkmal ersetzt. Das runde Gebäude hat einen Durchmesser von 42 Metern und soll die Urne eines Opferfeuers darstellen. Auf den modernen Betrachter wirkt es jedoch eher wie eine fliegende Untertasse. Daneben ragt ein siebzig Meter hoher Turm mit einem riesigen Roten Stern auf. Das ehemalige Prestigeobjekt der kommunistischen Regierung ist mittlerweile ein extrem populärer lost place und daher zum Schutz vor Vandalismus abgesperrt. Heute tummeln sich hier einige junge Bulgaren und ein deutsches Touristenpaar.

Durch die Gitter kann ich einen Blick in den Innenraum erhaschen, wo auf mehr als 900 Quadratmetern Mosaike aus Kobaltglas mit Szenen der Geschichte des Sozialismus die Wände zieren. Leider sind sie schon ziemlich verfallen oder mutwillig zerstört worden. Die Metallbuchstaben der Inschrift neben dem Portal sind bereits zur Hälfte geklaut, Graffiti verzieren großflächig den Beton. Direkt neben dem vergitterten Eingang hat jemand in Rot-Weiß den abgewandelten Coca-Cola-Schriftzug »Enjoy Communism« gesprüht.

Das meistfotografierte Motiv des Kom-Emine-Trails entdecke ich am nächsten Tag: einen alten Fernseher, der fernab jeder Straße mitten im Wald auf einer Picknickbank steht. Er taucht in wirklich jedem Reisebericht über den Trail auf, wahrscheinlich weil sich jeder fragt, wie um alles in der Welt er dort hingekommen ist.

Am Vratnik-Pass lasse ich die hohen Berge des Zentralbalkans hinter mir und wandere im mittlerweile goldenen Herbst auf dem bewaldeten Kamm des östlichen Balkangebirges, nun immer unter 1000 Höhenmetern. Vor ein paar Tagen stapfte ich noch durch knöcheltiefen Schnee, jetzt trage ich tagsüber Shorts und T- Shirt. Wegen des vielen Regens der letzten zwei Wochen sprudeln alle Quellen und Brunnen. вода (voda), »Wasser«, war das erste Wort, das ich auf Bulgarisch und in Kyrillisch lernte. Viele der uralten Brunnen liegen direkt am Trail, aber zu den natürlichen Quellen weist meist ein handgeschriebenes Schild. Im Hochsommer oder nach langen Dürreperioden tröpfelt es dort mehr, als es fließt. In den Hütten werden dann die Duschen gesperrt, um das knappe Gut zu rationieren.

»Apotheke«, аптека (apteka), ist das nächste Wort in meinem begrenzten bulgarischen Wortschatz, denn auf diesem Wegabschnitt hängen immer wieder kleine Holzkästchen mit Erste-Hilfe-Material wie Desinfektionsmittel, Pflaster und elastischen Binden an den Bäumen. Das allein wäre schon erstaunlich genug, doch auf den schrägen Dächern dieser Baumapotheken sind zusätzlich kleine Solarpanels integriert. Über einen USB- Anschluss im Inneren könnte ich mein Handy laden. Der Sponsor dieses weltweit wohl einzigartigen Projekts ist folgerichtig auch ein bulgarischer Telekommunikationsanbieter.

Das Städtchen Kotel mit gut 5000 Einwohnern ist der einzige größere Ort direkt am Kom-Emine-Trail. Mit gleich zwei Einträgen in der 100-Denkmäler-Liste und einem halben Dutzend Unterkünften ist Kotel für bulgarische Verhältnisse schon ein Touristenzentrum. Doch beim Provianteinkauf für die letzte Etappe werde ich bitter enttäuscht: Statt eines Supermarkts finde ich lediglich zwei kleine Tante-Emma-Läden mit beschränkter Auswahl. Zudem gibt es in Bulgarien keine dehydrierten Fertiggerichte, selbst Soßenpulver ist nur in zwei Geschmacksrichtungen erhältlich, Carbonara und Bolognese. Und so esse ich fast vier Wochen lang jeden Abend abwechselnd Spaghetti mit weißer und roter Soße.

Die letzte Woche hält noch eine schöne Überraschung bereit: Ich verabrede mich per Social Media mit František, kurz Franta, dem ersten Wanderer seit der Begegnung mit den Deutschen vor zwei Wochen. Der Tscheche ist im Frühjahr in seiner Heimat gestartet und will bis nach Istanbul laufen. »An einem Freitag war mein letzter Arbeitstag, zwei Tage später bin ich aufgebrochen«, erzählt mir der hagere Pensionär mit weißgrauen Haaren und Rauschebart, der an einer offenen Schutzhütte auf mich gewartet hat. Franta spricht ausgezeichnet Deutsch, denn: »Ich habe in meiner Firma die deutschsprachigen Kunden betreut.«

Knapp zwei Tage wandern wir bei strahlendem Sonnenschein zusammen durch lichten Wald und Weideland. An einem Straßenimbiss gönnen wir uns Kebapche, die bulgarische Version von Cevapcici, natürlich mit Pommes weiß. Erstaunt beobachten wir in den Dörfern dieser Gegend eine ganz andere Kultur als im Rest des Landes. Arabische Schriftzeichen und der Halbmond zieren Brunnen und Grabsteine, in der Dorfmitte steht eine Moschee, und fast alle Frauen tragen Kopftuch. 8,8 Prozent der bulgarischen Bevölkerung sind Türken, die überwiegend hier im Osten des Landes leben. Laut der letzten Volkszählung sind weitere 4,9 Prozent Roma, ihr tatsächlicher Anteil wird deutlich höher geschätzt.

Da Franta etwas langsamer unterwegs ist, treffe ich am nächsten Tag allein am Endpunkt des Trails ein. Schon von Weitem sehe ich den Leuchtturm, der seit 1880 die Schiffe vor den schroffen Felsen am Kap Emine warnt. Ein verrostetes Schild weist das Gebiet als Militärzone aus, laut Wanderführer »sollte« man eine offizielle Erlaubnis für den Zutritt haben. Doch alles wirkt so verfallen und verlassen, dass ich völlig unbehelligt weiterlaufe. Außer ein paar Kühen interessiert sich niemand für mich.

Am Kap Emine fallen die Klippen fast senkrecht sechzig Meter schroff ins Meer ab. Ein eindrucksvoller Anblick, nur leider ohne einfachen Strandzugang. Da ich mir nicht noch auf den letzten Metern den Hals brechen will, beende ich meine Tour ganz unspektakulär oben am Kap mit einer letzten Tafel Schokolade statt einem Bad im Meer.

Mein Heimweg nach Deutschland beginnt mit einem heftigen Kulturschock. Als ich zu Fuß das wenige Kilometer entfernte Elenite erreiche, einen frisch aus dem Boden gestampften Touristenort, begrüßt mich ein gigantischer Apartmentkomplex im römischen Stil. Jetzt in der Nebensaison ist das exklusive Resort wie ausgestorben, bloß ein Securitymann beäugt mich misstrauisch. Auf der Suche nach einer Bushaltestelle schlage ich mich bis zur Hauptstraße durch, wo sich Hotels, Feriensiedlungen und Jachthäfen dicht aneinanderdrängen. Ende Oktober sind fast nur Bauarbeiter unterwegs, denn am kilometerlangen Sandstrand werden überall neue Gebäude hochgezogen. »Nein, Busse fahren jetzt nicht mehr«, erklärt mir ein junges Pärchen, das auf der einsamen Strandpromenade spazieren geht. Die beiden zücken sofort ihre Handys und rufen mir auf Bulgarisch ein Taxi.

Im Sommer hätte ich sicher noch einen Badeurlaub angehängt, doch weil es dafür schon zu kalt ist, verbringe ich meinen letzten Tag mit Sightseeing in Nessebar. Als am Abend auch Franta eintrifft, feiern wir das Ende des Kom-Emine-Trails mit frisch gegrilltem Fisch und zwei Flaschen Wein in einem schicken Restaurant, wo wir die einzigen Gäste sind. Wehmütig umarme ich den hageren Tschechen zum Abschied und schlendere zurück in mein Hotel, wo ich für dreißig Euro ein ganzes Luxusapartment bewohne. Franta hingegen läuft Richtung Strand, wo er sich schon am Nachmittag hinter einer Verkaufsbude einen sichtgeschützten Schlafplatz gesucht hat. Wenn ich morgen früh in den Bus zurück nach Sofia steige, wird er weiter Richtung Istanbul gehen. Ein wenig neidisch blicke ich ihm nach, als er im Gewirr der dunklen Altstadtgassen verschwindet.

Für wen:

  • Nur wenig Geld , aber viel Abenteuerlust? Dann auf nach Bulgarien, einem der preiswertesten und spannendsten Länder Europas! Im Balkangebirge kostet eine Übernachtung in einer Berghütte gerade mal sieben Euro, ein halber Liter einheimisches Bier einen Euro. Da in Deutschland mehr als 200 000 Bulgaren leben, gibt es viele günstige Verbindungen mit dem Billigflieger oder dem Überlandbus nach Sofia, von wo man per Bus oder Sammeltaxi in einer Stunde zum Einstiegsort Berkowiza kommt. In der Sommersaison sind die Badeorte Burgas und Varna an der Schwarzmeerküste sogar per Direktflug erreichbar.
  • Um fremde Kulturen zu entdecken, muss man nicht den Kontinent wechseln. Bulgarien ist wohl eines der unbekanntesten Länder der EU . Exotik-Feeling kommt schon allein durch die kyrillischen Schriftzeichen auf. Kopfschütteln bedeutet Zustimmung, Nicken Ablehnung. Und selbst die ausgebufftesten Geschichtsfreaks können noch etwas über die Landesgeschichte von den alten Römern bis zum EU- Beitritt lernen.
  • Kaum ein Trail ist so vielseitig: Im Sommer kann man wandern oder mit dem Mountainbike fahren, im Winter Langlaufskier oder Schneeschuhe nutzen. Man kann durchgängig zelten oder ohne Campingausrüstung von Hütte zu Hütte wandern. Man kann sich selbst verpflegen oder in den Unterkünften essen. Vor allem aber kann man seine Wanderung perfekt mit einem Badeurlaub verbinden.