Für fortgeschrittene Pilger:
Franziskusweg

Land: Italien | Länge: 600 km
Schwierigkeit: ** | Budget: €€ | Jahreszeit: ganzjährig
Natur: ** | Kultur: *** | Special Interest: Pilgerweg durch Natur und Kunstgeschichte

 

Die katholische Kirche kennt etwa 6650 Heilige, aber kaum einer ist so bekannt – und modern – wie Franziskus von Assisi. Er ist Patron des Umweltschutzes und der Ökologie, sein Gedenktag am 4. Oktober wird weltweit als Tierschutztag begangen. Unzählige katholische Kirchen sind ihm gewidmet, noch heute leben mehr als 30 000 Mönche in dem von ihm gegründeten Orden. Und mittlerweile gibt es sogar einen Franziskus-Pilgerweg, der auf 600 Kilometern von Florenz über seine Heimatstadt Assisi bis nach Rom führt.

Startpunkt ist die Florentiner Franziskanerkirche Santa Croce, deren Grundstein der Heilige angeblich selbst gelegt hat. Die riesige Basilika ist eine hervorragende Einstimmung auf die Wanderung, denn in einer Seitenkapelle hat der berühmte Renaissancemaler Giotto die Lebensstationen des Heiligen in zahlreichen Fresken dargestellt. Fasziniert schaue ich sie mir genauer an.

Franziskus wurde 1181 oder 1182 in Assisi als Sohn eines wohlhabenden Tuchhändlers geboren und führte in seiner Jugend ein ausschweifendes Leben, ja, er zog sogar in den Krieg und träumte von einem Leben als Ritter. Erst durch eine Gotteserscheinung wandelte er sich zum radikalen Eremiten, der seine kostbaren Kleider an notleidende Menschen verschenkte. Das machte ihn später zum Patron der Armen und Sozialarbeiter, brachte ihm aber erst mal die gerichtliche Klage seines eigenen Vaters ein. In einer öffentlichen Verhandlung im Jahr 1207 entkleidete sich Franziskus vollständig, verzichtete mit dieser Geste auf sein Erbe und sagte sich von seiner Familie los: »Bis heute habe ich dich meinen Vater genannt auf dieser Erde; von nun an will ich sagen: ›Vater, der du bist im Himmel.‹« Fortan diente der frühere Playboy der »Herrin Armut« und kleidete sich in eine einfache Kutte, die er mit einem Strick umgürtete – bis heute das Habit der Franziskanermönche weltweit.

Bei meiner Wanderung im Februar werde ich trotz winterlicher Temperaturen zelten, meine Ruhetage aber bevorzugt in Klöstern verbringen, um dem spirituellen Aspekt des Pilgerweges nahezukommen. In Florenz habe ich mich daher bei den Nonnen des Istituto Figlie di Sant’Anna einquartiert. Fernseher oder Radio gibt es nicht, dafür hat mein karges Zimmer einen Balkon mit Blick auf den Klostergarten. Die betagten Schwestern sprechen kein Wort irgendeiner Fremdsprache, doch als ich ihnen meinen Wanderführer zeige, sind sie von meiner Routenwahl begeistert: »Ah! San Francesco!« Bei meinem Aufbruch nach der Morgenmesse in der Hauskapelle bekomme ich noch schnell den Pilgersegen.

Kaum bin ich am Ufer des Arno aus Florenz herausgewandert, sind Schuhe und Hose mit einer verkrusteten Dreckschicht überzogen, denn der winterliche Dauerregen hat die Wege in schlammige Rutschbahnen verwandelt. Die erste Nacht verstecke ich mein Zelt in einem Olivenhain. Erst bei Tagesanbruch stelle ich erstaunt fest, dass ich fast direkt neben einem Haus gelegen habe. Zum Glück ist zu dieser Jahreszeit sowieso niemand unterwegs, der mich entdecken könnte.

Am dritten Wandertag erreiche ich auf 1000 Meter Höhe die Einsiedelei Camaldoli, deren Eremitenklausen im dichten Nebel besonders mystisch erscheinen. Hier hat der Orden der Kamaldulenser, dem ich bereits in Polen und Litauen begegnet bin, seinen Ursprung. Die überladene Barockkirche mit dem melodiösen Glockenspiel nebenan passt so gar nicht zu diesen einfachen Mönchszellen. Sie liegen für Besucher unzugänglich hinter Gittern, weil selbst heute noch einige Einsiedler darin leben. Immerhin sind die öffentlichen Toiletten geöffnet, sodass ich mich ein wenig aufwärmen kann, die Nacht im Zelt war wieder bitterkalt.

Im dazugehörigen Klosterdorf erkundige ich mich an der Pforte nach der Mittagsandacht. Der erstaunte Pförtner führt mich daraufhin nicht etwa in die Kirche, sondern über viele Treppen und Gänge zur Bibliothek, die sei jetzt im Winter leichter zu heizen. Die freundlichen Mönche sitzen aufgereiht vor den Bücherregalen und drücken mir ein Stundenbuch in die Hand, damit ich ihrem Gesang besser folgen kann. Amüsiert stelle ich fest, dass sie trotz täglicher Übung stimmlich oft danebenliegen. Glücklicherweise begleitet mich ein Novize zurück zum Ausgang, sonst hätte ich mich in dem labyrinthartigen Klosterkomplex wahrscheinlich verlaufen. »Pace e bene  – Frieden und Heil!«, verabschiedet er mich mit dem traditionellen Pilgergruß.

Camaldoli wurde im 11. Jahrhundert vom heiligen Romuald gegründet, Franziskus übernachtete hier auf seinem Rückweg aus dem Nahen Osten. Im Jahr 1219 war er als Missionar nach Palästina gereist und hatte sich dort dem Kreuzfahrerheer angeschlossen. Während des Kreuzzugs von Damiette versuchte er, zwischen den gegnerischen Parteien zu vermitteln, und predigte in Ägypten vor dem Sultan Al-Kamil. Der war zwar sehr beeindruckt und schenkte dem Bettelmönch sogar ein Signalhorn, aber Franziskus konnte weder das muslimische Heer bekehren noch die nachfolgende Schlacht verhindern.

Die Via di Francesco – nicht zu verwechseln mit der Via Francigena, einem Pilgerweg von Frankreich nach Rom – ist im nördlichen Teil nicht durchgängig markiert, nur dem Führer entnehme ich, welchem lokalen Wanderweg mit welchen Symbolen ich folgen soll. Ab Camaldoli geht es im Nationalpark Foreste Casentinesi immer oben auf dem Bergkamm einsam durch dichte Kastanienwälder, kurz vor La Verna sogar durch eine Urlandschaft mit moosbewachsenen Felsen und jahrhundertealten Bäumen. Die heruntergefallenen Kastanien liefern den Rehen und Wildschweinen gutes Futter, ich höre sie nachts im Wald danach herumsuchen. An der Ghiacciaia, auf Deutsch »Eisschrank«, bilden die Felsbrocken eine Art Höhle, die früher tatsächlich zur Kühlung genutzt wurde. Im Sommer können sich die Wanderer in dem eisigen Luftzug erfrischen, jetzt im Februar ist mir auch so schon kalt genug.

Nach drei Tagen Dauernieselregen bricht endlich für ein paar Minuten die Wolkendecke auf, und warme Sonnenstrahlen schimmern golden durch den dampfenden Wald. Ein magischer Augenblick, der mich an die erste Strophe des berühmten Sonnengesangs von Franziskus denken lässt: »Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen, / besonders dem Herrn Bruder Sonne, / der uns den Tag schenkt und durch den du uns leuchtest. / Und schön ist er und strahlend in großem Glanz: / von dir, Höchster, ein Sinnbild.«

Auf 1128 Meter Höhe erreiche ich am Südwesthang des Monte Penna das Kloster La Verna. Unter einem dramatisch wolkenverhangenen Himmel blicke ich von der Terrasse mit dem einfachen Holzkreuz hinweg über die schier endlose Bergkette der Apenninen. Im Sommer drängen sich hier die Pilger, doch heute habe ich diesen überwältigenden Ausblick ganz für mich allein. Der Überlieferung nach empfing Franziskus an diesem Ort in tiefer Versenkung als erster Heiliger die Stigmata, die Wundmale Christi – Skeptiker wie Martin Luther hielten dieses Wunder »für erstunken und erlogen«. Ein 78 Meter langer überdachter, mit Wandgemälden verzierter Gang führt von der Basilika zur Kapelle der Wundmale, in der Mitte kann man durch eine Tür zum »Bett« des Heiligen gehen: Er schlief in einer feuchten Grotte im Felsen. Kein Wunder, dass Franziskus geschwächt vom vielen Fasten schon mit 45 Jahren starb.

Hungern muss ich glücklicherweise nicht, denn in der Cafeteria von La Verna bekomme ich ein dreigängiges Mittagessen. Die große Pilgerherberge ist im Winter allerdings geschlossen, und so wandere ich durch leichtes Schneegestöber noch 18 Kilometer weiter bis in das Dorf Caprese Michelangelo, den Geburtsort des gleichnamigen weltberühmten Künstlers. Die Vermieterin hat das Steinhaus aus dem 15. Jahrhundert schon mal vorgeheizt und erklärt mir nun die Funktionsweise des Holzofens. Zentralheizung gibt es in dem alten Gemäuer nicht, aber immerhin einen altersschwachen Boiler, der mir nach einer halben Stunde Vorlauf auch tatsächlich eine lauwarme Dusche spendiert. Als ich morgens jedoch Herd und Toaster gleichzeitig anschalte, springt sofort die Sicherung raus, und ich muss das Frühstücksei auf meinem Campingkocher zu Ende kochen. Den Sicherungskasten finde ich nämlich erst, als ich beim Abmarsch die Tür hinter mir zuziehe: Er befindet sich wie oft in Italien außerhalb des Hauses.

Durch die Gassen des malerischen Sansepolcro wandere ich zunächst noch unter einem strahlend blauen Winterhimmel, doch die Tage im Februar sind kurz. Nachdem ich den gotischen Dom besucht und Proviant eingekauft habe, ist es bereits stockfinster. Zum Glück verlaufen die letzten Kilometer des Tages auf einer wenig befahrenen Straße. Nur blendet mich ein Fahrzeug mit Fernlicht so stark, dass ich versehentlich in den tiefen Straßengraben trete und mich schwungvoll der Länge nach hinlege. Meine Wasserflaschen und die Hälfte meines Abendessens werden aus den Außentaschen des Rucksacks geschleudert und landen im Dreck. Erst nachdem ich alles hektisch aufgesammelt habe, entdecke ich mein aufgeschürftes Knie und meine zerrissene Hose. Der Autofahrer hat von dem Malheur wahrscheinlich nicht einmal was mitbekommen …

Nach einer ruhigen Nacht hinter einem riesigen Stoß Brennholz kann ich mich am nächsten Morgen in der Einsiedelei Montecasale ein wenig aufwärmen. Eine Inschrift am Portal der bescheidenen Kirche besagt: »Hier haben drei gottlose Räuber wie Heilige gelebt.« Der Legende nach baten drei berüchtigte Verbrecher um Essen und wurden vom erbosten Pförtner davongejagt. Als Franziskus davon erfuhr, schalt er seinen Mitbruder mit dem Verweis auf das Gebot der christlichen Nächstenliebe. Er befahl ihm, den Übeltätern mit Essensgaben hinterherzurennen und sich bei ihnen für seine Hartherzigkeit zu entschuldigen. Die Räuber waren davon angeblich so berührt, dass sie bis zu ihrem Tod ein tadelloses Leben in diesem Kloster führten.

Zwei Tage später stoße ich im wunderschönen Gubbio auf eine weitere Franziskuslegende, die am Stadtrand mit mehreren Denkmälern verewigt ist. Ein bösartiger Wolf hatte in dieser Gegend nicht nur Tiere, sondern auch Menschen angefallen, die Bewohner Gubbios trauten sich nicht mehr vor die Stadtmauern. Trotz aller Warnungen suchte Franziskus das Raubtier auf und machte ihm ein Friedensangebot: Wenn es keine anderen Lebewesen mehr tötete, würden die Stadtbewohner es zum Dank versorgen. Der Wolf gab dem Heiligen seine Tatze zur Besiegelung und lebte bis zu seinem Tod friedlich in der Stadt.

Allein in Gubbio hätte ich mindestens einen ganzen Tag gebraucht, um alle Sehenswürdigkeiten in den engen mittelalterlichen Gassen zu entdecken. Und so geht es mir eigentlich in fast jeder Stadt entlang des Weges. Selbst die Dörfer sind teilweise so malerisch, dass ich mich kaum losreißen kann. Kulturhistorischer und spiritueller Höhepunkt dieses Pilgerwegs ist jedoch Assisi, weshalb ich mir dafür gleich zwei komplette Ruhetage eingeplant habe.

Ich erreiche die hoch gelegene Stadt nach einem langen Anstieg durch Olivenhaine in einem magischen Moment: Gerade geht die Sonne hinter der Basilika unter und lässt die Ebene mit ihren letzten Strahlen golden aufleuchten. Auf der riesigen Panoramaterrasse bin ich genauso allein wie wenig später beim Vespergesang der Mönche, bloß eine Handvoll Besucher ist in der Nebensaison so spät am Abend in der Kirche. Und ich bin definitiv diejenige mit den dreckigsten Schuhen …

Von der Basilika sind es nur ein paar Hundert Meter auf den kopfsteingepflasterten Straßen bis zu meiner Unterkunft in einem Franziskanerinnenkloster, in dem es ausgesprochen kosmopolitisch zugeht. Die Nonnen stammen aus Italien, Bulgarien, Tschechien, Korea und Japan. Als ich beim Einchecken nach Ort und Uhrzeit der Morgenandacht frage, gibt mir die Schwester keine Wegbeschreibung zur Hauskapelle, sondern erklärt mitleidig lächelnd: »Wir bringen Sie am besten hin. Kommen Sie morgen früh kurz vor sieben Uhr an den Empfang.« Dank der Führung einer älteren Schwester komme ich tatsächlich pünktlich zur Messe, doch auf dem Rückweg verlaufe ich mich in den endlosen Gängen des riesigen Gebäudes. »Kann ich hier auch frühstücken?«, frage ich zaghaft, als ich in einem Speisesaal auf drei Dutzend schwarz gekleideter Nonnen treffe. Entrüstet wird meine Frage verneint, denn ich bin versehentlich im Klausurtrakt gelandet, der ausschließlich Ordensangehörigen vorbehalten ist. Eine koreanische Schwester scheucht mich zurück in den Frühstücksraum der Gäste. Tags darauf besuche ich lieber die Frühmesse in der Basilika, die ist deutlich einfacher zu finden.

Assisi ist nicht nur Geburts- und Sterbeort von Franziskus, sondern seit 2000 zudem UNESCO- Weltkulturerbe. Selbst in zwei Tagen ist es kaum möglich, alle Kirchen, Kapellen und Gedenkstätten in und um die Stadt herum zu besuchen. Eine Frage treibt mich bei ihrem Anblick besonders um: Franziskus lebte in selbst gewählter Armut und wollte Geld nicht einmal berühren. Was hätte er wohl zu all den prächtigen Gebäuden gesagt, die in seinem Namen errichtet wurden? »Franziskus, geh und baue mein Haus wieder auf, das, wie du siehst, ganz und gar in Verfall gerät!«, befahl ihm der Überlieferung nach die Stimme Gottes im Jahr 1206, worauf der Heilige um Baumaterial bettelte und eine verfallene Kapelle vor den Toren von Assisi renovierte. Als er später dort starb, ließ er sich in Erinnerung an seine Geburt und aus Treue an seine »Herrin Armut« nackt auf die Erde legen. Begraben wurde er aber nicht in dieser seiner geliebten Portiuncula, sondern innerhalb der Stadtmauern. Die Bürger fürchteten, der Leichnam des berühmten Heiligen könnte aus der kleinen Kapelle gestohlen und sie so um die sprudelnden Einnahmen aus dem Pilgergeschäft gebracht werden. Drei Jahrhunderte später wurde die winzige Portiuncula mit einer der größten Kirchen der Christenheit überbaut, der gewaltigen Basilika Santa Maria degli Angeli.

Von Assisi aus wandere ich im Valle Umbra bei strahlendem Sonnenschein durch Weinberge und Olivenhaine nach Spoleto, wo der Weg eine Schlaufe zur franziskanischen Einsiedelei Monteluco schlägt. Obwohl es bei meiner Ankunft an dem kleinen Kirchlein schon dunkel wird, besuche ich vor der Zeltplatzsuche noch den Vespergottesdienst. Welch ein Kontrast zum prunkvollen Dom von Spoleto mit den vielen Touristen, den ich erst vor wenigen Stunden besichtigt habe. Hier oben im Wald feiern sechs Mönche in brauner Kutte sowie drei junge Novizen jeden Abend um 18 Uhr die Messe, ihr Durchschnittsalter liegt wohl gerade mal bei Mitte dreißig. Das uralte Gebäude, die altbekannten Gebete und der Wechselgesang der Mönche beruhigen mich auf wunderbare Weise. Verschwitzt und atemlos vom Aufstieg habe ich das Gotteshaus betreten, ruhig und gelassen verlasse ich die Andacht und finde trotz Dunkelheit schnell einen schönen Zeltplatz.

Schon einen Tag später passiere ich die nächste Einsiedelei mitten im Wald. Die Romita di Cesi wurde bereits im 10. Jahrhundert gegründet, Franziskus schrieb dort seinen ersten Entwurf des berühmten Sonnengesangs. Als die letzten Mönche im 19. Jahrhundert vertrieben wurden, verfiel das Kloster und wurde erst in den 1990er-Jahren von Pater Bernardino wiederaufgebaut. Heute beherbergt er Pilger und spirituell interessierte Menschen. Aber Achtung: Unbedingt vorher reservieren und die Essensfrage klären, denn die nächste Einkaufsmöglichkeit befindet sich im fünf Stunden entfernten Terni!

Das nächste Highlight ist ausnahmsweise mal nicht religiöser Natur. Die Cascate delle Marmore sind mit 165 Metern der höchste menschengeschaffene Wasserfall der Welt. Schon im Jahr 271 v. Chr. begannen die Römer durch die Umleitung des Flusses Velino mit dem Bau, heute wird der Wasserfall durch einen Staudamm gespeist, der zweimal am Tag für je eine Stunde geöffnet wird. Laut Website ist die Attraktion gerade wegen Renovierungsarbeiten geschlossen, sodass ich meine Wanderung erst gar nicht mit den Betriebszeiten abgestimmt habe. Doch als ich den Monte Pennarossa hinuntersteige, vernehme ich erstaunt ein immer lauter werdendes Tosen. Schnell laufe ich zu einer Aussichtsplattform, und tatsächlich: An der gegenüberliegenden Talseite rauschen die Wassermassen über drei Stufen in die Tiefe! Ein Anblick wie ein Gemälde, kein Wunder, dass Künstler aus ganz Europa diesen Wasserfall auf ihren Bildern verewigt haben.

Im nun folgenden Rieti-Tal gibt es so viele Heiligtümer, dass es auch Valle Santa, heiliges Tal, genannt wird. Der Franziskusweg macht hier wieder eine große Schlaufe, um auch wirklich alle Wirkungsstätten des Heiligen mitzunehmen. Nach mehreren kalten Nächten im Zelt habe ich mir in Rieti ein Bed & Breakfast reserviert. Doch als ich bereits im Dunkeln an der angegebenen Adresse ankomme, überfallen mich heftige Zweifel an den durchweg positiven Bewertungen dieser Unterkunft. Das Haus macht einen so heruntergekommenen Eindruck, dass ich fast wieder umdrehe. Auf mein Klingeln hin erscheint eine äußerst elegant gekleidete Dame, die in engem Bleistiftrock und Stilettos vor mir ein Treppenhaus mit abgeblätterter Wandfarbe und abgewetzten Stufen hinaufsteigt, ein bizarrer Kontrast zu meinen drei Schichten müffelnder Winterwanderkleidung und den verschlammten Schuhen. Im Dachgeschoss zückt sie einen gewaltigen Schlüsselbund und öffnet mir die Tür zu einem riesigen Studio, dessen schickes Design dem Titelblatt von »Schöner Wohnen« entsprungen sein könnte. Unauffällig überprüfe ich erneut die Buchungsbestätigung auf meinem Handy, gerade mal 38 Euro soll mich dieser Palast kosten. »Hier hat vor über hundert Jahren sogar schon der Tenor Enrico Caruso gewohnt«, erzählt die Vermieterin stolz und schreibt exakt den vereinbarten Betrag auf die Rechnung. Erfreut setze ich abends keinen Fuß mehr vor die Tür meines Luxusapartments, sondern genieße bis zum nächsten Morgen das gigantische Himmelbett. Merke: Bei italienischen Unterkünften trügt oft der äußere Schein.

Zwei Tage später bin ich in Calvi dell’Umbria sogar noch preiswerter, aber auch weniger komfortabel untergebracht. Obwohl ich der einzige Gast in dem Landgasthaus bin, zaubert mir die junge Besitzerin ein erstklassiges Abendessen mit drei Gängen. Ein halber Liter Rotwein sorgt neben dreißig Tageskilometern für die nötige Bettschwere. »Im Sommer beherberge ich überwiegend Pilger, die meisten kommen aus Deutschland oder den Niederlanden«, erzählt mir Gabriella beim Dessert in ausgezeichnetem Englisch. Leider sind solche Sprachkenntnisse in Italien selten. »Weil die meisten Hotelbesitzer keine Fremdsprache beherrschen, bitten mich die Pilger jeden Morgen, für sie die nächsten Unterkünfte zu buchen«, bestätigt sie lachend. »Ich komme dann vor lauter Telefonieren kaum zum Arbeiten!«

Die nächste Nacht kampiere ich im uralten Eichenwald oberhalb des Heiligtums von Greccio. Noch vor Sonnenaufgang packe ich bibbernd mein gefrorenes Zelt zusammen und werde mit einer geradezu mystischen Morgenstimmung belohnt. Die Klosteranlage und das Rieti-Tal unter mir sind im dichten Bodennebel verborgen, darüber geht an einem strahlend blauen Winterhimmel orange glühend die Sonne auf und taucht die prati, die vor mir liegende Hochweide, in ein surreales Licht. Die absolute Stille wird nur durch das Schnauben der frei laufenden Pferde und meine Schritte auf dem gefrorenen Boden durchbrochen. Raureif und Nebelfetzen überziehen die parkähnliche Landschaft wie ein Weichzeichner, Eiskristalle verwandeln die Spinnweben an den Weidezäunen und Sträuchern in filigrane Kunstwerke. Trotz der Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt wird mir vor so viel Schönheit warm ums Herz, und ich muss wieder einmal Franziskus in seinem Sonnengesang zustimmen: »Gelobt seist du, mein Herr, für unsere Schwester Mutter Erde, / die uns erhält und lenkt / und vielfältige Früchte hervorbringt.«

Je näher ich meinem Ziel Rom komme, desto stärker verändert sich die Landschaft. Der Weg verläuft zwar durchgängig naturnah auf Pfaden oder Schotterpisten und nur selten auf Asphaltstraßen, doch immer häufiger geht es nun durch Weinberge, Olivenhaine und Weideflächen. Mehr und mehr Häuser und Siedlungen liegen entlang der Route, Wildzelten wird schwieriger. Die Etappen vor Rom sind die unattraktivsten des ganzen Weges – wer wenig Zeit hat, sollte sich am ehesten die letzten beiden Abschnitte sparen.

In Rom habe ich mich wieder in einem Kloster einquartiert. Das Casa di Accoglienza Tabor gehört den Franziskanischen Schwestern von der Schmerzhaften Mutter, beschäftigt sind aber überwiegend weltliche Mitarbeiter. »Oh, Sie sind ja aus Deutschland«, stellt der junge Rezeptionist beim Einchecken fest und winkt einer Nonne, die gerade nach der Vesper aus der Hauskapelle kommt. »Da wird sich Schwester Adelgunde freuen.« Die wohl deutlich über 80-Jährige humpelt schwerfällig auf einen Gehstock gestützt heran und begrüßt mich in breitem Oberpfälzer Dialekt. Trotz ihres hohen Alters strahlen ihre Augen, als sie mir von ihrer Missionstätigkeit in Afrika und Südamerika erzählt. In Rom war sie schon bei ihrem Eintritt ins Kloster vor über sechzig Jahren, heute verbringt sie hier ihren Ruhestand. »In meiner Jugend gab es im Haus noch ein paar Hundert Schwestern aus Deutschland und Italien, jetzt sind wir nicht mal mehr ein Dutzend. Der Ordensnachwuchs kommt meist aus Übersee. Europa hat viel von seinem spirituellen Reichtum verloren«, beendet sie seufzend ihre Erzählung.

Ihre Worte gehen mir immer noch durch den Kopf, als ich mich in meinem einfachen Zimmer mit dem Holzkreuz über dem Bett schlafen lege. Vor über 800 Jahren war Franziskus aufgebrochen, um »Gottes Haus wiederaufzubauen, das ganz und gar in Verfall geraten war«. Er nahm diesen göttlichen Auftrag wörtlich und renovierte ein altes Kirchengebäude, doch im übertragenen Sinne erneuerte er durch seine Ordensgründung auch die Institution der Kirche, die von Machtgier, Korruption und Ausschweifungen befallen war. Ein Fresko in der Franziskusbasilika in Assisi zeigt, wie der arme Bettelmönch mit seiner Schulter die reiche, aber kippende Mutter Kirche stützt. Auch heute haben handfeste Skandale das Vertrauen vieler Gläubiger ins Wanken gebracht. Auf dem Franziskusweg ist mir jedoch klar geworden, welch spirituellen Reichtum die Kirche trotz aller Schattenseiten immer noch bieten kann.

Für wen:

  • Erfahrene Pilger werden begeistert sein! Der Franziskusweg kombiniert naturnahes Wandern, mystische Orte und eine angemessene Infrastruktur geradezu perfekt. Da die Strecke allerdings bei Weitem nicht so gut markiert ist wie die spanischen Caminos, braucht man etwas Erfahrung im Navigieren.
  • Auch Kunst- und Kultursuchende werden diesen Weg lieben. Auf kaum einer anderen Wanderung folgt so schnell ein geschichtlicher, architektonischer und künstlerischer Höhepunkt auf den nächsten, allein an den Start- und Endpunkten Florenz und Rom könnte man Tage in Kirchen und Museen verbringen. Hartgesottene Wanderer können die Strecke das ganze Jahr über begehen, jedoch sind in der Nebensaison die Öffnungszeiten der Sehenswürdigkeiten teilweise eingeschränkt.
  • Der Franziskusweg ist die reinste Gourmet -Tour: In fast jedem Ort wartet eine Osteria, in der man mittags und abends für wenig Geld die ausgezeichnete italienische Küche genießen kann. Wer lieber zeltet, kann sich in den Supermärkten aus der »heißen Theke« mit köstlicher Focaccia, Pizza und Lasagne versorgen, im Kühlregal gibt es frische Pasta für das Abendessen auf dem Campingkocher, gerne kombiniert mit einem halben Liter Wein aus dem gewichtsoptimierten Tetra Pak.