Land:
USA
| Länge:
1200 km
Schwierigkeit:
*** | Budget:
€€€ | Jahreszeit:
Frühjahr und Herbst
Natur:
*** | Kultur:
* | Special Interest:
Hochwüste und Canyons
»Wo willst du denn hin?«, ruft mir der schnauzbärtige Fahrer eines rostigen Pick-ups zu. Er trägt einen ausgebeulten Hut, ein grobes Hemd, Jeans und Stiefel – ein echter Cowboy eben. »Nach Paisley«, antworte ich hocherfreut, denn ich hoffe auf eine Mitfahrgelegenheit. Ich muss in dem 240-Seelen-Ort dringend Proviant einkaufen, der Laden schließt allerdings in zwei Stunden, und vor mir liegen noch mehr als acht Kilometer Fußmarsch.
»Steig ein!« Einladend öffnet er mir die quietschende Beifahrertür. Obwohl ich erst mal ein Gewehr vom Sitz räumen muss, nehme ich begeistert Platz.
Während wir auf der schnurgeraden Straße Richtung Paisley rollen, fragt Dwight mich neugierig aus. Er arbeitet zwar seit dreißig Jahren auf einer hiesigen Ranch, hat aber noch nie vom Oregon Desert Trail (ODT ) gehört. Das überrascht mich nicht, denn seit ihrer Eröffnung im Jahr 2013 wurde die Strecke von weniger als fünfzig Menschen begangen.
»Ähm, das ist doch nicht mehr der Weg nach Paisley«, bemerke ich alarmiert, als Dwight plötzlich cross country in die staubige Hochwüste abbiegt.
»Stimmt«, sagt er grinsend und fügt erst nach einer längeren Pause hinzu: »Aber ich wollte dir die Ranch zeigen.« Ich atme erleichtert auf, als Dwight mich nun an den Baracken der Cowboys vorbei zu den corrals fährt, den Gehegen der Rinder und Pferde. Die 11 000 Kühe dieses gewaltigen Betriebs werden jetzt im Frühjahr sukzessive mit Viehtransportern in die Berge zur Sommerweide gebracht.
»Wie heißt die Ranch eigentlich?«, frage ich im Plauderton, als wir gerade ein Gatter mit 500 Bullen passieren.
Dwight bremst abrupt ab und grinst mich schon wieder breit an. Dann knöpft er langsam sein Hemd auf. Nervös blicke ich mich um, doch weit und breit ist niemand zu sehen. Ich suche bereits unauffällig nach dem Türgriff, als Dwight auch noch sein T- Shirt hochzieht – und auf eine große Tätowierung deutet. Auf seiner linken Brust prangen die Buchstaben »ZX «, der Name der Ranch. »Alle unsere Cowboys haben so ein Tattoo«, erklärt Dwight lächelnd und knöpft sein Hemd wieder zu. Um mir weiteren Anschauungsunterricht zu ersparen, frage ich jetzt lieber nicht nach, wie viele Kälber die 500 Bullen des Betriebes pro Jahr produzieren. Nach einer halben Stunde Besichtigungstour stelle ich fest, dass mein Cowboy zwar ein paar Kommunikationsprobleme hat, aber im Grunde ein echter Gentleman ist: Er liefert mich wohlbehalten vor dem Dorfladen von Paisley ab.
Während Dwight als »angestellter« Cowboy bei einem Großbetrieb arbeitet, sind die kleineren Ranches in Oregon Familienunternehmen, bei denen der Nachwuchs schon von Kindesbeinen an im Sattel sitzt. Manchmal begegne ich ganzen Familien beim Viehtrieb, darunter sowohl Jungen als auch Mädchen im Teenageralter. »Früher haben die Töchter der Rancher im Sommer bei mir im Geschäft ausgeholfen«, beschwert sich ein Ladenbesitzer über so viel Emanzipation. »Aber heutzutage reiten die lieber Rodeos, weil sie da mehr verdienen.«
Die Hochwüste von Oregon ist eine Landschaft wie aus dem Wildwestfilm, geologisch gesehen wandere ich durch basin and range , zu Deutsch »Gräben und Horste«. Die basins sind brettflache und staubtrockene Hochplateaus, auf denen im Wind ein sea of sagebrush wogt, ein Meer aus aromatisch duftendem Wüsten-Beifuß. Die einzige Abwechslung bilden ein paar kaum bis gar nicht befahrene, schnurgerade Jeeptracks und kilometerlange Weidezäune.
Dazwischen ragen im Abstand von dreißig bis fünfzig Kilometern immer wieder ranges auf, Gebirgsketten mit einer Höhe von bis zu 3000 Metern, die teilweise sogar dicht bewaldet sind. Während ich in den schattenlosen basins von der Sonne geröstet werde, liegt auf den Gipfeln der ranges noch Schnee. Der optimale Startzeitpunkt für diesen Trail ist deshalb Mitte Mai: Dann ist es in den basins noch nicht zu heiß, und die Altschneefelder auf den ranges sind bereits passierbar. Doch leider ist dies kein normales Jahr …
»Der Südwesten der USA befindet sich in einer Dürrephase«, schrieb mir die Trailkoordinatorin Renee Patrick Anfang des Jahres. »Am besten kommst du schon Anfang Mai, dann ist auf die wenigen Wasserquellen am Weg noch Verlass.« Und so bin ich bereits am 3. Mai gestartet, mitten hinein in das unerwartet nasseste und kälteste Frühjahr seit Jahrzehnten. Was ein Segen für die ausgedörrte Natur ist, macht den Trail für mich zu einer der größten Herausforderungen meiner Wanderlaufbahn.
Als Renee mich unter einem strahlend blauen Himmel zum westlichen Terminus in der Nähe von Bend fährt, herrschen angenehm frühlingshafte Temperaturen. Noch völlig blauäugig frage ich die erfahrene Langstreckenwanderin: »Warum muss man auf eurer Website eigentlich einem Haftungsausschluss zustimmen, bevor man sich den Wanderführer und die Tracks herunterladen kann?«
»Zur Abschreckung, denn wir wollen keine Anfänger«, erwidert Renee nur halb im Spaß und erklärt: »Unser Trail ist nicht markiert und extrem abgelegen, dazu führt ein Drittel der Strecke cross country durch teilweise schwieriges Gelände. Es gibt bloß wenige, größtenteils unzuverlässige Wasserquellen. Das bewältigt man nur mit viel Outdoorerfahrung und guten Navigationskenntnissen.« Nach einer kurzen Umarmung verabschiedet sie sich vielsagend mit: »Good luck!«
Das Glück verlässt mich leider schon am nächsten Tag: Ein Temperatursturz drückt das Thermometer nachts unter den Gefrierpunkt, zu tief für meine Wüstentourausrüstung. Daher bibbere ich vor Kälte, als ich am dritten Wandertag auf einem primitiven Campingplatz erstmals wieder auf Menschen treffe. Nach einem kurzen Plausch mit einem Pärchen verschwindet der Mann in seinem Wohnmobil und kommt mit einem Thermounterhemd zurück. »Das sollte dir passen und ist frisch gewaschen«, kommentiert er mit mitleidigem Blick und rettet mich damit über die nächste kalte Nacht.
Doch die Temperaturen sinken unbarmherzig weiter. Auf dem Weg nach Christmas Valley, dem ersten Ort am Trail, laufe ich sogar durch einen Schneesturm. Die Bewohnerin eines abgelegenen Anwesens fährt auf der unbefestigten Straße erst an mir vorbei, wendet in einiger Entfernung und hält direkt neben mir an. »Ich kann dich bei diesem Wetter nicht allein hier draußen lassen. Darf ich dich irgendwo hinfahren?«, bietet sie mir besorgt an. Eine Viertelstunde später sitze ich in meinem beheizten Hotelzimmer und studiere die verheerende Wettervorhersage: vier Tage am Stück Nachttemperaturen von minus sechs Grad!
Glücklicherweise entdecke ich im hardware store des Ortes neben Hufeisen, Hustenmitteln und Stacheldraht in einer verstaubten Regalecke Thermounterwäsche für Bauarbeiter – leider nur noch in 3XL für Herren. »Haben Sie das auch in Damengröße?«, frage ich den Verkäufer, der genau wie die Mehrzahl seiner Kunden Jeans und Cowboystiefel trägt. Er schüttelt bloß amüsiert den Kopf.
Ich verlasse das Geschäft mit einem klobigen Pullover und einem Paar grober Arbeitshandschuhe, die ich trotz ihres viel zu hohen Gewichtes bis zum Ende meiner Wanderung fluchend mit mir herumschleppen werde. Doch wenn ich morgens eine dicke Eisschicht von meinem steif gefrorenen Zelt kratze, bin ich unendlich froh über meine nun sechs Schichten Kleidung, die mich warm durch die Nacht gebracht haben.
Der Wetterbericht für den 28. Mai ist gar nicht so schlecht: ein bisschen Regen, ein bisschen Wind, aber nicht zu kalt. Und so mache ich mich sorglos auf den Weg in die Pueblo Mountains, eine range von knapp fünfzig Kilometern Länge und mit einer Höhe von über 2500 Metern. Beim Aufstieg passiere ich noch eine Ranch an einer Schotterpiste, danach geht es cross country durch die schroffe Berglandschaft. Nur ein paar meterhohe Steinmänner weisen mir die Richtung, sind zwischen den zerklüfteten Felsen und dem struppigen sagebrush allerdings gar nicht so leicht zu erkennen. Die wenigen Altschneefelder auf der Hauptkammlinie stellen kein großes Hindernis mehr dar, der Wind hingegen ist so stark, dass ich auf der Westseite des Kamms förmlich umgeweht werde und auf der Ostseite Schutz suchen muss. Dafür ist der Ausblick auf die tiefer gelegenen basins und die wellenartig daraus aufragende range unter dem dramatisch bewölkten Himmel einfach atemberaubend.
Ich komme in dem schwierigen Gelände viel langsamer voran als geplant, mache mir aber angesichts der harmlosen Vorhersage keine großen Sorgen – bis das Wetter innerhalb von Minuten unerwartet kippt. Von Westen her ziehen dicke Nebelschwaden über den Kamm, die Temperatur rauscht in den Keller. Die Sichtweite ist urplötzlich auf wenige Meter reduziert, was die Navigation mittels Steinmännern unmöglich macht.
Innerlich blinkt Alarmstufe Orange: Die Situation ist zwar unangenehm, aber nicht wirklich bedrohlich. Da in einer guten Stunde sowieso die Sonne untergeht, steige ich einige Höhenmeter in einen ausgetrockneten Flusslauf ab, um dort im Schutz der Felsen mein Lager aufzuschlagen. Als ich endlich einen halbwegs flachen Platz gefunden habe, beginnt es dicht zu schneien. Dann lassen heftige Fallwinde mein inneres Warnsystem von Orange auf Dunkelrot springen. Obwohl ich mich auf der geschützten Ostseite der Bergkette befinde und von massiven Felswänden umgeben bin, reißen mir die Böen das Zelt fast aus den Händen! Hier kann ich unmöglich bleiben, doch es ist bereits viel zu spät und zu gefährlich, noch weiter querfeldein abzusteigen.
Als ich mich verzweifelt umschaue, reißt die Nebelwand für eine Minute auf, und ich kann etwas tiefer eine rettende Höhle im Fels erkennen. Erleichtert baue ich darin mein Zelt auf, trotz der geschützten Lage wird es weiterhin von aggressiven Böen durchgeschüttelt. Bibbernd vor Kälte finde ich kaum Schlaf in dem Schneesturm, den ich ohne diesen Zufluchtsort wohl kaum unbeschadet überstanden hätte.
Am Morgen des 29. Mai erwartet mich eine Winterlandschaft mit zehn Zentimeter Neuschnee, und es schneit in dicken Flocken weiter. Da ich bei diesem Wetter nicht zurück auf den ausgesetzten Kamm will, klettere ich durch das Gestrüpp des Flusslaufs bis zu einem Jeeptrack hinunter. Für diese cross-country- Strecke von nicht einmal zwei Kilometern Luftlinie brauche ich im heftigen Schneetreiben laut fluchend über zwei Stunden, danach geht es bis zum Nachmittag auf verschneiten dirt roads weiter.
Als ich am Abend nach dreißig Kilometern endlich ins nächste basin gelange, wölbt sich ein strahlend blauer Himmel über dem sea of sagebrush, und ich schlage mein Zelt im staubtrockenen, warmen Sand auf. Nur die schneebedeckten Gipfel der nächsten range erinnern noch an die Gefahren der letzten Nacht. Ich bin wohl einfach ein paar Wochen zu früh losgewandert, werfe ich mir angesichts der ständigen Wintereinbrüche vor. Doch im Hart Mountain National Antelope Refuge werde ich schnell eines Besseren belehrt.
Das über 1000 Quadratkilometer große Gebiet ist dem Schutz der pronghorns gewidmet, irrtümlicherweise oft »amerikanische Antilope« genannt, obwohl diese Gabelböcke gar nicht mit ihren Namensvettern in Afrika verwandt sind. Die eleganten Tiere können auf der Flucht eine Geschwindigkeit von über siebzig Stundenkilometern erreichen und diese kilometerlang durchhalten! Fast jeden Tag ziehen kleine oder große Herden in der Ferne an mir vorbei.
Das Besucherzentrum des Reservats ist eine Oase in der Hochwüste Oregons, ganz in der Nähe – und direkt am ODT – befinden sich heiße Quellen. Auf dem dazugehörigen primitiven Campingplatz lagert bereits mehr als ein Dutzend Wohnmobiltouristen, ich bin die einzige Wanderin. Wir alle genießen es, nachts die müden Glieder in dem angenehm temperierten Wasser auszustrecken und dabei den funkelnden Sternenhimmel zu betrachten. Am nächsten Morgen darf ich beim Besuch der kleinen Ausstellung im klimatisierten Informationszentrum sogar das Wifi nutzen – mein erster Internetzugang seit Tagen.
Ich nutze die Gelegenheit auch, um eine wichtige Frage loszuwerden: »Führt der Rock Creek noch Wasser?« Dieser Bach ist in meinem Wanderführer als nächste, wenngleich unzuverlässige Quelle genannt. Auf der Website der Trailorganisation gibt es zusätzlich einen water report, in dem die Wanderer während ihrer Tour die aktuelle Situation melden können – wenn sie denn Handyempfang haben. Doch leider existiert für die vor mir liegende Etappe im Moment noch kein Eintrag.
»Im Rock Creek wirst du außer Steinen nichts finden«, lautet die niederschmetternde Antwort der Ranger. Die nächste verlässliche Wasserquelle am Weg ist sechzig Kilometer, also zwei Tagesetappen, entfernt! Während Handy und Powerbank an der Steckdose laden, koche ich ein vorgezogenes Mittagessen und trinke fast zwei Liter »auf Vorrat«. Dann fülle ich alle meine Wasserbehälter randvoll und verlasse diesen letzten Außenposten der Zivilisation ächzend mit sieben Kilogramm flüssigem Zusatzgewicht.
Kaum bin ich von der unbefestigten Zufahrtsstraße des Besucherzentrums abgebogen, komme ich mir wieder vor wie in einem Wildwestfilm. Vor mir liegt eine endlose, staubige Steppe, in der nichts wächst außer hüfthohem sagebrush. Die Sonne brennt unbarmherzig auf mich herunter. Ich bedecke fast jeden Quadratzentimeter Haut mit Stoff, setze meine Sonnenbrille auf und ziehe meine Schirmmütze tief ins Gesicht. Zwei Tage lang sehe ich keinen noch so winzigen Baum. Der einzige mildtätige Schatten wird von den Befestigungssäulen der Viehgatter geworfen, die leider viele Stunden voneinander entfernt sind. Kilometer um Kilometer schleppe ich mich über mehr oder weniger gut erkennbare Jeeptracks, die unglaubliche Weite und brutale Schönheit dieser Landschaft gleichzeitig bewundernd und verfluchend. Bereits jetzt Mitte Mai ist die Hitze kaum erträglich, und alle potenziellen Wasserquellen sind ausgetrocknet, im Hochsommer ist Wandern hier unmöglich.
Nach zwei heißen Tagen und zwei kalten Nächten ist mein Wasservorrat auf einen halben Liter geschmolzen. Am kühlen Morgen des dritten Tages wandere ich besorgt Richtung Mud Spring Reservoir, einem künstlich angelegten Viehtümpel. Tatsächlich glitzert mir das heiß ersehnte Nass bald entgegen, entpuppt sich aber als stinkende dunkelbraune Brühe, auf der Kuhfladen schwimmen. Schnell treffe ich die Entscheidung, bis zur nächsten Quelle weiterzulaufen, die »nur« acht Kilometer entfernt ist. Ich kippe meinen letzten halben Liter sauberen Trinkwassers auf ex hinunter, fülle meine Behälter vorsichtshalber mit der Ekelbrühe und eile weiter.
Während der ODT sonst riesige Schlenker macht, um Privatgrundstücke zu umgehen, führt er nun mit Erlaubnis der Eigentümer direkt über das Land der Miller Ranch. Sehnsüchtig halte ich nach der angekündigten Windmühle Ausschau, die das überlebensnotwendige Wasser für das Vieh aus dem Boden pumpt. Als ich den Miller Place endlich mit ausgedörrter Kehle erreiche, kann ich mein Glück kaum fassen: Kalte, klare Flüssigkeit strömt in einen Trog, direkt daneben ein riesiger Schatten spendender Baum! Wäre ein Mitglied der Familie Miller vorbeigekommen, ich hätte ihm vor lauter Dankbarkeit die Füße geküsst.
Wasser ist eines der größten Probleme auf dem ODT . Die meisten Wanderer legen vor ihrer Tour Depots in der Wüste an, was für mich als unmotorisierte Ausländerin leider keine Option war. Glücklicherweise hatte sich ein Wanderkollege bereit erklärt, zusammen mit seinem eigenen Vorrat auch ein paar Liter für mich zu verstecken. Außerdem bestücken ehrenamtliche Helfer Caches an zwei weiteren besonders kritischen Stellen.
Doch nicht nur zu wenig, sondern auch zu viel Wasser kann zu Komplikationen führen. Das beweist mir wenig später der Owyhee River. Der ungewöhnliche Name – ausgesprochen »Oh-wah-hih« – ist eine Verballhornung von Hawaii und zollt drei hawaiianischen Trappern Tribut, die 1819 zur Erkundung des Flusses ausgesandt wurden und nie zurückkehrten. 1933 wurde ein Staudamm errichtet, 1984 eine Strecke von 190 Kilometern stromabwärts zum Wild and Scenic River erklärt. Die ihn umgebenden mehr als 8000 Quadratkilometer großen Owyhee Canyonlands hingegen sind das letzte intakte Stück Wildnis der USA , das noch keinen Schutzstatus genießt. Dabei sind die tiefen Schluchten des Owyhee und seiner Nebenflüsse ein wahres – und ziemlich unbekanntes – Juwel der Natur, nicht umsonst auch »Oregon’s Grand Canyon« genannt.
»Wir wollen die Hochwüste und die Canyonlands ins öffentliche Bewusstsein rücken und damit für deren Bewahrung werben. Denn die Menschen setzen sich vor allem für das ein, was sie kennen«, so hat mir Renee Patrick die Idee hinter dem Oregon Desert Trail erklärt. Allerdings sei es schwierig, die Interessen von Ranchern, Freizeitjägern und -sportlern sowie Naturschützern unter einen Hut zu bringen.
»Der Owyhee River ist ohne Zweifel die schwierigste Etappe des Trails«, konstatiert mein Wanderführer nüchtern. »In den slot canyons versperren mannshohe Felsbrocken den Durchgang, viele tiefe Pools müssen durchschwommen werden, die Vegetation aus Weiden und Büschen ist nahezu undurchdringlich. Dazu gibt es Klapperschlangen im Überfluss.« Wie fast alle Wanderer, die zu diesem Zeitpunkt schon von den Schwierigkeiten der letzten 1000 Kilometer weichgekocht sind, wähle ich also die einfachere Alternativstrecke oben am Rand des Canyons. Doch nach zwanzig Kilometern auf einer dirt road muss auch ich hinunter in die Klamm und den Owyhee River auf der Hauptroute furten. Ein Moment, vor dem ich mich seit Tourbeginn fürchte. In besonders schneereichen Jahren ist der Strom so tief und reißend, dass selbst Schwimmen gefährlich ist, und hier gibt es keine Rancher, keinen Handyempfang und keinen Mitwanderer, der mir im Notfall helfen könnte. Ich weiß nicht einmal, wie ich meine Ausrüstung wasserdicht verpacken soll, denn mein dafür vorgesehener großer Müllsack hat durch die vielen Einsätze im Regen bereits mehrere Löcher.
Als ich in der Abenddämmerung zum ersten Mal in den Canyon hinabsteige, verschlägt mir seine atemberaubende Schönheit schlichtweg den Atem. Bis zu 300 Meter ragen die Felswände vertikal empor, dazwischen windet sich der Owyhee River, rechts und links begrünt von einem schmalen Streifen aus sagebrush und Weiden. Als ob das alles nicht schon spektakulär genug wäre, geht gerade die Sonne orangefarben hinter dramatischen Wolken unter und taucht die Szene in ein geradezu überirdisches Licht. Ich bin so berührt, dass ich an Ort und Stelle mein Zelt aufschlage und die Furt auf den nächsten Morgen verschiebe. Sie ist letztendlich unproblematisch, denn nach einigen Anläufen finde ich eine Stelle, an der das Wasser auf Hüfthöhe ruhig dahinfließt.
Bis zum östlichen Terminus am Owyhee-Stausee verläuft der Trail nun weitgehend oberhalb des Flusses, leider bezahle ich die grandiosen Blicke hinunter in den Canyon mit anstrengenden cross-country- Abschnitten durch die steinige Halbwüste. Und wie so oft auf dieser Tour muss ich immer wieder Schluchten auf dem path of least resistance durchqueren: Fast vertikal geht es über Geröll und sagebrush über hundert Höhenmeter hinauf und hinunter, die beste Strecke »mit dem geringsten Widerstand« sucht man sich selbst.
Am Abend des 11. Juni, wenige Tage vor dem Ziel, endet meine Tagesetappe am Ufer des Owyhee. In der Abenddämmerung schöpfe ich mehrere Liter glasklaren Wassers aus dem Fluss und nehme anschließend ein erfrischendes Bad. Auf der anderen Seite befinden sich laut meinem Wanderführer heiße Quellen, doch ich bin zu müde für die Furt und schlage mein Lager am diesseitigen Ufer auf – was sich als glückliche Fügung entpuppen wird.
Mitten in der Nacht werde ich von ohrenbetäubendem Donner geweckt, gefolgt von grellen Blitzen und einer Sintflut von wahrhaft biblischem Ausmaß. Zwölf Stunden lang schüttet es wie aus Kübeln, mein Rucksack im Vestibül schwimmt bald in einer Pfütze. Nach Beendigung meiner Tour werde ich in der Zeitung lesen, dass allein diese eine Regennacht die Wasserspeicher im Osten Oregons so weit gefüllt hat, dass ein weiteres Dürrejahr damit überbrückt werden kann.
Als ich am frühen Nachmittag in einer Regenpause endlich loswandere, hat sich der ruhig dahinfließende Owyhee in einen reißenden Strom verwandelt und das klare Wasser in eine sedimenthaltige braune Brühe. Bereits nach einem Kilometer beginnt es wieder zu schütten. Mein größtes Problem ist allerdings nicht der Regen, sondern der davon aufgeweichte Boden. Bei jedem Schritt sinke ich zentimetertief ein, kiloschwer klebt Lehm an meinen Schuhen und Trekkingstöcken. Zwar erwache ich schon am nächsten Morgen unter einem wolkenlosen Himmel, doch es wird mehrere Tage dauern, bis die Wege wieder getrocknet und in normaler Wandergeschwindigkeit begehbar sind.
Als ich nach sechs Wochen am östlichen Terminus des ODT anlange, habe ich wohl so ziemlich jedes Wetterextrem dieser Region erlebt und bin voller Bewunderung für die ersten amerikanischen Siedler. Der Weg führte mich an einem Dutzend alter homesteads vorbei, verfallenen Holzhäusern europäischer Auswanderer, die hier mitten im Nirgendwo eine neue Existenz aufbauen wollten und wohl allzu oft am rauen Klima scheiterten. Auch die amerikanischen Ureinwohner haben ihre Spuren hinterlassen. Als ich am Fuße der Pueblo Mountains meinen Lagerplatz vor dem Zeltaufbau auf Unebenheiten untersuchte, schimmerte mir im Staub ein auffallend geformter Obsidian entgegen. Neugierig polierte ich den schwarzen Stein und stellte fest, dass es sich um eine indianische Pfeilspitze handelt.
Der Osten Oregons ist selbst heute noch eines der am dünnsten besiedelten Gebiete der USA . So leben zum Beispiel im Harney County gerade einmal 7500 Menschen auf einer Fläche von 26 500 Quadratkilometern, das entspricht etwas mehr als der Größe von Mecklenburg-Vorpommern. Der zuständige Sheriff kontrolliert dieses riesige Gebiet mit gerade mal sechs Beamten. Kein Wunder also, dass hier jeder Rancher ein Gewehr besitzt und notfalls selbst law and order durchsetzt.
Auf gut 1200 Kilometern führt der Trail an einer einzigen Stadt mit Supermarkt vorbei, für die restliche Strecke musste ich mir Proviantpakete vorausschicken. Die winzigen Siedlungen am Wegesrand haben zwar nur eine Handvoll Einwohner, aber meist auch ein mercantile. In diesen Läden, die gleichzeitig als Tankstelle, Kneipe, Restaurant und Postamt fungieren, wird von Schokoriegeln bis Arbeitshandschuhen alles an kurzfristigem Ranchbedarf verkauft – zu Preisen, die der Abgeschiedenheit des Ortes entsprechen. Outdoortaugliche Nahrung sucht man allerdings vergebens. So gut wie jeder Kunde, egal welchen Geschlechts, trägt Cowboystiefel und -hut und fährt im riesigen Pick-up mit Viehanhänger vor. Bei meiner Bitte um das WLAN- Passwort in einem der Geschäfte antwortete der Mann hinterm Tresen freundlich lächelnd: »Trump_wins!«
Kulinarisch ist der Weg eine Katastrophe. »Ich fahre nur einmal pro Woche in die Stadt zum Einkaufen. Das sind 150 Kilometer einfache Strecke«, erklärte mir der Besitzer der Rome Station, des einzigen Außenpostens der Zivilisation am Highway 95. Wie alle mercantile- Besitzer serviert er dementsprechend frittiertes Fast Food, auf frisches Obst und Gemüse musste ich wochenlang verzichten. Rühmliche Ausnahme: das Spielcasino mit Restaurant in McDermitt, das sich direkt hinter der Grenze zu Nevada befindet. Hier können sich die Wanderer zwischen blinkenden Glücksspielautomaten mit einem Steak zum Frühstück verwöhnen.
Als ich nach dem Ende der Tour wieder wohlbehalten in Bend ankomme, gratuliert mir Renee Patrick: »Du hast den ODT als 52. Thruhiker geschafft!« Und dann stellt sie mir die Gretchenfrage: »Wie hat der Trail dir denn gefallen? Bitte sei brutal ehrlich!«
Meine aufrichtige Antwort: »US- amerikanische Wanderer unterscheiden drei Arten von Outdoorspaß: Bei type 1 fun ist eine Tour währenddessen toll und hinterher in der Erinnerung natürlich auch. Im Gegensatz dazu ist type 3 fun weder unterwegs noch anschließend eine gute Erfahrung. Der ODT ist hingegen type 2 fun wie aus dem Lehrbuch: Ich habe ihn sechs Wochen lang verflucht und gehasst, doch jetzt, wo er hinter mir liegt, bin ich unglaublich stolz und froh über meine Erlebnisse. Das war einer der härtesten Trails meiner ganzen Outdoorlaufbahn, aber die Strapazen haben sich absolut gelohnt!«
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