Land:
Rumänien | Länge:
1400 km
Schwierigkeit:
** | Budget:
€ | Jahreszeit:
Frühjahr bis Herbst
Natur:
** | Kultur:
*** | Special Interest:
Zeitreise durch ein Multikulti-Land
»Im Ausland sagen wir nie, dass wir Rumänen sind. Sonst müssen wir uns ständig Geschichten über bettelnde Roma, Kinderarmut und Sozialhilfebetrug anhören«, erklärt mir das junge Pärchen aus Cluj-Napoca seufzend am Ende meiner Wanderung. »Stattdessen erzählen wir lieber, dass wir aus Transsilvanien stammen. Dann kommen zwar blöde Fragen nach Dracula und Knoblauch, aber daran gewöhnt man sich schnell.«
Betreten blicke ich zu Boden, denn auch ich musste mir von meinen deutschen Freunden während dieser Tour Sprüche über Vampire anhören und jede Menge durchweg negativer Vorurteile über Rumänien, das in der Tat eines der ärmsten und korruptesten Länder der EU ist. Vier Millionen Rumänen, also zwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung, sind wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage dauerhaft ausgewandert, in den Sommermonaten verlässt zusätzlich eine weitere Million Saisonarbeiter das Land. Während die Regierung diesem Exodus bisher tatenlos zuschaut, will ein rumänischer Privatmann die Landflucht mit einem neuen Wanderweg namens Via Transilvanica bekämpfen.
Wie viele seiner Landsleute kehrte Alin Uhlmann Ușeriu seiner Heimat nach der Revolution von 1989 den Rücken. Der junge Mann gründete in Franken eine eigene Firma, verliebte sich in eine Deutsche und bekam mit ihr einen Sohn. Doch trotz erfolgreicher Karriere und Familienglück fühlte er sich in Deutschland nicht wohl. »Vor lauter Heimweh nach Rumänien bekam ich sogar gesundheitliche Probleme. Mein Land ist heruntergewirtschaftet und korrupt, aber ich kann einfach nicht anders: Ich liebe es!«, erzählt er mir bei unserer ersten Begegnung. 2001 kehrte er daher zurück und steckte seine gesamten Ersparnisse in die von ihm gegründete gemeinnützige Organisation Asociația Tășuleasa Social, benannt nach dem Berg in der Nähe des elterlichen Grundstücks.
Der charismatische Alin ist ein Menschenfänger im besten Sinne, seine Tatkraft und Energie sind ansteckend. Unter seiner Führung stemmten im Laufe der nächsten Jahre Tausende von freiwilligen Helfern gewaltige Projekte. Sie pflanzten eine Million neue Bäume, sammelten 450 Tonnen Müll und klärten im einzigen Walderlebniszentrum des Landes mehr als 9000 Besucher über die Folgen von Abholzung und Holzdiebstahl auf. Als Christmas trucker transportieren sie zusammen mit den deutschen Johannitern alljährlich Weihnachtspakete von Deutschland nach Rumänien und haben damit bereits mehr als 450 000 sozial benachteiligte Kinder persönlich beschenkt.
Beim Pilgern auf dem spanischen Camino Francés kam Alin eine weitere Idee: ein Fernwanderweg durch ganz Rumänien, genauer gesagt durch die Region Transsilvanien im Zentrum des Landes. »Dort sterben ganze Dörfer durch Emigration und Landflucht. Mit der Via Transilvanica will ich der verbliebenen Bevölkerung neue wirtschaftliche Perspektiven durch den Wandertourismus eröffnen«, erklärt mir Alin in bestem Deutsch mit fränkischem Dialekt. »Vor allem aber möchte ich ihr Selbstbewusstsein heben. Die glauben, sie leben in einem gottverlassenen Kaff, wo niemand tot überm Zaun hängen möchte – und plötzlich kommen da Dutzende von Wanderern durch und sind begeistert!«
Ich treffe Alin auf dem Campus der Tășuleasa Social, der sich 210 Kilometer vom nördlichen Terminus der Via Transilvanica direkt am Weg befindet. Schon auf dieser ersten einwöchigen Etappe durch die rumänische Bukowina erlebe ich, dass Alins Kalkül aufgegangen ist – und das, obwohl der Abschnitt erst vor zwei Jahren markiert wurde.
»Bună ziua! – Guten Tag!«, rufe ich dem hoch aufgeschossenen Hirten von Weitem zu, als ich mich seiner Holzhütte über eine idyllische Hochweide nähere. Das Heu ist wie in einem Heidi-Heimatfilm auf Holzgestellen zuckerhutartig zum Trocknen aufgetürmt, die Weidezäune bestehen aus langen, dünnen Baumstämmen. Meine laute Begrüßung soll den Hirten dazu bewegen, seine drei großen zottigen Hunde im Zaum zu halten. Glücklicherweise ist ein rumänisches Ehepaar, das ich in den letzten Tagen schon mehrmals getroffen habe, vor mir angekommen und hat mein Erscheinen angekündigt.
Wortlos geleitet mich der Hirte an den Hütehunden vorbei in die rauchgeschwängerte Holzhütte, wo meine Wanderkollegen Marian und Iulia bereits auf einer Holzbank sitzen. Direkt neben einem offenen Feuer steht eine Pritsche mit Kissen, Fellen und Decken. Darauf schlafen die zwei Hirten die ganze Nacht, während mir der Qualm schon nach wenigen Sekunden in den Augen beißt und mich husten lässt.
»Lapte? Brânză? – Milch? Käse?«, offerieren mir die beiden raubeinigen Männer freundlich und stecken sich trotz des Rauchs auch noch eine Zigarette an. Sie haben wahrscheinlich deutlich länger keine Dusche gesehen als ich, und die fehlenden Zähne in ihrem Mund lassen darauf schließen, dass das auch für Zahnärzte gilt. Fasziniert blicke ich mich um: Vor der niedrigen Tür stapeln sich blecherne Milchkannen, drinnen hängen an einem Holzbrett sechs weiße Stoffbeutel mit geronnener Milch, aus denen die Molke in Eimer am Lehmboden tropft. Auf einem weiteren Bord türmen sich mehrere Laib Käse neben einem Transistorradio, aus dem leise rumänische Volksmusik dudelt. Nur eine Plastiktüte mit einem Supermarktlogo weist darauf hin, dass wir uns im 21. Jahrhundert befinden.
Ich probiere vorsichtig ein Stück Käse und ein Glas Rohmilch mit der nagenden Frage im Hinterkopf: Verträgt mein Magen Milchprodukte ohne Pasteurisierung? Beides schmeckt zum Glück köstlich, bessere Bioqualität kann ich mir gar nicht vorstellen. Iulia erzählt auf Englisch, dass die Hirten hier den Sommer über mit drei Hunden auf fünfzig Kühe aufpassen. Die Milch verarbeiten sie an Ort und Stelle, denn der Transport ins nächste Dorf wäre viel zu aufwendig. Marian drückt den beiden beim Abschied für die Bewirtung eine 10-Lei-Note in die Hand, umgerechnet zwei Euro. Ich tue es ihm gleich.
»Die Hirten stehen in der sozialen Hierarchie ganz unten«, erzählt mir Iulia beim Weitergehen. »Sie werden von den Dorfbewohnern angeheuert, um das Vieh einer ganzen Gemeinde auf der Sommerweide zu beaufsichtigen und zu melken. Sie müssen meist auch noch die Hofhunde mitnehmen, obwohl sie ihnen gar nicht gehorchen und daher zum Viehhüten nur bedingt geeignet sind.« Jetzt verstehe ich plötzlich, warum ich schon mehrmals von wütend kläffenden Hunden umringt wurde, die selbst der Hirte kaum bändigen konnte.
»Bezahlt werden sie nicht mit Geld, sondern ganz oder zumindest teilweise mit Käse. Da sind die Einnahmen durch die Wanderer ein nettes Zubrot«, berichtet Iulia weiter. »Ungefährlich ist ihr Job nicht«, ergänzt Marian. »Die beiden haben uns erzählt, dass erst vorgestern Nacht ein Bär zwei Kälber gerissen hat.«
Ich muss schlucken. Im Wanderführer wird zwar vor Bären gewarnt, und vor jedem größeren Waldstück hat die Trailorganisation entsprechende Schilder aufgestellt, aber so richtig ernst genommen habe ich das Thema bisher nicht. Dabei werde ich in jedem Dorf auf die urs angesprochen, jeden Tag sehe ich ihre Exkremente und manchmal höchst beeindruckende Tatzenabdrücke. In Rumänien gibt es die größte Population Europas, mehr als 5000 Bären leben hier, Tendenz steigend, denn die Tiere stehen unter Naturschutz und dürfen nicht gejagt werden. Selbst Marian und Iulia, beides Polizisten, blasen alle paar Minuten in eine große Fußballtröte. Der Krach soll die Bären warnen und damit Zufallsbegegnungen vermeiden.
Vorsichtshalber verzichte ich auf Camping, und wir übernachten gemeinsam in einer Pension, wo uns die Wirtin zum Abendessen gebratene Forelle aus dem nahe gelegenen Fluss serviert. »Die Hälfte meiner Gäste sind Wanderer auf diesem Weg«, erzählt sie begeistert und zückt den Via-Transilvanica-Stempel für unseren Wanderpass. Danach berichtet sie von einem Bären, der vor Kurzem die Mülltonnen an der Dorfstraße geplündert hat. Gut, dass ich nicht gezeltet habe …
Den detaillierten Wanderführer des Trails kann man kostenlos auf Rumänisch, Englisch und sogar Deutsch im Internet herunterladen. Recherchiert, verfasst und gestaltet wurde er von einem rein weiblichen »Investigativ«-Team. Diese Frauen beruhigen mich zum Thema Bären: »Tagsüber musst du dir keine Sorgen machen, denn die Tiere sind nachtaktiv. Bei unseren Recherchetouren haben wir Meister Petz nur ein einziges Mal gesehen, und da ist er gleich Hals über Kopf vor uns weggerannt.« Dennoch legen sie mir ans Herz, im Bärengebiet auch zukünftig besser nicht im Wald zu zelten: »Sicher ist sicher – und außerdem erlebst du in den Unterkünften viel mehr Abenteuer!«
Die Herbergssuche fällt mir nicht schwer, denn das Frauenteam hat hervorragende Arbeit geleistet. Im Wanderführer sind für jede Etappe Privatunterkünfte sowie deren Telefonnummern und Preise aufgelistet. Weil Ausländer mangels Sprachkenntnis nicht einfach anrufen können, gibt es für Übernachtungsanfragen eine Standard-SMS in Rumänisch, die die Vermieter bloß noch mit Ja oder Nein beantworten müssen. Fast alle bieten für ein paar Euro auch Abendessen und Frühstück an, eine hervorragende Möglichkeit, die rumänische Küche kennenzulernen. Ein Einzelzimmer kostet in der Regel zehn bis zwanzig Euro, Zelten im Garten um die fünf Euro. Die Erlebnisse dabei sind jedoch unbezahlbar und zeigen mir Rumänien in seiner ganzen Vielfalt. So schlafe ich in modernen, mit EU- Mitteln geförderten Landpensionen mit superschnellem Wifi genauso wie in uralten Bauernhäusern mit knarzenden Holzdielen und schilfgeflochtenen Pantoffeln.
Besonders abenteuerlich ist meine Unterkunft im Dorf Prisăcina hoch über dem Cerna-Tal im Süden des Landes. Die unbefestigte Dorfstraße ist in der einbrechenden Dunkelheit nicht beleuchtet, nur Hundegebell kündigt meine Ankunft an. Vorsichtshalber erkundige ich mich im ersten Haus nach dem Weg, wo mir die erstaunte Bewohnerin schnell die Richtung weist. Schon nach wenigen Minuten wird mir allerdings klar, dass man sich in Prisăcina gar nicht verlaufen kann: Es gibt bloß einen schlammigen Weg und zwei bewohnte Gebäude …
Meine Wirtin führt mich im Schein einer Stirnlampe durch ihr dunkles Haus zu meinem Zimmer. Wahrscheinlich ein Stromausfall, denke ich und drücke trotzdem automatisch auf den Lichtschalter. Zu meinem großen Erstaunen erhellt eine kitschige Deckenlampe mehrere Betten mit verstaubten bunten Kissen und Decken.
Müde und erschöpft von einem 30-Kilometer-Tag bei einstelligen Temperaturen frage ich bibbernd nach einer Dusche. Meine Gastgeberin, Tanti Ioana, schaltet das Zimmerlicht wieder aus und begleitet mich über den dunklen Flur zum Badezimmer. Das deutsche Lehnwort Tanti sagt in Rumänien nur bedingt etwas über den Verwandtschaftsgrad aus, sondern ist eine liebevolle Anrede für ältere Damen. In dem mit einer nackten Glühbirne erleuchteten Bad entdecke ich neben einer schmuddeligen Wanne einen gusseisernen Ofen.
Während Tanti Ioana mit Stirnlampe und Schürze in der Küche werkelt, heizt ihr Mann in Gummistiefeln und blauem Arbeitsanzug das Badewasser an und erklärt mir anschließend mein Abendprogramm: »Pălincă, duș, mâncare – Schnaps, Dusche, Essen.« Dafür entkorkt er eine Keramikflasche mit Obstbrand, gießt die klare Flüssigkeit in zwei nicht ganz so saubere Schnapsgläser und prostet mir zu: »Noroc!« Als ich eine halbe Stunde später unter der Dusche stehe, ist das Wasser trotz bollerndem Ofen gerade mal lauwarm.
Meine Laune hebt sich jedoch schlagartig, als Tanti Ioana mein Abendessen auffährt: eine riesige Terrine mit ciorbă, einer sauren Gemüsesuppe, dazu Berge von Polenta und dem Weichkäse brânză, ein Dutzend Stücke fetten Specks sowie Tomaten, Paprika und Gurken aus dem eigenen Garten. »Singură!«, rufe ich überrascht angesichts dieser gewaltigen Portion: »Ich bin doch allein!«
Tanti Ioana erklärt mir radebrechend, dass die Menge eigentlich für vier Personen bestimmt war. Sie konnte sich nämlich trotz meiner eindeutigen Reservierungs-SMS nicht vorstellen, dass eine Frau solo wandert und hat daher für mehrere Personen gekocht.
Macht nix, denn ich habe sowieso Appetit für zwei und bekomme den Rest der Köstlichkeiten einfach zum Frühstück vorgesetzt. Neben Rührei von den eigenen Hühnern gibt es Polenta und brânză diesmal in gebratener Form, dazu kross geröstete Speckschwarte und frische Milch. Lediglich das obligatorische Glas palinca verschmähe ich so früh am Morgen, obwohl ich nach einer Nacht im ungeheizten Zimmer bei einem Grad Außentemperatur eigentlich etwas Wärmendes brauchen könnte.
Bei meinem Abschied arbeitet Tanti Ioana bereits eifrig in ihrem Gemüsegarten, wo mir ein großes Solarpanel ins Auge sticht. Erst jetzt dämmert mir, dass das kleine Dorf gar nicht ans Stromnetz angeschlossen ist. Meine Gastgeber nutzen nachts die Stirnlampen, um die selbst produzierte Solarenergie nicht durch unnötige Beleuchtung zu verschwenden.
Der Slogan der Via Transilvanica lautet: »Der Weg, der verbindet!« Als ich dieses Motto zum ersten Mal höre, halte ich es für einen platten Gemeinplatz. Nach ein paar Wochen wird mir jedoch klar, dass dieser kurze Satz den Trail perfekt zusammenfasst. Rumänien ist ein Land mit großen sozialen Gegensätzen, den unterschiedlichsten Landschaftsformen und verschiedenen Kulturen, und der Weg zeigt dem Wanderer jede dieser Facetten. Meist ist das höchst pittoresk, oft sogar atemberaubend schön, aber manchmal schmerzt es auch.
Denn so idyllisch die alten Bauernhäuser, die Pferdefuhrwerke oder die einsamen Schäfer wirken mögen, sie sind ein Zeichen von Armut. In einigen Dörfern gibt es immer noch keinen Strom- oder Wasseranschluss, viele Bauern können sich keinen Traktor leisten, und die Schäfer müssen oft sogar ihre Frauen und Kinder zum Arbeiten einspannen. Die alten Damen mit Kopftuch und Filzpantoffeln, die sich am Straßenrand mit dem Verkauf von selbst gepflückten Blumen oder Beeren die winzige Rente aufbessern müssen, zerreißen mir das Herz. Weil sie sich keine orthopädischen Krücken oder gar einen Rollator leisten können, humpeln sie an Holzstöcken, während ihre Kunden oft in schicken Luxuskarossen vorfahren.
Die Via Transilvanica führt durch mehrere atemberaubende National- und Geoparks, hier befinden sich die letzten großen Urwälder, Bären- und Wolfspopulationen Europas. Nachdem ich sieben Wochen lang von den mehr als 1300 Meter hohen Karpatengipfeln bis zum Ufer der Donau durch eine extrem dünn besiedelte Landschaft gelaufen bin, erscheint mir Rumänien – mal abgesehen von ein paar wilden Müllkippen – fast wie ein unberührtes Paradies, in dem Mensch und Natur größtenteils noch im Einklang stehen.
Doch Alin erzählt mir von der Kehrseite der Medaille: »In keinem anderen EU- Land ist noch so viel Urwald erhalten wie in Rumänien, er ist aber durch illegalen Holzeinschlag bedroht.« Sofort denke ich an die vielen Warnschilder der staatlichen Forstverwaltung Romsilva, auf denen ein hämisch grinsender Holzdieb mit Axt und Maske durch den Wald schleicht und dabei in ein Paar Handschellen tappt. Unter der fast schon komisch wirkenden Zeichnung heißt es: »Denk daran! Unrechtmäßiges Abholzen des Waldes wird bestraft!«
Alin dämpft meine Hoffnung, dass solche behördlichen Maßnahmen den Raubbau verhindern würden: »Während früher kriminelle Banden oder verarmte Dorfbewohner heimlich Bäume fällten, sind heute vor allem korrupte Forst- und Regierungsbeamte für den Kahlschlag verantwortlich. Mit der Via Transilvanica wollen wir beweisen, dass es langfristig lukrativer ist, den Wald zu erhalten als für den kurzfristigen Profit abzuholzen.«
Dabei führt die Via Transilvanica nicht nur durch Waldeinsamkeit, sondern auch an den unterschiedlichsten Attraktionen vorbei. So wandle ich in Praid durch eine riesige unterirdische Salzmine, in deren Heilklima sich Massen von Touristen unter Tage erholen. Im Salzschwimmbad nebenan kann ich bloß herumplanschen, denn Schwimmen ist aufgrund des Auftriebs durch das extrem salzhaltige Solewasser gar nicht möglich. Die Schlucht Râpa Roșie bei Sebes hingegen erinnert mich mit ihren bizarren, durch Wind- und Wassererosion geformten Sandsteingebilden eher an das australische Outback denn an Europa. Und im Nationalpark Semenic-Cheile Carașului kann ich mich durch einen glücklichen Zufall einer Tour durch die Peștera Comarnic anschließen, einer mehr als sechs Kilometer langen Tropfsteinhöhle. Ein junger Parkranger führt uns durch Säle und vorbei an Formationen mit so klingenden Namen wie Orgel, Chinesische Mauer oder Kokosnuss.
Alin will den Wanderern neben den vielen Schokoladenseiten Rumäniens aber auch ganz bewusst Orte wie Copșa Mică, auf Deutsch Kleinkopisch, die »Giftküche« des Landes, zeigen. Eine Rußfabrik und eine Buntmetallhütte sorgten dort bis zu ihrer Stilllegung im Jahr 2008 für beißenden Gestank und schwarzen Schnee. Noch heute sind die Häuser rußgeschwärzt, die Lebenserwartung liegt neun Jahre unter dem nationalen Durchschnitt. Kaum habe ich diesen dystopischen Ort mit den hochaufragenden Schloten und zerfallenden Industrieruinen durchwandert, präsentiert mir das zwei Stunden Fußmarsch entfernte Axente Sever, zu Deutsch Frauendorf, ein idyllisches Kontrastprogramm. Hier übernachte ich in einem liebevoll renovierten zweistöckigen Apartment direkt in den Festungsmauern der mittelalterlichen Wehrkirche. Die junge Mitarbeiterin kommt am nächsten Morgen sogar extra für mich früher zur Arbeit, damit ich vor dem Abmarsch noch das dazugehörige Museum und die Kirche besichtigen kann. Der Aufstieg auf den Turm über enge Steintreppen und Holzstiegen voller Taubendreck hätte in Deutschland sicher keine TÜV- Zulassung bekommen, doch oben erwartet mich zwischen Glocken und Holzgebälk ein grandioses 360-Grad-Panorama auf das gut erhaltene Straßendorf der Siebenbürger Sachsen.
Rumänien ist ein Multikulti-Land, in dem 18 verschiedene staatlich anerkannte Minderheiten leben. Anders als der Name vermuten lässt, kommen die Siebenbürger Sachsen jedoch nicht aus Sachsen, sondern sind vor 800 Jahren aus dem Moselfränkischen eingewandert, ihr Dialekt ähnelt dem Luxemburgischen. Von den einst 300 000 Angehörigen dieser Volksgruppe leben heute nur noch 15 000 in Rumänien. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie zunächst als Nazikollaborateure nach Sibirien verschleppt und rechtlich diskriminiert, ab den 1970er-Jahren von Ceaușescu im wahrsten Sinne des Wortes in die Bundesrepublik verkauft, und nach dem Mauerfall wanderten die verbliebenen Sachsen in den 1990er-Jahren fast komplett nach Deutschland aus.
Ohne aktive Gemeinde waren die imposanten Wehrkirchen, Wahrzeichen der siebenbürgischen Dörfer und Städte, jahrzehntelang dem Verfall preisgegeben. In der beeindruckenden spätgotischen Margarethenkirche von Mediaș, zu Deutsch Mediasch, wird daher gleich ein halbes Dutzend Altäre aus dem gesamten Landkreis aufbewahrt. »Die haben wir aus Dörfern gerettet, wo sie in den alten Gemäuern schutzlos der Witterung, Vandalismus oder Diebstahl ausgesetzt waren«, erzählt mir die junge Pfarrerin Hildegard Servatius-Depner, die zusammen mit ihrem Mann und drei Kollegen die insgesamt 49 evangelischen Gemeinden des Landkreises betreut.
»Teilweise lebt in einem Ort nur noch eine Handvoll Protestanten. Wir sammeln dann alle mit dem Kleinbus ein und feiern gemeinsam Gottesdienst mit anschließendem Kaffeeklatsch«, berichtet die waschechte Siebenbürger Sächsin, die sowohl in Sibiu (Hermannstadt) als auch in München Theologie studiert hat. Das erklärt den großen Fuhrpark vor dem Pfarrhaus. Direkt neben der Kirche befinden sich ein deutschsprachiger Kindergarten, eine Grundschule und sogar ein Gymnasium.
»Mehr als achtzig Prozent der Schüler sind keine deutschen Muttersprachler mehr, sondern Rumänen. Ihre Eltern versprechen sich von unserer Schule mit Unterrichtssprache Deutsch bessere Zukunftschancen für ihre Kinder«, erklärt die engagierte Pfarrerin bei einem kleinen Plausch in ihrer Küche, bevor sie zur nächsten Stunde Religionsunterricht eilt.
Mit insgesamt 1,2 Millionen sind die Ungarn die größte ethnische Minderheit in Rumänien. Als ich in ihrem Siedlungsgebiet, dem sogenannten Szeklerland, durch die Dörfer mit den kunstvoll geschnitzten Hoftoren wandere, schallt mir zur Begrüßung öfter ein ungarisches jo napot denn ein rumänisches bună ziua entgegen. Da sich viele der Szekler zum unitarischen Glauben bekennen, findet sich in ihren schmucklosen Kirchen kein einziges Kreuz. Dafür sind die Einbände der Gesangbücher liebevoll mit geometrischen Mustern bestickt und die Decken mit Bibelzitaten verziert – selbstverständlich auf Ungarisch.
Rumänien ist eines der religiösesten Länder der EU , 87 Prozent der Bevölkerung bekennen sich zum rumänisch-orthodoxen Glauben. Der Weg führt mich zu unzähligen Klöstern, Kapellen und Kirchen, und ich staune dabei immer wieder über die jungen Priester, Mönche und Nonnen. Nachwuchssorgen gibt es hier wohl nicht. Am meisten beeindrucken mich die Moldauklöster in der Bukowina, die sowohl innen als auch außen komplett mit Bibelszenen bemalt sind. Ganze Busladungen von Touristen besuchen täglich diese mittelalterlichen UNESCO- Weltkulturerbestätten.
Das Kloster des heiligen Pantelimon in Mestecăniș hingegen wurde erst 1999 gegründet und ist auf über 1200 Metern zwischen urwüchsigem Wald und Almen gelegen nur über eine holprige Piste erreichbar. Der junge Mönch in löchriger Arbeitskutte staunt nicht schlecht, als ich kurz vor Sonnenuntergang atemlos auftauche und darum bitte, mein Zelt zum Schutz vor den Bären im holzumzäunten Innenhof aufschlagen zu dürfen. Gastfreundlich bietet er mir sogar ein Zimmer an, doch ich schlafe lieber unter Gottes freiem Himmel. Die angespitzten Zaunpfosten und mehrere Hofhunde beweisen mir, dass Meister Petz auch von den Klosterbewohnern gefürchtet wird.
Rein technisch ist die Via Transilvanica relativ einfach und führt meist über unbefestigte Straßen, Schotterpisten oder Karrenwege. Allerdings kann schon ein einziger heftiger Regenschauer in Verbindung mit dem Almauftrieb einer Kuhherde diese schönen Wege in eine rutschige Schlammpartie verwandeln, von Traktoren oder Allradfahrzeugen ganz zu schweigen. Aber selbst der fußunfreundliche Bahnschotter einer alten Dampflokomotivenstrecke, ein paar altersschwache Hängebrücken mit morschen Planken oder knöcheltief überflutete Wege sind eher das Salz in der Suppe als ernsthafte Hindernisse. Und Verlaufen ist ohnehin fast ausgeschlossen, denn der Weg ist hervorragend markiert mit orangefarbenem »T« auf weißem Grund und 1400 Meilensteinen, die im Abstand von je einem Kilometer am Wegesrand aufgestellt wurden.
»Für die Markierung suchte ich etwas, das man weder klauen noch zerstören kann. Da fiel mir der Steinbruch um die Ecke ein«, erklärt mir Alin schmunzelnd. Jeder einzelne Meilenstein wiegt 230 Kilogramm und wurde von Kunststudenten gestaltet, die ihrer Kreativität freien Lauf lassen konnten. Mehr oder minder abstrakte Tier- und Aktbilder, geometrische Muster und religiöse Motive, ja sogar die Parole »Forest lives matter« oder röhrende Hirsche haben sie in den Stein gemeißelt und geschliffen. Diese Wegbegleiter sind nicht nur gute Orientierungspunkte, sondern auch ziemlich motivierend: Man ist immer gespannt, was einen wohl in einem Kilometer erwartet.
»Am Anfang gab es eine Kooperation mit einer Kunsthochschule«, erzählt mir Ilie Duta, einer der rumänischen Künstler, die im Sommer auf dem Campus von Tășuleasa Social die Steine bearbeiten. »Aber schon im nächsten Jahr kamen die Studenten begeistert zurück und brachten Freunde mit. Ich arbeite hier bereits im zweiten Sommer für Kost und Logis an der ›längsten Kunstausstellung‹ der Welt.« Selbst ich darf Hand anlegen, denn Ilie Duta hat einen Stein entworfen, auf den Besucher aus aller Herren Länder ihre Wandergrüße gravieren können.
Obwohl es keine nennenswerten technischen Herausforderungen gibt, ist die Via Transilvanica – zumindest psychisch – eine anspruchsvolle Route. Und das liegt nicht nur an der gewaltigen Schere zwischen Arm und Reich, sondern vor allem an der Unberechenbarkeit des Weges, die durch mangelnde Sprachkenntnisse noch verschärft wird. So kann ein Wandertag zur emotionalen Achterbahn werden. Beispiel gefällig?
Der 15. September beginnt für mich idyllisch: Stundenlang wandere ich durch sanftes Hügelland, vorbei an ungarischen Steppenrindern mit imposanten Hörnern, die unter vereinzelten alten Buchen Schatten suchen; durch verträumte Dörfer, in denen mir die Weintrauben und Pflaumen am Straßenrand förmlich in den Mund wachsen; über Feldwege, auf denen lediglich ein paar Pferdefuhrwerke unterwegs sind. Kein einziger kläffender Hütehund trübt dieses ländliche Paradies unter blauem Himmel bei angenehm spätsommerlichen Temperaturen.
Nur mit dem Wasservorrat habe ich mich verkalkuliert. Glücklicherweise erspähe ich an einem einsamen Bauernhof ein älteres Ehepaar, das gerade die Gemüsebeete bearbeitet. »Apa – Wasser«, bitte ich die beiden, halte meine leere Plastikflasche über den Zaun und weise auf den Brunnen im Hof.
Während die Frau immer wieder »Izvor – Quelle!« ruft und sich dabei lächelnd den Bauch reibt, verschwindet ihr Mann ohne meinen Behälter in der Garage und drückt mir wenig später eine Zwei-Liter-Flasche einer bekannten Mineralwassermarke in die Hand. Okay, Brunnen- oder Leitungswasser hätte es auch getan, aber ich bedanke mich beim Abschied aufrichtig für das Geschenk. Die beiden winken mir noch freundlich hinterher, bis ich außer Sichtweite bin.
Ich bin so durstig, dass ich die Flasche hastig öffne und mit tiefen Schlucken trinke. Erst nach einem halben Liter setze ich ab – und spucke sofort angewidert aus! Das Wasser schmeckt entsetzlich nach Benzin und ist bestimmt nicht aus dem Supermarkt! Meine Gedanken überschlagen sich: Wollten die beiden mich vergiften? Wohl kaum! Mir fällt nur eine einzige Erklärung ein: Der alte Mann hat im Dämmerlicht seiner Garage versehentlich Leitungswasser in einen alten Benzinbehälter statt in eine saubere Flasche gefüllt. Ist Benzin krebserregend? Muss ich nun wegen Vergiftung in die Notaufnahme? Ich gerate so sehr in Panik, dass ich mir die Finger in den Hals stecke, um das verunreinigte Wasser komplett zu erbrechen.
Da es hier sowieso weit und breit kein Krankenhaus gibt, wandere ich auf wackligen Beinen weiter nach Dârjiu zu meiner vorab gebuchten Unterkunft. Meine Vermieterin passt mich schon auf der Straße ab, spricht aber ausschließlich Rumänisch. Wild gestikulierend führt sie mich zu ihrer Herberge direkt neben der riesigen Dorfkirche. Dort wartet allerdings kein ruhiges Zimmer auf mich, sondern ein Dutzend Bauarbeiter, die im Garten gerade mehr als nur ein Feierabendbier leeren. Die Vorstellung, meine Benzinvergiftung nun im Kreise angetrunkener Männer in Partylaune auszukurieren, bringt mich fast zum Weinen. Geradezu willenlos lasse ich mich nach einem längeren Palaver, von dem ich natürlich kein Wort verstehe, in einen uralten Dacia bugsieren. Einer der Männer brettert mit mir in den Wald zu einer Baustelle, wo ich mich fast schon frage, ob ich nun gleich an meiner Vergiftung sterbe oder vorher noch vergewaltigt werde.
Doch an diesem Tiefpunkt des Tages löst sich plötzlich alles in Wohlgefallen auf – und ich schäme mich für meine Verdächtigungen. Der Fahrer entpuppt sich als Ehemann meiner Vermieterin und die Baustelle als das im Umbau befindliche Privathaus der Familie. Dort werde ich untergebracht, weil die Herberge mit den Bauarbeitern komplett belegt ist und man mich nicht wegschicken wollte. Und genau das hätten mir die angeheiterten Herren eigentlich ins Deutsche oder Englische übersetzen sollen, aber das Feierabendbier hatte sich anscheinend auf ihre Sprachkenntnisse geschlagen …
Keine halbe Stunde später sitze ich vergnügt am Küchentisch der Familie vor einem dampfenden Teller mit köstlichem Gemüseeintopf und stoße mit einem Glas palinca auf Rumänien an. Schlafen werde ich im ehemaligen Kinderzimmer zwischen Plüschtieren und Playstation, ein weiterer rumänischer Wanderer wird kurzerhand auf dem Sofa im Wohnzimmer einquartiert. Vorher erklärt er mir allerdings noch lachend auf Englisch, dass ich mir meine Vergiftungserscheinungen nur einbilde: »Du hast statt Leitungswasser eigens abgefülltes Heilwasser aus der Quelle von Sângeorz-Băi (Sankt Georgen) geschenkt bekommen. Das schmeckt bestialisch nach Petroleum, soll aber angeblich Wunder bei Verdauungsproblemen wirken. Um dir das zu erklären, hat sich die Frau den Bauch gerieben – nur hast du es nicht verstanden.«
Als ich nach 53 Tagen den südlichen Terminus der Via Transilvanica erreiche, besteht Alin darauf, mich dort persönlich zu empfangen. »Du bist schließlich die erste Frau, die diesen Weg komplett gewandert ist«, erklärt er mir. »Außerdem könnten vielleicht ein oder zwei Journalisten darüber berichten wollen.«
Gemeinsam laufen wir die letzten beiden Kilometer durch Drobeta-Turnu Severin entlang der Donau, die träge im goldenen Licht der Herbstsonne dahinfließt. Der finale Meilenstein befindet sich direkt am Ufer, wo die Römer im Jahr 105 n. Chr. in gerade mal zwei Jahren Bauzeit die 1,1 Kilometer lange Trajansbrücke errichteten. Heute ist davon lediglich ein verfallenes Fundament zu sehen, an dem uns tatsächlich nicht ein oder zwei, sondern gleich ein ganzes Dutzend Journalisten mit Fernsehkameras und Mikrofonen erwartet. Ein Beitrag über meine Tour wird abends sogar in den rumänischen Nachrichten ausgestrahlt. »Was fühlen Sie am Ende dieses langen Weges?«, fragt mich ein Reporter des Senders TVR . Ich muss nicht lange überlegen: »Ich habe mich in dieses Land verliebt.« Und ich glaube, dass es noch vielen Wanderern auf der Via Transilvanica so ergehen wird.
Für wen: