Land:
Deutschland, Tschechien, Polen, Slowakei, Ungarn | Länge:
2700 km
Schwierigkeit:
** | Budget:
€ | Jahreszeit:
Frühjahr bis Herbst
Natur:
** | Kultur:
** | Special Interest:
Kultweg durch Osteuropa
Nachdem ich meinen Vortrag im Kulturhaus des sächsischen Ortes Aue beendet und schon mehr als ein Dutzend Publikumsfragen beantwortet habe, lasse ich meinen Blick abschließend durch den Saal wandern: keine weiteren Wortmeldungen. Ich setze also zur Verabschiedung an, da springt urplötzlich ein Herr aus der ersten Reihe auf und stürmt auf die Bühne. Als er dann auch noch etwas aus der Brusttasche seiner Jacke zieht, werfe ich einen alarmierten Blick zum Veranstalter, der mir bereits zu Hilfe eilt.
»Ich komme von der Interessengemeinschaft Eisenach–Budapest und möchte Ihnen für Ihre Wanderung auf dem Internationalen Bergwanderweg der Freundschaft das rote Ehrenabzeichen verleihen«, erklärt da der vermeintliche Angreifer und überreicht mir strahlend ein kleines Kästchen mit einer Anstecknadel. Einige der Zuschauer klatschen, der Veranstalter zieht sich erleichtert an den Techniktisch zurück, und ich nehme die Auszeichnung gerührt entgegen. Eine Vorwarnung wäre trotzdem nicht verkehrt gewesen. Dabei hätte ich in Aue, das direkt am Weg liegt, eine solche Überraschung eigentlich erahnen können. Denn: »Der EB ist Kult!« So steht es schon auf der Website der Interessengemeinschaft EB , wie der Weg von Eisenach nach Budapest abgekürzt wird. Dort ist auch das alte Reglement abgedruckt, nach dem die vier Stufen dieses Ehrenabzeichens vergeben werden, und man kann die alten Stempelhefte bestellen – alles made in DDR . Das jährliche Treffen der EB- Wanderer findet ebenfalls immer in den neuen Bundesländern statt. Kein Wunder, denn der EB war der einzige grenzüberschreitende Fernwanderweg des ehemaligen Ostblocks.
Die Idee entstand 1980 beim XIV . Internationalen Touristentreffen der Freundschaft in Eisenach und Wilhelmstal, zu dem der Kulturbund der DDR auch Delegationen aus der Tschechoslowakei und der Volksrepublik Polen geladen hatte. Ursprünglich sollte die Route sogar über den Kom-Emine-Weg bis nach Bulgarien ans Schwarze Meer führen. Doch Rumänien hatte nicht genug Geld und Kapazitäten für ein solches Outdoorprojekt, und wegen Titos liberalem Sonderweg wollte man die Strecke nicht durch Jugoslawien verlegen. Also wurde Budapest als Endpunkt gewählt. Ein Bezug zur heiligen Elisabeth, die in Ungarn geboren wurde und als Landgräfin von Thüringen in Eisenach wirkte, war bei der Wahl des Start- und Endpunktes jedoch nicht beabsichtigt. Bereits am 28. Mai 1983 wurde der EB mit einem Festakt auf der Wartburg eröffnet und von den Funktionären auf der ersten Etappe zum Großen Inselsberg »angewandert«.
Die ersten 110 Kilometer des EB eignen sich in der Tat hervorragend zum Einlaufen, denn sie folgen dem ältesten und meistbegangenen Weitwanderweg Deutschlands, dem Rennsteig. Als Rynnestig wurde er bereits in einer Urkunde aus dem Jahr 1330 erwähnt, heute sind pro Jahr um die 100 000 Wanderer darauf unterwegs. Mit »Gut Runst« gibt es sogar einen speziellen Rennsteig-Gruß. Mich persönlich begeistern am meisten die zahlreichen Schutzhütten in Hilton-Qualität, denn selbst im April stapfe ich hier durch verharschten Altschnee.
Nach dem Abstieg vom Großen Inselsberg entdecke ich in der Abenddämmerung direkt am Wegesrand einen verglasten und sogar geöffneten Container, wahrscheinlich das Überbleibsel einer Langlaufveranstaltung. In dieser futuristisch anmutenden Behausung liege ich zwar wie auf dem Präsentierteller, aber das ist immer noch verlockender, als mein Zelt auf Schnee aufbauen zu müssen. Außerdem wird nachts ja wohl niemand durch den verschneiten Wald kommen. Denke ich jedenfalls.
Ich bin gerade sanft eingeschlummert, als um 22 Uhr der Strahl einer Taschenlampe den Container streift. Wahrscheinlich ein verspäteter Wanderer, denke ich nicht sonderlich besorgt, als sich die Schritte bereits wieder entfernen. Um Mitternacht erleuchten plötzlich grelle Autoscheinwerfer meine Behelfsunterkunft. Schlagartig bin ich hellwach und realisiere mit wachsender Panik, dass das Fahrzeug in unmittelbarer Nähe meines Schlafplatzes anhält. Autotüren klappen, Taschenlampen blitzen auf, mit angehaltenem Atem höre ich Fetzen einer gedämpften Unterhaltung. Entsorgt hier jemand illegal Müll? Oder gar eine Leiche? Nach zehn Minuten ist der Spuk vorbei, das Auto verschwindet langsam in die Nacht, und draußen sind weder weggeworfene Müllsäcke noch Körperteile zu sehen. Kaum ist mein Adrenalinspiegel wieder etwas gesunken, taucht schon das nächste Fahrzeug auf! Weitere drei Male halten in dieser Nacht Autofahrer direkt vor meiner Unterkunft, leuchten im Wald mit ihren Taschenlampen herum und verschwinden dann wieder. Entnervt, aber glücklicherweise unentdeckt, verlasse in der Morgendämmerung diesen unheimlichen Ort, der nächtliche Besucher anzieht wie das Licht die Motten.
»Was war denn da los?«, frage ich ein paar Tage später meinen Wanderkollegen Gerhard und erläutere mehrere wilde Theorien über kriminelle Aktivitäten nachts im Wald.
»Das einzig Illegale daran war, dass man ohne Genehmigung nicht einfach im Wald herumfahren darf«, erklärt mir Gerhard lachend, der hauptberuflich als Förster arbeitet. »Das waren höchstwahrscheinlich harmlose Nacht-Geocacher!« Von dieser Art Schnitzeljagd per GPS habe ich schon gehört, aber ich wundere mich: »Wie soll das denn in der Dunkelheit funktionieren?«
»Die Nachtcaches sind mit fluoreszierender Farbe oder Reflektoren markiert, die man eben nur nachts mit einer Taschenlampe entdecken kann«, klärt Gerhard mich auf – und ich muss rückblickend lachen über meine abstrusen Vermutungen.
Nach dem Fall der Mauer 1989 wurde der EB größtenteils in das Europäische Fernwanderwegenetz integriert, nur die 731 Kilometer lange Strecke durch Deutschland wird weiterhin eigenständig mit dem EB- Logo markiert. Nach dem Rennsteig wandere ich zunächst malerisch an der Saale, dann durch das Vogtland und an der tschechischen Grenze entlang bis zum Erz- und Elbsandsteingebirge.
Bei Hřensko führt mich der erste von insgesamt sieben Grenzübergängen direkt in einen Kulturschock. Vor Dutzenden von tschechischen Verkaufsständen warten Gartenzwerge, Buddha- und Marienstatuen, römische Göttinnen und pausbäckige Putten auf Käufer, daneben Restaurants und Imbissbuden auf hungrige Touristen, die in Heerscharen auf dem Weg zum Prebischtor, der größten natürlichen Sandstein-Felsbrücke Europas, vorbeidefilieren. In den nun folgenden Sudeten geht es jedoch meist geruhsamer zu, fast täglich durchwandere ich ein neues »Gebirge«: Böhmische Schweiz, Lausitzer Gebirge, Jeschkengebirge, Isergebirge, Bober-Katzbach-Gebirge, Glatzer Schneegebirge, Altvatergebirge. Diese Bezeichnungen waren vielleicht noch meinen Großeltern geläufig, für mich klingen sie zunächst – passend zur Region – wie »böhmische Dörfer«.
Dreimal schlägt der EB eine große Schlaufe, die allerdings nicht dem Umweg zu Sehenswürdigkeiten geschuldet ist, sondern dem Grenzverlauf. Zu Zeiten des Eisernen Vorhangs konnten die Wanderer nicht wie heute einfach über die grüne Grenze, sondern mussten die weit auseinanderliegenden offiziellen Straßenübergänge benutzen. Probleme beim Übertritt gab es trotzdem, wie der erste EB- Thruhiker im Jahr 1987 erleben durfte. Der Erfurter Kinderarzt Dr. Wolfgang Buchenau, der die Strecke damals in gerade mal 74 Tagen absolvierte, wurde am polnischen Kontrollpunkt Międzylesie von einem misstrauischen Milizionär für einen heimlichen Grenzgänger gehalten, erst nach einem »klärenden Gespräch« auf der Polizeistation durfte er weiterziehen.
Da die erste dieser Schlaufen das berühmte Riesengebirge im Hirschberger Kessel umgeht, verlasse ich auf Anraten des Wanderführers die EB- Route und laufe stattdessen vierzig Kilometer lang direkt auf der tschechisch-polnischen Grenze im gleichnamigen Nationalpark weiter. Hier kann ich mein Trinkwasser aus der reich geschmückten Elbequelle schöpfen und die 1603 Meter hohe Schneekoppe besteigen, den höchsten Berg Tschechiens und des Sudentengebirges. Dabei stoße ich auf zwei ältere Herren, die sich gerade in breitem Sächsisch über die spektakuläre Aussicht unterhalten.
»Können Sie bitte mal ein Foto von mir machen?«, frage ich die beiden spontan angesichts des tollen Hintergrundmotivs, und wir kommen ins Plauschen. Die Rentner sind schon seit DDR- Zeiten regelmäßig auf dem Trail unterwegs, früher allerdings zu dritt. »Aber dann ist unser Freund viel zu früh an Krebs verstorben«, erzählen sie und bieten mir zu meiner Überraschung ein Stück Streuselkuchen an. »Das war sein Lieblingsgebäck, das wir auf allen Touren dabeihatten. Jetzt essen wir immer ein Stück zu seinem Andenken. Wollen Sie mal probieren?« Gerührt nehme ich das Angebot an. Kauend legen wir noch eine Gedenkminute ein, bevor wir in unterschiedliche Richtungen weiterziehen.
Das Riesengebirge erhebt sich bis weit über die Baumgrenze. Mit seinen steil abfallenden Gletscherkaren, den Bergseen und Felsenmeeren fühle ich mich fast wie im Hochgebirge. Doch die Sudeten sind genau wie die nachfolgenden Beskiden ein Mittelgebirge, große technische Herausforderungen für den Wanderer gibt es hier nicht. An sonnigen Wochenenden begegne ich daher auch wahren Heerscharen von Touristen, die auf gut ausgebauten Pfaden Berge wie die beliebte Schneekoppe oder den Altvater stürmen. Die Kammwege sind hervorragend markiert, selbst die schwer zu begehenden Blockfelder werden auf Wegen aus kunstvoll geschichteten Steinen gequert. Nur bei Gewitter möchte ich nicht auf den teilweise sehr ausgesetzten Bergrücken laufen, aber davon bleibe ich bei dieser Tour glücklicherweise verschont.
Nach der 400 Kilometer langen Strecke durch die Sudeten erreiche ich an der Mährischen Pforte den Übergang in die Beskiden. Doch bevor ich die in Angriff nehme, habe ich am 9. Juli etwas zu feiern: meinen fünfzigsten Geburtstag! Da im Sommer nun mal beste Wandersaison ist, habe ich diesen Tag seit Beginn meiner Outdoorlaufbahn fast immer auf irgendeinem Trail gefeiert, dieses Mal in dem Ort Hradec nad Moravicí, der zufälligerweise sogar die Mitte des EB markiert. Hradec, auf Deutsch Grätz, und das nahe gelegene Opava, zu Deutsch Troppau, symbolisieren besonders gut die wechselhafte Geschichte dieser Region, die mir der Besitzer meiner schicken Unterkunft begeistert erzählt: »Troppau gehörte seit dem 16. Jahrhundert zu Schlesien und damit zum Habsburgischen Österreich. Mit der Gründung der Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Stadt 1918/19 tschechisch, kam aber 1938 unter deutsche Verwaltung. Nach der Befreiung durch die sowjetischen Truppen wurde die deutschsprachige Bevölkerung vertrieben und das Gebiet wieder in die Tschechoslowakei eingegliedert, heute gehört es zu Tschechien.«
Als ich an meinem Ruhetag durch das idyllische Städtchen bummele, erinnern einige deutsche Schriftzüge an die Vergangenheit. Viele der Häuser sind auf Hochglanz renoviert, andere Gebäude hingegen dem Verfall nahe. In einem schicken Restaurant genehmige ich mir ein dreigängiges Geburtstagsmenü und beobachte auf der Sonnenterrasse das geschäftige Treiben auf den Straßen der Universitätsstadt. Spätestens beim Cocktail in der gegenüberliegenden Bar stelle ich wieder mal fest: »Life is good – das Leben ist schön!«
Ich komme dank der kleinen, aber feinen trail community des EB sogar noch zu einer nachträglichen Geburtstagsfeier und einem Überraschungsgeschenk. Mit Jana, genau wie ich Solowanderin, verabrede ich mich in der Bergbaude am 1129 Meter hohen Radhošť, zu Deutsch Radegast, benannt nach dem slawischen Kriegs- und Siegesgott. Das Hotel ist ein traditioneller Holzbau mit leicht antiquierten Zimmern, doch das Essen im Restaurant ist hervorragend. Ich ordere gleich zwei Nachtische, man wird ja nur einmal fünfzig. Jana ist aufgrund der günstigen Preise in Osteuropa wie die meisten EB- Wanderer ohne Zelt unterwegs, erschwingliche Unterkünfte gibt es an jeder Etappe. Ich bevorzuge wie immer Camping, bin angesichts ihrer lustigen und abenteuerlichen Erlebnisse in den unterschiedlichsten Herbergen allerdings fast ein wenig neidisch.
Kurz darauf kontaktieren mich Anne und Ulli, die einzigen anderen Wanderer in dieser Saison: »Durch deine Posts haben wir von deinem Geburtstag erfahren und wollen dir eine kleine Überraschung bereiten. Wenn du in der Slowakei durch Bardejov kommst, such bitte die Pension Hradby auf. Dort ist ein kleines Geschenk hinterlegt. Der Wirt wohnt im Haus, spricht englisch und weiß Bescheid.«
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen! Wenige Tage später halte ich einen liebevoll bemalten und verschnürten Karton in den Händen. Auf die Vorderseite hat Ulli den Marktplatz von Bardejov gezeichnet, dessen Altstadt sogar UNESCO- Weltkulturerbe ist. Drinnen befinden sich alle möglichen slowakischen Leckereien, von dem Cola-Äquivalent Kofola bis zur einheimischen studentska- Schokolade mit Erdnüssen und Himbeergelee. Anne und Ulli treffe ich später nicht nur auf dem Trail, wir halten auch nach Abschluss unserer Wanderungen weiter Kontakt und feiern im Folgejahr gemeinsam mit Jana in Erfurt eine Thruhiker-Party, stilecht für den EB mit Thüringer Bratwurst und Rostbrätel.
Das Etappen-Highlight in den nun folgenden Beskiden ist der Nationalpark Malá Fatra. Schon beim unglaublich steilen Aufstieg aus dem Ort Strečno bin ich begeistert vom Blick auf den Domašín-Mäander, eine 180-Grad-Schlaufe des Flusses Waag. Weiter geht es mit einer atemberaubenden Gratwanderung mit Rundumpanorama über alle Gipfel, höchster Berg ist der 1709 Meter hohe Veľký Kriváň. Doch auf den beliebten Kammwegen tummeln sich nicht nur Wanderer und Mountainbiker …
Weil ich am nächsten Abend – schon am Rande der Hohen Tatra – partout kein sichtgeschütztes Wäldchen finden kann, schlage ich mein Zelt notgedrungen direkt auf dem Bergrücken inmitten von Blaubeersträuchern auf. Bei Sonnenaufgang werde ich äußerst unsanft geweckt, als ein Jeep auf dem Kammweg an mir vorbeibrettert. Ein Förster, der mich jetzt gleich zu einer Geldstrafe wegen illegalen Wildzeltens verdonnern wird? Oder gar ein Jäger auf der Pirsch? Ich lausche noch in die morgendliche Stille hinein, als plötzlich ein Donnerschlag mein Zelt wackeln lässt. Das klingt nicht nach Jagdgewehr, sondern eher nach Kanone!
Alarmiert werfe ich einen Blick hinaus und werde von zwei Männern mit einem freundlichen »Dobrý deň – Guten Tag!« begrüßt. Der Jeep parkt in ein paar Hundert Metern Entfernung, und mehrere Männer, Frauen und Kinder schwärmen gerade in alle Richtungen aus. Keiner von ihnen interessiert sich sonderlich für mich, sie sind voll konzentriert auf die Blaubeeren, die sie routiniert mit Beerenkämmen von den Büschen ziehen. Obwohl wir uns außerhalb des Nationalparks befinden, vermute ich, dass die Beerensammlertruppe ähnlich gesetzeswidrig unterwegs ist wie ich – der Jeep hat nämlich kein Kennzeichen.
Doch was sollen die Donnerschläge, die nun schon wieder den Boden zum Beben bringen? Als ich in Windeseile mein Zelt zusammenpacke, dämmert es mir: Hier in der Hohen Tatra, im Grenzgebiet zwischen der Slowakei und Polen, leben geschätzt hundert Bären. Einige der Tiere haben ihre natürliche Scheu vor Menschen verloren und wagen sich bis in die Städte vor, um in den Mülltonnen nach Futter zu suchen. In manchen Orten geht die Polizei sogar auf »Bärenpatrouille« und verjagt die Tiere mit Warnschüssen und Sirenengeheul. Um Meister Petz nicht zu überraschen und damit einen Angriff zu provozieren, haben die Beerensammler aber wohl eher Chinaböller im Einsatz. Nach meinem überstürzten Aufbruch begegne ich zwar keinem Bären, dafür liegt mitten auf dem Weg eine Kreuzotter. Wir ignorieren uns einfach gegenseitig.
Die Wandermetropole der Beskiden ist das polnische Zakopane, in das ich nun nach meinem fünften Grenzübergang gelange. Jetzt in der Hochsaison schieben sich Massen von Touristen durch die Fußgängerzone, wo sich Outdoorläden an Souvenirshops und Eisdielen reihen. Die zahlreichen Skilifte in der Umgebung lassen ahnen, dass nicht nur im Sommer viel los ist. An Verkaufsständen wird Oscypek angeboten, ein geräucherter Käse aus Schafsmilch, der für eine besonders dekorative Form in Modeln gepresst wird und sich hervorragend als Wanderproviant eignet. Mir wird der Trubel bald zu viel, und ich wandere nach einem Ruhetag weiter. Der EB führt mich jedoch nicht durch die Hohe Tatra, das flächenmäßig kleinste Hochgebirge der Welt, sondern streift bloß das Almenvorland, das Podhale.
Danach schlägt der Weg eine letzte 195 Kilometer lange Schlaufe, um am Duklapass wieder von Polen in die Slowakei zu wechseln; heutzutage kann man diesen riesigen Umweg auf dem Europäischen Fernwanderweg E3 auf gut fünfzig Kilometern abkürzen. Im für mich unaussprechlichen Sátoraljaújhely erreiche ich dann das fünfte Land am EB , Ungarn. Hier läuft der EB mit einem anderen Kultweg zusammen, dem Országos Kéktúra, übersetzt »Nationaler Blauer Weg«. Auf knapp 1100 Kilometern durchzieht er hervorragend markiert den gesamten Norden Ungarns, der EB folgt ihm aber nur bis zur Hälfte nach Budapest.
Auf diesen letzten gut 550 Kilometern wird es für EB- Wanderer bergtechnisch sehr gemütlich. Die Route führt zwar über den höchsten Gipfel des Landes, doch der Kékes im Mátra-Gebirge ist lediglich 1014 Meter hoch. Neben der Gipfelmarkierung gibt es daher auch keine Gedenktafel für verunglückte Bergsteiger, sondern für Motorradfahrer. Freunde und Familien der Unfalltoten haben zum Andenken Motorradhelme und -reifen, bemalte Steine und vor allem jede Menge Fotos niedergelegt. Nachdenklich blicke ich in die strahlend lachenden Gesichter dieser viel zu früh verstorbenen jungen Männer.
Die fehlende Alpinkulisse wird in den ungarischen Mittelgebirgen Mátra und Bükk durch wunderschöne alte Buchenwälder wettgemacht. Nirgendwo sonst in Europa habe ich so viel Wild gesehen wie in Ungarn: Rot- und Damwild, Wildschweine und vor allem Mufflons laufen mir täglich über den Weg. Kein Wunder, dass mir eines Morgens zwei Jäger mit Filzhut und Schrotflinte begegnen, die sich erstaunlicherweise auf Deutsch unterhalten. Ungarn ist ein beliebtes Ziel für Jagdtouristen, auch hier handelt es sich um einen deutschen Jäger mit dem Revierförster als Führer. Angesichts der frühen Uhrzeit ist es ziemlich offensichtlich, dass ich im Wald übernachtet habe. Deshalb frage ich den einheimischen Forstbeamten ganz direkt: »Ist Wildzelten wirklich erlaubt?« Zu meiner großen Freude bestätigt er, was ich schon in meinem Wanderführer gelesen habe: »Ja, für maximal 24 Stunden darf man ganz offiziell im Wald zelten, ausgenommen natürlich in Schutzgebieten. Allerdings ist im Sommer offenes Feuer streng verboten.« Spätestens jetzt zählt Ungarn zu meinen liebsten Wanderländern!
Als ich am nächsten Tag an einem eingezäunten Freigelände vorbeiwandere, traue ich meinen Augen nicht. In knöcheltiefem Schlamm suhlt sich ein Dutzend Tiere, die wie eine Kreuzung aus Schaf und Schwein aussehen. Eine kurze Internetrecherche ergibt, dass es sich tatsächlich um sogenannte Wollschweine oder Mangalica handelt, mit bis zu siebzig Prozent Fettanteil an der Gesamtkörpermasse eine der fettesten und vor allem schmackhaftesten Arten der Welt. Aufgrund ihres Haarkleides und der dicken Speckschicht müssen sie nicht im Stall gehalten werden, sondern können den ganzen Winter über draußen verbringen. In den 1970er-Jahren schon fast ausgestorben, erfreut sich diese ungarische Schweinerasse heute wieder großer Beliebtheit bei Gourmets.
In Ungarn liegen außerdem gleich zwei UNESCO- Weltkultur- und -Naturerbestätten am Weg. Das Dorf Hollókő ist eine Art lebendiges Freilichtmuseum, denn die 58 weiß getünchten Walmdachhäuser werden noch immer bewohnt. Gut, dass ich nicht im April hier bin, denn zu Ostern übergießen die Junggesellen des Dorfes die Mädchen mit einem Kübel Wasser – sehr zur Belustigung der Touristen. Im Aggtelek-Nationalpark geht es dafür unter die Erde. 280 Höhlen gibt es, die 25 Kilometer lange Baradla-Höhle erstreckt sich sogar bis in die Slowakei. Die Besichtigung führt mich unter anderem in die riesige »Konzerthalle«, in der wegen der hervorragenden Akustik Musikveranstaltungen zwischen den Tropfsteingebilden stattfinden. Dazu sollte man sich allerdings warm anziehen, denn die Temperatur beträgt das ganze Jahr nur um die zehn Grad.
Mich persönlich begeistern allerdings am meisten die Thermalbäder. In Sárospatak, Eger und zum Abschluss in Budapest kann ich meine müden Knochen im heißen Wasser ausstrecken und dabei die Einheimischen beobachten, die auf schwimmenden Brettern Schach spielen.
Auf den letzten Etappen des EB steht die Donau im Mittelpunkt, die bei Visegrád mit der Fähre gequert wird. Und dann endet der Weg ganz unspektakulär in einem Außenbezirk von Budapest an der Endhaltestelle der Kindereisenbahn, die bis auf den Lokführer ausschließlich von zehn- bis vierzehnjährigen Kindern ehrenamtlich betrieben wird. Nur ein unscheinbares Schild mit einer Karte, gestiftet von einer deutschen Wandergruppe, verweist auf den EB .
Warum sollte man nun ausgerechnet diesen Weg wandern? Die Website des EB gibt gleich mehrere Antworten: wunderbare Landschaft, günstige Preise, keine Kommerzialisierung, Gemeinschaft der Mitwanderer, historische Bedeutung. Und das stimmt auch alles. Doch am besten trifft es für mich immer noch der Satz: Der EB ist Kult!
Für wen: