Land:
Chile, Argentinien | Länge:
3200 km
Schwierigkeit:
*** | Budget:
€€€ | Jahreszeit:
Winter
Natur:
*** | Kultur:
* | Special Interest:
Wildnisabenteuer von Vulkanwüste bis Gletscher
Nach gerade mal zwei Stunden auf dem Greater Patagonian Trail (GPT ) verfluche ich den Weg zum ersten Mal. Mit einer Woche Proviant im schweren Rucksack klettere ich durch dichten Bambusdschungel über umgestürzte Baumriesen, als plötzlich meine Augen jucken und meine Nase trieft. Alarmiert betrachte ich mit meiner Smartphone-Kamera mein fast komplett zugeschwollenes rechtes Auge und stelle fest: Ich bin wohl heftig allergisch gegen den Bambusblütenstaub!
Vier Stunden und 1500 Höhenmeter weiter sind die Allergieattacke und der steile Aufstieg über überwucherte Pfade und Altschneefelder bereits wieder vergessen. Der atemberaubende Ausblick auf die schneebedeckte Vulkanlandschaft des Antillanca verwandelt mein Stimmungstief in pure Euphorie.
Doch schon sechzig Minuten später schickt ein unpassierbarer Felsausbruch meine Gefühle erneut auf Talfahrt. Beim Versuch, das Hindernis zu umgehen, rutsche ich auf einem steilen Altschneefeld unkontrolliert mehrere Meter in die Tiefe. Als ich mit wackeligen Knien gerade noch rechtzeitig zum Stehen komme, hat der verharschte Schnee meine Hände aufgeschürft und meine Finger in Eisklumpen verwandelt. Auf den letzten hundert Metern bis zum ersten Zeltplatz dieser Tour stürze ich aus purer Erschöpfung weitere zwei Male im steinigen Gelände und reiße mir die Hose auf. Nach jämmerlichen 24 Tageskilometern sinke ich am Ende meiner Kräfte auf meine Isomatte und stelle fest, dass der GPT kein Trail wie jeder andere ist.
Der Schöpfer des Greater Patagonian Trail, der Deutsche Jan Dudeck, erklärt in seinem Trail Manual sogar ganz explizit: Der GPT ist kein Wanderweg! Er ist ein informelles Routennetzwerk aus cross-country -Abschnitten, Wegen und Straßen, die für alle möglichen Zwecke angelegt wurden, nur nicht zum Wandern. Die Idee für den GPT kam dem outdoorbegeisterten Ingenieur, als er für mehrere Jahre in Chile lebte und in diesem riesigen Land außer den bekannten Treks im weltberühmten Nationalpark Torres del Paine kaum Wanderwege finden konnte. Seine chilenische Freundin, eine begeisterte Reiterin, war jedoch oft zu Pferd auf alten Viehrouten unterwegs. Diese informellen Strecken sind zwar nicht auf offiziellen Landkarten verzeichnet, aber auf den Satellitenaufnahmen von Google Earth gut zu erkennen. Dudeck versuchte also am Computer, diese Pfade zu einer durchgängigen Route durch ganz Patagonien zu verknüpfen. Wo es aufgrund des dichten Waldes keine gangbaren Wege gibt, wich er auf Flüsse und Seen aus. Im Sommer 2013/14 wanderte und paddelte er zusammen mit seiner späteren Frau Meylin erstmals den per Satellitenbild geplanten Trail, damals noch ohne jegliche Erfahrung mit dem Packraft, einem leichten Schlauchboot für die Wasserpassagen.
Mittlerweile umfasst die Hauptroute des GPT gut 3000 Kilometer von den Außenbezirken der Hauptstadt Santiago de Chile bis zum Campo de Hielo Sur, dem größten Eisfeld Patagoniens. Dazu kommen eine Verlängerung nach Feuerland und Dutzende von Varianten, sodass das komplette Routennetzwerk aus 20 000 Kilometern besteht. 86 Prozent der Hauptroute verläuft in Chile, 14 Prozent in Argentinien. Während man im nördlichen Teil, vornehmlich Halbwüste und Vulkangebiete, gut allein zu Fuß durchkommt, benötigt man im dichten Regenwald und in den Gletschergebieten des Südens zwingend ein Packraft.
Ich habe für meine Tour allerdings keines dabei und bin nun am Lago Todos los Santos im Nationalpark Vicente Pérez Rosales auf den Bootstransfer eines Siedlers angewiesen. Der See ist in etwa so groß wie der Lago Maggiore in Italien und von dichtem valdivianischen Regenwald umgeben. Mit dem Bus oder Auto kann er nur über eine einzige Straße am Westufer erreicht werden, ich jedoch komme aus dem Süden.
Chile ist kein billiges Land, fast hundert Euro kostet die Bootsfahrt, zahlbar per Vorkasse. »Lauf schon mal voraus bis ans Ufer. Ich komme dann mit dem Pferd nach«, erklärt mir Rudy Yefy an seiner Hütte mitten im Regenwald, nachdem ich ihm das Geld übergeben habe. Verlaufen kann ich mich dabei nicht, denn der einzige Weg ist durch Erosion streckenweise bis zu zwei Meter tief in die Erde eingeschnitten. Hier regnet es dreimal so viel wie in Deutschland, sodass ich mehrfach knöcheltief im Schlamm versinke. Beim Furten einiger Bäche und Flüsse wird der Dreck immerhin wieder aus Schuhen und Socken gespült. Drei Stunden brauche ich zu Fuß für die sechs Kilometer von Yefys Hütte bis zum Strand. Der alte Siedler überholt mich unterwegs zu Pferd, doch am See finde ich zunächst niemanden vor. Erst nach einer halben Stunde nervösen Wartens nähert sich ein kleines Motorboot. Statt Cowboyhut und Poncho trägt Yefy jetzt Rettungsweste und Sonnenbrille.
»Ich musste noch mein Pferd parken und das Boot aus seinem Versteck holen«, erklärt er mir, als er geschickt Benzin aus einem Kanister in den Außenbordmotor nachfüllt. Erst jetzt stelle ich fest, dass an seiner linken Hand alle drei mittleren Finger fehlen, wahrscheinlich ein Arbeitsunfall. Das bringt mich ins Grübeln.
»Wie weit ist es denn von Ihrem Haus bis in die nächste Stadt zum Einkaufen oder ins Krankenhaus?«, frage ich vorsichtig beim Einstieg in das schwankende Boot. Als Antwort bekomme ich keine Kilometer-, sondern eine Stundenangabe: »Wenn das Wetter mitspielt, zwei Stunden mit dem Pferd zum See, dann mindestens eine Stunde mit meinem Boot zur Straße und von dort mehrere Stunden mit dem Bus in die Stadt.« Als wir durch die mannshohen Wellen ordentlich durchgeschüttelt am anderen Ufer anlegen, komme ich mir vor wie ein Weichei. In Deutschland kann ich bei jedem Wehwehchen einfach zum Arzt gehen oder sogar den Krankenwagen rufen, während diese Siedler im Notfall komplett auf sich allein gestellt sind.
Doña Luisa, in deren Küche ich einige Tage später sitze, braucht zu Pferd sogar anderthalb Tage bis zur nächsten Einkaufsmöglichkeit! Ihr Holzhaus liegt am Ende des Cochamó-Tals, das aufgrund der schroff aufragenden Granitfelsen Yosemite Chiles genannt wird und bei Trekkern sehr beliebt ist. Die gut sechzigjährige Siedlerin verdient sich ein kleines Zubrot, indem sie hungrige Wanderer wie mich auf ihrem Holzfeuerherd bekocht. Fleisch und Gemüse für den Eintopf kommen direkt von den Weiden rund ums Haus und aus dem Gemüsegarten – also reinste Bioqualität. Dazu stellt sie mir selbst gebackenes Brot und selbst gestampfte Butter auf den Holztisch mit der Wachstuchdecke. Stromanschluss gibt es nicht. Mit den ein paar Kilometer entfernten Nachbarn kommuniziert sie per Funkgerät. Auch ich hatte während der letzten drei Tage keinerlei Mobilfunkverbindung, ja, sogar mein Satellitenmessenger für den Notfall hatte unter dem dichten Blätterdach des valdivianischen Regenwaldes keinen Empfang.
Im südlichen Teil des Trails treffe ich noch in den abgelegensten Orten auf Siedler wie Doña Luisa. Die colonos kamen überwiegend im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Europa nach Chile, um »Heimat zu machen«, wie man hacer patria aus dem Spanischen übersetzen kann. Nach heutigen ökologischen Maßstäben gingen sie dabei äußerst brutal vor: Anstatt kleine Parzellen zu roden, steckten sie riesige Waldgebiete in Brand und säten dort nach ein paar Jahren Gras für Kühe, Schafe und Ziegen. Auch die Pferde von Doña Luisa grasen noch immer zwischen umgestürzten Baumriesen und angekohlten Stämmen. In dem harschen Klima Patagoniens ist extensiver Ackerbau nicht möglich, aber die Siedler pflanzten rund um ihre Hütten Obst und Gemüse für den Eigenbedarf an. Nach einigen Jahren Bewirtschaftung erhielten sie automatisch das Grundrecht für das so urbar gemachte Land, ohne einen Kaufpreis zahlen zu müssen. Doch so fernab der Zivilisation ist das Leben hart. Die junge Generation ist in die Städte abgewandert, in den abgeschiedenen Gehöften treffe ich fast nur auf die Generation 60 plus.
Im trockeneren und unbewaldeten Norden hingegen begegne ich vor allem Cowboys, in Argentinien gauchos und in Chile arrieros genannt. Im Sommer leben sie monatelang von der Außenwelt abgeschnitten in behelfsmäßigen Hütten, den puestos, und beaufsichtigen zu Pferd das Vieh. Die arrieros sind nicht immer Nachfahren der europäischen Auswanderer, sondern stammen im Nordwesten Patagoniens oft aus dem indigenen Volk der Pehuenche. Dieser Name leitet sich von der indianischen Bezeichnung für die Chilenische Araukarie oder Andentanne ab, die im Englischen auch monkey puzzle tree genannt wird – angeblich, weil es wohl selbst für einen Affen eine unlösbare Aufgabe wäre, an ihren dachziegelförmig angeordneten, dolchartigen Blättern hochzuklettern. Dabei gibt es in Chile gar keine Affen … Mich erinnern diese urzeitlich aussehenden Bäume eher an eine Filmkulisse für »Jurassic Park«.
Die Pehuenche leben zusammen mit ihren Familien in den abgelegenen puestos, die weißen arrieros sind dagegen allein und sehen in einer vorbeiwandernden Ausländerin eine willkommene Abwechslung. Ständig werde ich zu Mate-Tee oder gar einem Stück Fleisch vom Grill eingeladen und neugierig ausgefragt. Spanischkenntnisse sind dabei unabdingbar, niemand hier spricht Englisch oder eine andere Fremdsprache.
Meinen Proviant besorge ich mir hauptsächlich in den chilenischen Supermärkten der größeren Orte, deren Angebot sich kaum von dem in den USA oder Europa unterscheidet. Auch das Preisniveau ist ähnlich oder bei importierten Produkten sogar deutlich höher. Hochwertige Schokoladensorten liegen zum Diebstahlschutz oft in verschlossenen Plastikboxen aus, die erst an der Kasse entfernt werden. Als Reminiszenz an die vielen deutschsprachigen Siedler trägt eine der bekanntesten chilenischen Marken sogar den Namen »Sahne Nuss«. Und selbst beim üppigen Tortenangebot in den Konditoreien merkt man den deutschen Einfluss: Wörter wie »Kuchen« und »Estrudel« wurden in den chilenischen Wortschatz übernommen.
In den Tante-Emma-Läden auf dem Land sucht man solche Luxusprodukte vergeblich. Davor parken gesattelte Pferde mit riesigen Packtaschen neben rostigen Pick-ups. Oft ist so ein »Laden« einfach nur ein abgetrennter Raum in einer Holzhütte mit ein paar Regalen, ein Taschenrechner dient als Kasse. Frisches Obst und Gemüse, Milchprodukte oder Eier werden selten angeboten, da sich die Landbevölkerung damit selbst versorgt. Stattdessen gibt es Hülsenfrüchte und Reis in Großpackungen. Wegen der kürzeren Kochzeit sind Nudeln allerdings besser geeignet für eine Trekkingtour, genau wie harina tostada, ein Standardgericht der Siedler. Wie der Name schon sagt, ist das nichts anderes als geröstetes Mehl, das mit heißem oder kaltem Wasser angerührt wird. Freundlich ausgedrückt schmeckt es nach gerösteten Cornflakes. Mich erinnert das Gemisch sowohl optisch als auch geschmacklich eher an abgestandenen Tapetenkleister. Wer freundlich nachfragt, kann manchmal direkt bei den Siedlern oder arrieros am Weg Proviant kaufen. Bei Frischfleisch ist die kleinste angebotene Einheit allerdings eine halbe Ziege.
Aus der Natur kann man sich zur richtigen Jahreszeit ebenfalls Zusatzverpflegung holen. Geschält und gekocht sind die Samen der Araukarie sogar ein Hauptnahrungsmittel der Pehuenche. Die riesigen Zapfen werden mit dem Lasso geerntet und enthalten je 100 bis 200 dieser piñones, genug für eine ganze Mahlzeit. Nalca, auch Chilenischer Rhabarber genannt, sieht dem hiesigen Rhabarber nur ähnlich, ist aber nicht mit ihm verwandt. Die jungen Blattstiele kann man roh oder gekocht essen, in den Städten werden sie oft von Straßenverkäufern als Snack angeboten. Die bis zu zwei Meter großen Nalca- Blätter wuchern in Chile fast dschungelartig entlang von Flüssen und wären bestimmt auch im heimischen Garten sehr dekorativ, wäre die Einfuhr in die EU nicht strikt verboten.
Das gewaltige Routennetzwerk des GPT wird mittlerweile nicht mehr nur von Dudeck allein weiterentwickelt. Die etwa hundert Wanderer pro Jahr geben zum einen Feedback über den aktuellen Zustand der Hauptroute und verifizieren zum anderen die Begehbarkeit der zahlreichen Varianten. Auch ich erforsche einen solchen alternativen Zugang zum Nationalpark Puyehue, dabei hätten mich schon die Warnungen der Einheimischen stutzig machen sollen. »Hier gibt es keinen Wanderweg«, erklären sie mir eindringlich, als ich den Busfahrer bitte, mich an einer Abzweigung von der Hauptstraße abzusetzen. Dabei konnte ich doch auf den Satellitenbildern einen breiten Fahrweg ausmachen, der immer schmaler werdend direkt hinauf zum Vulkanplateau im Nationalpark führt. Erst als der Bus weitergefahren ist, sehe ich, was auf Google Earth nicht erkennbar war: Das Land rechts und links dieses Fahrweges ist eingezäunt und in regelmäßigen Abständen als Privatgrundstück gekennzeichnet. Die weidenden Kühe ignorieren mich gänzlich, aber mehrere entgegenkommende Autofahrer winken mir freundlich zu. Sind das Landarbeiter auf dem Nachhauseweg? Oder Touristen aus dem Nationalpark? Ich wandere auf dem breiten Fahrweg in die Abenddämmerung hinein – und werde nach vier Kilometern abrupt durch eine Schranke gestoppt. Zwei martialisch gekleidete Sicherheitsmänner treten breit grinsend aus einem Wachhäuschen und verkünden: »Hier geht es nicht weiter. Privatgrundstück!«
»Aber es kommen doch ständig Leute raus!«, protestiere ich ungläubig.
»Die waren vom Eigentümer eingeladen«, erklären sie mir und setzen angesichts meines Wanderoutfits spöttisch hinzu: »Wir haben dich schon von Weitem kommen sehen, dich aber weiterlaufen lassen, weil du ja auch ein Gast hättest sein können.«
»Kann ich denn wenigstens zelten?«, wage ich wütend einen letzten Versuch, denn die Sonne geht bereits unter.
»Auf keinen Fall! Du musst erst die vier Kilometer zur Hauptstraße zurücklaufen«, erklären sie, und ich muss den Impuls unterdrücken, ihnen ein paar deutsche Schimpfwörter an den Kopf zu werfen. Das wäre erstens sinnlos, und zweitens führen die beiden lediglich die Anweisungen ihres Arbeitgebers aus, wohl einer der wenigen Superreichen des Landes. In Chile verdient das reichste ein Prozent der Bevölkerung mehr als ein Viertel vom Gesamteinkommen, in Deutschland ist es weniger als ein Achtel. Ein beliebtes Statussymbol dieser Superreichen ist ein möglichst großer Landbesitz, der als reines Urlaubsziel die meiste Zeit leer steht und von einem Verwalter betreut wird. Ich werde in den drei Monaten meiner Tour mehrere andere Großgrundstücke dieser Art völlig unentdeckt durchqueren – nur dieses Mal habe ich leider Pech gehabt. Resigniert drehe ich um. Es ist fast Mitternacht, als ich endlich einen Zeltplatz außerhalb des eingezäunten Grundstücks finde.
Aufgrund meines Berichts kennzeichnet Dudeck diese Routenvariante später als exit only, also als reine Ausstiegsroute im Notfall. Denn aus der anderen Richtung hätten mich die Sicherheitsleute ja bestenfalls zur Straße hinauseskortiert, und da will man dann ja sowieso hin.
Wasserkraftanlagen und Minen stellen mich leider vor ähnliche Probleme. Eine Etappe des GPT führt entlang der argentinisch-chilenischen Grenze durch das Vulkangebiet Laguna del Maule, wo es auf 500 Quadratkilometern 130 Spaltenvulkane gibt. Der gleichnamige tiefblaue See befindet sich auf einer Höhe von 2160 Metern in einer zwanzig Kilometer breiten Vulkancaldera. Nach dem extrem steilen Abstieg vom baumlosen Plateau kann ich schon die heiß ersehnte Landstraße sehen, von wo aus ich nach einer Woche Wildnis wieder zurück in die Zivilisation trampen will. Doch die staubige Zugangsstraße ist überraschenderweise mit einem imposanten Tor verschlossen und das Gelände weiträumig mit Stacheldrahtzäunen abgesperrt. Ich überlege gerade, wo ich am besten drunter durchkriechen könnte, als zu allem Unglück auch noch ein Wachposten aus der Hütte an der Einfahrt kommt. Ich setze mein freundlichstes Lächeln auf und bitte um Durchlass.
»Ich darf das Tor nicht öffnen«, erklärt mir der junge Mann mitleidig. »Hier wird ein neues Wasserkraftwerk gebaut. Wenn ich dich durchlasse, bekomme ich Ärger, weil die Überwachungskameras alles aufzeichnen.«
»Aber ich will doch nur raus aus dem Gelände«, flehe ich mit knurrendem Magen. Innerlich verfluche ich den GPT mit seinen ständigen Problemen zum hundertsten Mal, als es wie so oft auf diesem Trail zu einer unerwarteten Wendung kommt.
»Komm einfach mit hinter die Hütte und geh am Fluss entlang zur Straße«, meint der Wachposten und geht voran. »Dort reichen die Videokameras nicht hin. Wir lassen da auch immer die Angler rein und raus.«
Überrascht und erleichtert schlängele ich mich unter den wohlwollenden Blicken des Sicherheitsmannes an einem Zaunpfosten vorbei und stehe wenige Minuten später an der Landstraße. Schon das fünfte Auto hält an und nimmt mich mit. Keine zwei Stunden nach dieser kritischen Begegnung plansche ich entspannt in einem Pool des Thermalbades El Medano und finde, dass es kaum einen schöneren Trail als den GPT gibt.
Dieselbe Etappe beschert mir außerdem zwei Begegnungen mit chilenischen Carabineros, die auf Pferden die Grenze zu Argentinien patrouillieren. Nur ein unscheinbarer Trampelpfad führt zu ihrem Posten, einer kleinen, weiß-grün gestrichenen Holzhütte. Ich wäre um ein Haar daran vorbeigelaufen, wenn mir in der ansonsten baumlosen Flussebene nicht die drum herum gepflanzten hoch aufragenden Pappeln aufgefallen wären.
»Buenos días!«, begrüße ich die Männer, die in Shorts, T- Shirt und Badelatschen gerade an einem zusammengezimmerten Holztisch sitzen und in aller Ruhe frühstücken. Ein zwischen Hütte und Bäumen gespanntes Netz spendet Schatten. Wie üblich ernte ich bei meinem Überraschungsbesuch erst mal erstaunte Blicke, werde aber sofort zum Frühstück und einem eingehenden Plausch eingeladen. Die Grenzposten sind in der Regel mit sechs Personen bemannt, meist Polizisten aus der Stadt, die sich freiwillig für eine einmonatige Schicht im Patrouillendienst melden – und das nicht nur, weil es dafür eine Gehaltszulage gibt. »Hier können wir gemütlich fischen und Kaninchen jagen, oder wir kaufen den arrieros ein paar Ziegen ab«, erklären sie mir lachend. Den restlichen Proviant für ihren vierwöchigen Aufenthalt im Hinterland müssen sie allerdings selbst mitbringen: »Der Staat zahlt bloß das Futter für unsere Pferde.«
»Aber nach was genau sucht ihr denn während der Kontrollritte? Drogen, Schmuggelware?«, frage ich interessiert.
»Also, wenn wir unterwegs einen arriero sehen, schauen wir schon genau nach, was der in den Satteltaschen hat. Finden wir Marihuana, setzen wir uns erst mal gemeinsam hin und rauchen einen Joint«, antwortet der Sergeant mit so todernster Miene, dass mir vor Überraschung der Mund offen steht. Erst das wiehernde Gelächter seiner Truppe macht mir klar, dass ihr Anführer einen Scherz gemacht hat. Im Gegensatz zu vielen anderen südamerikanischen Gesetzeshütern gelten die chilenischen Carabineros als absolut unbestechlich.
»Also mal im Ernst«, fährt der Sergeant nun lächelnd fort. »Wir suchen nach Viehdieben, die Tiere von den großen Herden auf der argentinischen Seite nach Chile treiben und dadurch Tierseuchen verbreiten.« Die Angst vor eingeschleppten Krankheiten ist auf beiden Seiten groß. Auch die GPT- Wanderer dürfen keinerlei unbehandelte Tier- oder Pflanzenprodukte als Proviant ins Nachbarland bringen. Die über 5000 Kilometer lange Grenze zwischen Chile und Argentinien ist in den Bergen allerdings überhaupt nicht erkennbar, die offiziellen Übergänge liegen bis zu 200 Kilometer weit auseinander. Wer ohne gültigen Einreisestempel auf der falschen Seite erwischt wird, hat dennoch mit ernsthaften Konsequenzen wie sofortiger Ausweisung und Einreiseverbot zu rechnen.
Die Landesgrenze habe ich während meiner 1600 Kilometer auf dem GPT nie illegal überquert, dafür habe ich Dutzende von Zäunen und Absperrungen überklettert oder bin darunter durchgerobbt. In der Regel wurde ich dahinter zum Glück nur von weidendem Vieh oder neugierigen Siedlern empfangen. Wer absolut gesetzestreu unterwegs sein will, kommt auf dem GPT nicht weit. Hier braucht man eine gehörige Portion Risikobereitschaft und gute Spanischkenntnisse, um im Ernstfall seine Anwesenheit erklären zu können.
Da jedes Fehlverhalten eines Wanderers den guten Willen der Landbesitzer zerstören könnte, stellt Dudeck seine GPS- Tracks nicht frei zugänglich ins Internet, sondern gibt sie ausschließlich auf Anfrage heraus – nachdem man einem entsprechenden Verhaltenskodex ausdrücklich zugestimmt hat. Die erste seiner Regeln lautet: »Nimm nie an, dass du das Recht hast, auf den Wegen des GPT zu laufen, sondern tue alles in deiner Macht Stehende, dort ein angenehmer Gast zu sein!«
Regel Nummer zwei: »Benutzung auf eigene Gefahr!« Und in der Tat ist der GPT der riskanteste, weil technisch anspruchsvollste Weg meiner Wanderlaufbahn. Zum ersten Mal führe ich einen Satellitenmessenger für den Notfall mit und weiche sogar mehrfach von meinem ehernen Prinzip der connecting footsteps ab, weil mir einige Wegabschnitte zu gefährlich erscheinen.
So ist mir bereits nicht ganz wohl zumute, wenn ich abends vor dem Einschlafen Rauch aus einer nur wenige Kilometer entfernten Caldera aufsteigen sehe. Im Nationalpark Puyehue habe ich im wahrsten Sinne des Wortes sogar heißen Boden unter den Füßen, aus dem schwefelhaltige Dämpfe aufsteigen und mir die Sicht vernebeln. Ich sinke teilweise knöcheltief in den heißen Schlamm ein und bekomme schon Panik, bei lebendigem Leibe geröstet zu werden. Als die Behörden dann wenige Tage später auch noch eine orange Vulkanwarnung ausgeben, überspringe ich zähneknirschend eine Etappe.
Auch die gewaltige Laguna de la Laja, ein etwa 125 Quadratkilometer großer See, wurde durch den Ausbruch des Vulkans Antuco geschaffen. Die tiefblaue Wasseroberfläche wirkt bizarr inmitten einer absolut öden, grauschwarzen Vulkanlandschaft. Der starke Wind bläst mir unablässig feine Asche ins Gesicht, als ich schier endlose dreißig Kilometer am Ufer entlangwandere. So weit ich blicken kann, gibt es keinerlei Wetterschutz.
Trotz des blauen Himmels und der angenehmen Temperaturen bekomme ich bei dem Gedanken, völlig ausgesetzt in dieser monotonen Mondlandschaft zelten zu müssen, ein mulmiges Gefühl. Die wenigen Fahrzeuge, die mich auf der unbefestigten Piste mit einer aufgewirbelten Staubfahne passieren, halten allesamt kurz an, und die Fahrer erkundigen sich besorgt nach meinem Befinden. Nur mit der chilenischen Gastfreundschaft kann ich mir dieses auffällige Verhalten bald nicht mehr erklären. Als dann noch ein junges Pärchen energisch insistiert, gebe ich meinem alarmierenden Bauchgefühl nach und steige ein.
»Was sind das für merkwürdige Steinmännchen am Wegesrand?«, erkundige ich mich beiläufig auf der Fahrt zum nächstgelegenen Ort. Erstaunt betrachtet mich der Fahrer im Rückspiegel: »Hast du nie von der Tragödie von Antuco gehört?« Ich schüttle den Kopf und erfahre in den nächsten Minuten, dass es in der Tat eine gute Idee war, diese Etappe abzukürzen.
Am 18. Mai 2005 brachen drei Kompanien von der Kaserne Los Barros zu einem dreißig Kilometer langen Trainingsmarsch auf – im Schatten dieses riesigen, heute leer stehenden Gebäudes hatte ich vor wenigen Stunden noch meine Mittagspause gehalten. Der Kommandant bestand auf dem Abmarsch der gerade mal 18-jährigen, unerfahrenen Rekruten, obwohl an diesem Tag im Spätherbst ein heftiger Schneesturm angekündigt war und keiner der Soldaten über angemessene Winterausrüstung verfügte. Schon nach wenigen Kilometern fielen die Temperaturen auf minus 35 Grad Celsius, und die Männer versanken hüfthoch im Neuschnee. Im kompletten Whiteout verlor mehr als die Hälfte der Rekruten die Orientierung und schaffte es nicht bis zur Schutzhütte am Ende der Piste. 45 Soldaten erfroren, die kleinen Steinmännchen markieren den Fundort der Leichen.
»Wurden die Vorgesetzten denn für ihre Fehlentscheidung bestraft?«, frage ich mit einem Kloß im Hals. Wir passieren gerade das Denkmal zur Erinnerung an diese Tragödie, eine riesige Stele direkt am Ufer des Sees. Zahlreiche Autos parken davor, Touristen schießen Fotos. »Der Kommandant wurde wegen mehrfachen Mordes zu einer Gefängnisstrafe von fünf Jahren verurteilt, und die Überlebenden bekamen eine kleine Entschädigung«, erzählt die junge Beifahrerin und lacht bitter. »Aber das macht die Toten auch nicht wieder lebendig.«
So verheerend Vulkanausbrüche oder Blizzards sein können – sie treten glücklicherweise nur sehr selten auf. Und ein Gutes hat es, dass der GPT an fast allen neunzig aktiven Vulkanen Chiles vorbeiführt: Immer wieder passiere ich offizielle und wilde Thermalquellen. Es ist einfach göttlich, nach einem anstrengenden Wandertag mitten in der Wildnis im heißen Wasser zu entspannen – selbst wenn ich mir das Becken einmal erst mit einer alten Schaufel ausheben muss. Zu schaffen machen mir dafür die alltäglichen Probleme: Altschneefelder, reißende Flüsse, zugewucherte Pfade oder wegerodierte Wege. An manchen Steilhängen bietet mir nur ein einsames Grasbüschel etwas Trittsicherheit oder ein vertrockneter Busch eine Möglichkeit zum Festhalten. Dabei ist es nicht besonders hilfreich, dass ich nicht komplett schwindelfrei bin.
Am 10. Februar beginnt mein Wandertag im Nationalpark Radal Siete Tazas damit, dass ich glückselig und mutterseelenallein in den heißen schwefelhaltigen Quellen der Termas del Azufre bade. Als ich danach hinauf zum Paso Manantial Pelado wandere, zieht über mir am strahlend blauen Himmel ein Kondor lautlos seine Kreise. Außer meinem angestrengten Atem ist kein Laut zu hören. Die Sonne wird von der hellen Vulkanasche gleißend reflektiert und intensiviert alle Farben so sehr, dass ich trotz Sonnenbrille fast geblendet bin. Hunderte von Metern unter mir glitzert das tiefblaue Wasser der Laguna Mondaca, von wo aus sich der Río Lontué in einem tief eingeschnittenen Canyon seinen Weg durch die zerklüftete precordillera bahnt. Oben am Pass breite ich berauscht von so viel Schönheit die Arme aus und atme die trockene Luft tief ein, wie um diese einzigartige Landschaft in mich aufzusaugen.
Schon eine Stunde und wenige Kilometer später schlägt mein Glücksgefühl in blanke Angst um: Der gerade mal fußbreite Weg traversiert einen fast vertikal aufragenden Steilhang. Vor ein paar Wochen habe ich an einer ähnlichen Stelle abgebrochen und bin umgedreht. Doch während mich damals rutschige Steinchen auf einem ausgetrockneten Boden abschreckten, sinken meine Füße nun in die weiche Vulkanasche ein wie in frisch gefallenen Schnee. Mit angehaltenem Atem taste ich mich langsam über die etwa hundert Meter lange Gefahrenstelle. Als ich gerade erleichtert aufatme, kommt mir eine siebenköpfige Gruppe entgegen und begrüßt mich mit einer merkwürdigen Frage: »Hat es auf der Strecke irgendwo stark gerochen?«
Ich nehme verwirrt an, dass die sieben Chilenen zu den nach faulen Eiern duftenden Thermalquellen wollen, doch sie winken nur ab und ziehen ohne den üblichen Small Talk eilig weiter. Drei Stunden und zwei weitere Steilhänge später stoße ich auf die nächste Überraschung: An der Laguna de las Ánimas sitzt mutterseelenallein eine junge Frau, die mir schon aus der Ferne aufgeregt zuwinkt.
»Kann ich mit dir zusammen absteigen?«, fragt mich die Chilenin namens Verónica gleich zur Begrüßung. Sie gehört zu einer Gruppe Freiwilliger des Alpenvereins von Talca, die an diesem Wochenende das Militär bei der Suche nach einem Vermissten unterstützen. Leider hat sich die junge Frau bereits beim Aufstieg am Knie verletzt, sodass ihre sieben Vereinskameraden allein weiterzogen und dabei mich trafen. Natürlich stimme ich ihrer Bitte zu. Unterwegs erfahre ich, dass sich der vermisste 31-jährige Sebastián Jofré am 21. Januar von seinen beiden Wanderfreunden trennte, um eine neue Trekkingroute zu erkunden. Als er nach zwei Tagen nicht am vereinbarten Treffpunkt erschien, alarmierten die Freunde die Behörden. Trotz groß angelegter Suche mit Hubschraubern und Spürhunden blieb er unauffindbar. Nun dämmert mir auch der Sinn der Frage nach dem auffälligen Geruch: Fast drei Wochen nach Jofrés Verschwinden sucht man nun nach seiner verwesenden Leiche. Trotz der wärmenden Sonnenstrahlen fröstelt es mich plötzlich. Sebastián Jofrés Überreste werden erst am 12. April 2019 zufällig von arrieros gefunden werden. Zu dem Zeitpunkt bin ich schon seit mehreren Wochen wieder wohlbehalten zurück in Deutschland.
»Das Militär koordiniert die ganze Suchaktion vom Basislager im Tal aus«, erklärt meine neue Bekannte mir nun und zieht ein Funkgerät aus ihrem Rucksack. »Sie lassen mich aus Angst vor einem weiteren Unfall nicht allein absteigen und haben angeordnet, dass ich auf die Rückkehr meiner Gruppe warten muss. Doch jetzt kannst du ja mitkommen!« Bei dem folgenden Funkkontakt komme ich mir vor wie in einem Agententhriller.
»Basis von Verónica, ich habe eine deutsche Touristin getroffen, die mich beim Abstieg begleitet. Kommen!«, spricht sie in das knisternde Gerät.
»Hier Basis – du hast eine WAS getroffen? Kommen!« Verónica und ich grinsen uns unwillkürlich an. Für die chilenischen Soldaten ist es wohl unvorstellbar, dass eine Frau allein in der chilenischen Wildnis herumwandert. In der Kommandozentrale scheint man sich unterdessen zu beraten, erst nach ein paar Minuten kommt der nächste Funkspruch: »Verónica von Basis, Erlaubnis für Abstieg erteilt. Wir laufen euch entgegen. Ende!«
Seufzend packt die junge Chilenin das Gerät wieder ein: »Die holen uns nur ab, weil sie gerade Langeweile haben – und weil ein Sergeant sich ein bisschen in mich verknallt hat.«
Von Verónicas Knieverletzung kann ich beim Abstieg von fast 1000 Höhenmetern nichts bemerken. Ganz im Gegenteil ist sie deutlich schneller und trittsicherer unterwegs als ich. Doch als wir schon fast unten im Tal auf den Sanitätstrupp treffen, heben die Männer meine neue Bekannte über jedes noch so kleine Hindernis. Mir hingegen nimmt man nicht mal den Rucksack ab …
Keine Tour hat mich so sehr an meine körperlichen und psychischen Grenzen gebracht wie der GPT . Aus lauter Verzweiflung brüllte ich die Landschaft an und drosch weinend mit meinen Trekkingstöcken auf Bäume ein. Ja, der GPT ist brutal – aber auch brutal schön! Ob Halbwüste des Anden-Vorgebirges, valdivianischer Regenwald oder das subpolare Fjordland: Nirgendwo habe ich eine so spektakuläre Landschaft erlebt. Und so musste ich nicht nur aus Frust, sondern viel öfter noch vor lauter Glück weinen.
Für wen: