Für europäische Thruhiker:
Sentiero Italia

Land: Italien | Länge: 4500 km
Schwierigkeit: *** | Budget: €€ | Jahreszeit: Frühjahr bis Herbst
Natur: *** | Kultur: *** | Special Interest: Kammwanderung durch ganz Italien

 

»Italien ist südlich der Alpen doch total flach und langweilig«, behaupte ich im Brustton der Überzeugung und ernte schallendes Gelächter.

»Von wegen! Die Apenninen durchziehen das ganze Land von Nord nach Süd und sind alles andere als flach und langweilig«, erklärt mir mein Wanderfreund Werner am anderen Ende der Leitung geduldig. Wir diskutieren gerade meine Tourenmöglichkeiten, die im Frühjahr 2020 durch Corona leider ganz erheblich eingeschränkt sind.

»Selbst wenn die Italiener mich reinlassen würden: Der Sentiero Italia existiert doch mehr auf dem Papier als in der Natur«, behaupte ich auf Basis der wenigen Reiseberichte, die ich über diesen relativ neuen Weg im Internet gefunden habe. Darin landeten die Wanderer aufgrund fehlender Markierungen oder überwucherter Wege allesamt früher oder später auf Asphaltstraßen.

»Stell dich mal nicht so an! Du hast ja schließlich ein GPS «, muntert mich Italienliebhaber Werner auf und fügt den ultimativen Anreiz hinzu: »Wenn du den Sentiero Italia läufst, schaue ich mir aus Neugier auch täglich deine Social-Media-Posts an.« Den Ausschlag für meine Entscheidung gibt letztlich aber etwas ganz anderes: Italien öffnet als eines der ersten europäischen Länder bereits Anfang Juni 2020 seine Grenzen für Touristen.

Der Sentiero Italia verläuft erst von Ost nach West über den gesamten Alpenbogen und führt dann von Nord nach Süd immer auf dem Kamm der Apenninen durch das ganze Land. Im Süden endet eine Variante im Stiefelabsatz, eine zweite in der Stiefelspitze, und selbst Sizilien und Sardinien werden komplett durchzogen. Mit allen weiteren kleinen Varianten ist das Wegenetz in etwa 7000 Kilometer lang. Der italienische Alpenverein CAI hatte dieses Mammutprojekt bereits in den 1990er-Jahren ins Leben gerufen, aber schon bald wieder aufgegeben und nichts instand gehalten. Erst seit 2018 entwickelt er die Strecke wieder aktiv weiter – und weiß bisher selbst nicht ganz genau, wie lang sie eigentlich wirklich ist …

Meine Wanderung auf dem Sentiero Italia beginnt in den ligurischen Apenninen mit einer positiven Überraschung. Nachdem mich eine uralte Schmalspurbahn von Genua hinauf zum Bahnhof Canova Crocetta befördert hat, finde ich die Strecke entgegen all meiner Befürchtungen geradezu vorbildlich markiert vor. Hier in Norditalien folgt sie nämlich den rot-weißen Streifen des bekannten Ligurischen Höhenwegs und später der Grande Escursione Appenninica. Meinen normalen Tagesschnitt von 30+ Kilometern kann ich trotzdem nicht halten, denn die ständigen Auf- und Abstiege schlauchen mit Proviant für acht Tage auf dem Rücken gewaltig. Dabei hätte ich gar nicht so viel mitnehmen müssen, denn an fast jedem Pass mit Straße lädt ein Gasthaus zur Pause ein. Neben Eis und Panini werden manchmal sogar einheimische Wurst- und Käsespezialitäten zum Mitnehmen angeboten. Damit die vielen Rennradfahrer vor der Abfahrt noch mal ihre Flaschen auffüllen können, ist in der Regel ein öffentlich zugänglicher Wasseranschluss installiert. Das kommt auch mir als Wanderin zugute, denn oben auf dem Gebirgskamm gibt es keine natürlichen Quellen. Glücklicherweise finde ich selbst in den kleinsten Dörfern einen Wasserspender, entweder am Marktplatz oder auf dem Friedhof für die Grabpflege. Die Toten verzeihen mir hoffentlich das gelegentliche Wasserzapfen und die anschließende Katzenwäsche.

Leider warten auch ein paar unangenehme Überraschungen auf mich. Als ich auf einer Weidelandschaft in den Bergen nichts ahnend um eine Ecke biege, rasen plötzlich sechs riesige weiße Hunde auf mich zu. Bellend und zähnefletschend stellen sie sich schützend vor eine Herde Ziegen und machen mir sehr eindringlich klar, dass kein Durchkommen ist. Was nun? Der Hang ist so steil, dass ich weder rechts noch links an ihren Schützlingen vorbeiwandern kann. Da weit und breit kein Hirte zu sehen ist, muss ich notgedrungen in sicherer Entfernung warten, bis die Herde weiterzieht. Und das dauert, denn ausgerechnet an diesem Weg sind die Gräser wohl besonders saftig. Als sich mein Herzschlag wieder etwas beruhigt hat, tue ich es den Ziegen gleich und nutze die Zwangspause für eine kleine Brotzeit.

Die weißen Maremmen-Abruzzen-Schäferhunde sind am Sentiero Italia fast allgegenwärtig, meist sind sie ohne menschliche Begleitung mit ihrer Herde unterwegs. Bei den Begegnungen schnellt mein Puls zwar immer erst mal in die Höhe, aber die intelligenten Tiere lassen mich stets in Ruhe, solange ich ihren Schützlingen nicht zu nahe komme.

Im Parco Nazionale dell’Appennino Tosco-Emiliano blockieren dann nicht Hunde, sondern Pferde meinen Weg. Normalerweise kein Problem, doch der Sentiero Italia verläuft hier direkt auf dem schmalen Grat des aufgefalteten Gebirges, rechts und links geht es steil nach unten. Gutes Zureden, sanftes Schubsen, nichts hilft: Die zwei frei laufenden Pferde rücken keinen Zentimeter zur Seite. Ein paar Tagesausflügler aus der Gegenrichtung beobachten schon amüsiert mein Dilemma, als die Vierbeiner endlich ein wenig Platz machen und ich mich mit angehaltenem Atem vorbeischlängeln kann. Im Gegensatz zu mir sind sie wohl komplett schwindelfrei. Bei einigen ausgesetzten Gratabschnitten muss ich zur Beruhigung schon mal tief durchatmen, nennenswerte technische Schwierigkeiten oder gar Klettersteige weist der Weg aber zum Glück nicht auf. Und ich werde für meine Bemühungen stets mit beeindruckenden Panoramablicken belohnt, die den Alpen oder Pyrenäen in nichts nachstehen.

Im Norden Italiens stoße ich immer wieder auf Spuren des Zweiten Weltkriegs. Gedenktafeln erinnern an gefallene Partisanenkämpfer, am Passo della Futa befindet sich sogar der größte Militärfriedhof Italiens: 30 800 deutsche Soldaten liegen hier auf zwölf Hektar begraben. Über eine Stunde wandere ich mutterseelenallein durch die schier endlosen Grabreihen und frage mich, welche Schicksale sich hinter den Namen auf den schmucklosen Granitplatten wohl verbergen.

Ähnlich an die Nieren geht mir der nächste Streckenabschnitt durch die Erdbebengebiete Mittelitaliens. Auf dem Weg nach Norcia, einem der Epizentren der Erdbebenserie von 2016, führt mich ein alter Track durch komplett menschenleere, halb zerstörte Dörfer. Erst hinterher stelle ich fest, dass der CAI die Route mittlerweile verlegt hat. Kein Wunder, denn auf der alten Strecke muss ich teilweise über meterhohen Bauschutt klettern, in dem ich noch die Wohnungseinrichtung der eingestürzten Häuser ausmachen kann. Die Türen der wenigen intakten Gebäude sind verrammelt, zerborstene Fensterscheiben notdürftig mit Plastikplanen verschlossen, die rissigen Fassaden mit abenteuerlichen Holzkonstruktionen abgestützt. In dem winzigen Dörfchen Pie’ la Rocca entdecke ich ein Gebäude ohne Vorderfront, sodass ich in die drei Stockwerke hineinschauen kann wie in ein Puppenhaus. Im Schlafzimmer steht ein Ehebett mit Bettwäsche. Die zurückgeschlagene Decke wirkt, als ob die Bewohner nur mal kurz weggegangen wären, dabei liegt das Erdbeben schon mehr als vier Jahre zurück.

Die obdachlos gewordenen Menschen leben nach wie vor in Containersiedlungen an den Rändern der zerstörten Städte, jede Wohneinheit mit Klimaanlage auf dem Dach und einem handtuchgroßen Vorgarten. In Accumoli ist selbst die Dorfkirche in einem Container untergebracht, die Gläubigen sitzen auf billigen Plastikstühlen statt auf Holzbänken. Unter dem Kruzifix neben dem Altar lese ich die Inschrift »Das Golgatha unserer Heimat«, darunter sind als Erinnerung Mauerbrocken aus den zerstörten Kirchen der Gemeinde ausgestellt.

Das Versagen der italienischen Regierung wird mir bei meinem Ruhetag in L’Aquila noch deutlicher vor Augen geführt. Die Stadt wurde bereits 2009 von einem Erdbeben heimgesucht, 308 Menschen starben, mehr als 33 000 Bewohner mussten ihre Häuser verlassen. Fünf Jahre später leben zwei Drittel davon immer noch in staatlichen Wohnprojekten. Korruption und die Mafia hemmen bis heute den Wiederaufbau, die Stadt wirkt selbst elf Jahre nach der Katastrophe wie eine einzige Großbaustelle.

Zurück auf dem Sentiero Italia lasse ich auf den grasbewachsenen Höhen des Nationalparks Sibillinische Berge Menschen und Orte hinter mir. Hier beschränkt kein einziger Baum den 360-Grad-Panoramablick. Wilde Pferde galoppieren über die weite Landschaft, Paraglider schweben am wolkenlosen Sommerhimmel, und in mir kommt ein Gefühl von grenzenloser Freiheit auf. Doch selbst in dieser scheinbar perfekten Idylle haben die Erdbeben ihre Spuren hinterlassen. Das Steingebäude des Rifugio Perugia ist eingestürzt, der Wirt bedient die Gäste nun nebenan in einem Container.

Am Sentiero Italia gibt es auch abseits der Alpen erstaunlich viele bewirtschaftete Schutzhütten, die ich als überzeugte Wildzelterin nur selten zum Übernachten aufsuche. An einem besonders ungemütlichen Tag Anfang September finde ich allerdings partout keinen geeigneten Zeltplatz und muss trotz Dauerregen und Nebel bis weit in die Dunkelheit hineinwandern. Als ich dann auf meiner Karte im Regionalpark Monte Cucco ein rifugio entdecke, gebe ich die Zeltplatzsuche auf und steuere bibbernd das Dach über dem Kopf an. Bei Vollmond und Nieselregen wirkt die grasbewachsene Karstlandschaft eher wie ein schottisches Hochmoor denn wie ein sonniger Landstrich in Umbrien.

Laut GPS bin ich meinem Ziel schon sehr nah, als mir bei einer kurzen Orientierungspause ganz unerwartet etwas Nasses und Kaltes von hinten in die Kniekehlen stupst. Erschrocken fahre ich herum und starre im dichten Nebel auf die gespenstischen Umrisse eines riesigen weißen Hundes. Ich stoße einen so gellenden Schrei aus, dass selbst mir die Ohren klingen. Während der Hund mich trotz meines hysterischen Auftritts weiter still anstarrt, geht in hundert Metern Entfernung plötzlich ein Licht an, und ein Schäfer stürzt in langen Unterhosen und mit einer Taschenlampe bewaffnet aus der Wellblechhütte. Seinen italienischen Wortschwall interpretiere ich als: »Was zur Hölle hast du mitten in der Nacht bei meiner Schafherde zu suchen?«

Peinlich berührt stammele ich etwas von »Germania« und »escursione«, garniert mit vielen »scusi«, denn mir werden jetzt zwei Dinge klar: Ich bin nicht etwa dem Hund von Baskerville, sondern einem gut erzogenen Maremmano-Schäferhund begegnet, und das rifugio ist keine allgemein zugängliche Schutzhütte, sondern die Behausung des Schäfers. Ganz Kavalier bietet der mir sogleich einen Schlafplatz auf dem Boden seiner Unterkunft an, wo allerdings ein ziemliches Chaos aus leeren Weinflaschen und Zigarettenkippen herrscht. Als ich sein Angebot freundlich kopfschüttelnd ablehne und weiterlaufen will, ruft er mir eindringlich hinterher: »Lupi! Lupi!« Ich spreche zwar kaum ein Wort Italienisch, aber dank vier Jahren Lateinunterricht verstehe ich ihn sofort: »Wölfe! Wölfe!«

In Italien sind tatsächlich geschätzte 2000 Wölfe und fast 100 Bären heimisch. Da Wölfe im Gegensatz zu kettenrauchenden Schäfern nicht schnarchen, wandere ich trotzdem lieber noch einen Kilometer weiter und schlafe allein in meinem Zelt. Als Schaf hätte ich vermutlich anders entschieden.

Obwohl Wildzelten in Italien offiziell verboten ist, ist der Sentiero Italia wie dafür gemacht – es ist niemand da, der einen entdecken könnte. Dicht bevölkert waren die Apenninen wohl nie, doch wegen der modernen Landflucht prangen in den Dörfern heute unzählige »Zu verkaufen«-Schilder an den Häusern, und entlang des Weges verfallen aufgegebene Gehöfte und Steinmauerterrassen. Perfekt für mein Nachtlager. Die nun herrenlosen Obstbäume und verwilderten Weinstöcke nebenan laden förmlich zur Selbstbedienung ein. Äpfel, Birnen, Pflaumen, Trauben, Kaki, Kiwis und vor allem Feigen wachsen mir quasi in den Mund, sodass ich wahrlich nicht über Vitaminmangel klagen kann.

Nur ein einziges Mal habe ich beim Wildzelten Pech. Obwohl ich mich außer Sichtweite des nächsten Bauernhofes gut versteckt am Waldrand niedergelassen habe, höre ich bei Sonnenuntergang Schritte. Die späten Spaziergänger haben zwei Hunde dabei, die neugierig mein Zelt beschnüffeln, erstaunlicherweise ohne zu bellen. Als ich dazu noch englische Gesprächsfetzen in unmittelbarer Nähe vernehme, öffne ich entschlossen den Reißverschluss. Mir hecheln prompt zwei riesige Labradore ins Gesicht, und in gerade mal fünf Metern Entfernung ist ein Paar mittleren Alters so in eine Diskussion vertieft, dass sie mich in der Abenddämmerung gar nicht entdeckt haben. Ich will gerade durch diskretes Räuspern auf mich aufmerksam machen, als sich die Frau zufällig zu mir dreht und erstaunt ausruft: »Ich glaube, da steht ein Zelt!«

»Hallo! Wenn Sie wollen, bin ich sofort weg!«, sekundiere ich da schon von meiner Isomatte aus und wundere mich, was zum Teufel zwei offensichtliche Nicht-Italiener um diese Uhrzeit mitten im Wald zu suchen haben. Dasselbe fragen sich die zwei wahrscheinlich auch in Bezug auf mich. Die beiderseitige Verwirrung löst sich glücklicherweise im folgenden Gespräch schnell in Wohlgefallen auf. Der nahe gelegene Bauernhof steht samt Wiesen, Wald und Feldern zum Verkauf, und das englische Ehepaar will darauf eine Luxusferiensiedlung errichten. Vor der endgültigen Unterzeichnung des Kaufvertrages durchstreifen sie gerade alle Winkel des Grundstücks auf der Suche nach der geeigneten Lage für Schwimmbecken und Reitställe. »Good night!«, verabschieden sie sich schon nach wenigen Minuten und versichern mir schmunzelnd, dass sie dem Noch-Eigentümer nichts von meiner Anwesenheit erzählen werden. Bis auf ein paar grunzende Wildschweine verläuft der Rest meiner Nacht zum Glück ruhig.

Wie üblich gönne ich mir einmal pro Woche einen Ruhetag in der Zivilisation, wobei angesichts der vielen Palazzi, Kirchen und Museen meist zwei daraus werden. Genua, Pistoia, Gubbio, Spoleto, Faenza, Cosenza – all diese Orte liegen nur eine kurze Bus- oder Zugfahrt vom Trail entfernt. Eine mehrtägige Schlechtwetterphase kann ich entspannt mit Sightseeing in Neapel aussitzen, wo die sintflutartigen Regenfälle sogar die U- Bahn-Stationen unter Wasser setzen. Ich bin heilfroh, dass ich dank des Wetterberichts nicht in den Bergen davon überrascht wurde.

Auch in den postkartenidyllischen Dörfern und Städtchen direkt am Weg lege ich so manche ungeplante Übernachtung ein, um zum Abendessen mal Pasta und Pizza statt Tütengerichte zu genießen. In den Kurorten Bagno di Romana und Contursi Terme kann ich meine müden Glieder sogar abends im heißen Thermalbad ausstrecken. Trotz meines Hiker-Looks reagieren die Hotelbesitzer durchaus freundlich auf meinen Besuch.

So erklärt mir Hotelier Roberto, der schon mal auf dem Camino in Spanien gepilgert ist: »Wir Wanderer müssen zusammenhalten«, und fährt mich mit seinem klapprigen Fiat im strömenden Regen zehn Kilometer in die nächste Stadt, damit ich dort den Waschsalon benutzen kann. Und weil ich aufgrund des schlechten Wetters so gut wie nichts von der tollen Landschaft im nahe gelegenen Nationalpark Pollino mitbekommen habe, sendet er mir zum Abschluss meiner Tour einen Bildband nach Deutschland. In Marcellinara steckt mir der Hotelbesitzer beim Check-out gar einen halben Kuchen in den Rucksack: »Der ist am Frühstücksbüfett übrig geblieben.« Ich muss wohl einen ziemlich verhungerten Eindruck gemacht haben.

Der Sentiero Italia ist zwar alles andere als ein Pilgerweg, führt aber an zahlreichen Heiligtümern und Einsiedeleien vorbei. Die Eremo di Serrasanta bei Gualdo Tadino ist verschlossen, doch der Vorraum dient Wanderern ganz offiziell als Notunterkunft. Sogar einen Holzofen sowie Tische und Bänke gibt es. Ich koche mein Mittagessen windgeschützt auf dem Campingkocher und genieße den überwältigenden Blick hinunter ins Tal. Die Liste der früheren Einsiedler liest sich wie ein »Who’s Who« der italienischen Heiligen – kein Wunder bei dieser inspirierenden Aussicht.

Das Santuario della Santissima Trinità, sechzig Kilometer östlich von Rom, liegt auf 1337 Metern wie ein Adlernest scheinbar unzugänglich auf einem Felsvorsprung, der nächstgelegene Parkplatz ist zwanzig Minuten Fußmarsch entfernt. Da die winzige Kapelle mit einer ungewöhnlichen Darstellung der Dreifaltigkeit viel zu klein ist für die gewaltigen Pilgermassen, wird die Messe auf einer überdachten Terrasse gefeiert – mit grandioser Aussicht auf die Monti Simbruini, die wegen ihrer Nähe zur Hauptstadt auch die »Alpen Roms« genannt werden. Mit den zahlreichen anderen Heiligtümern am Weg hat dieses Santuario zwei Dinge gemein: Unzählige Souvenirstände, die dem Pilger alle möglichen Devotionalien vom Babylätzchen bis zum Rosenkranz anbieten, und einen wunderschönen alten Pilgerweg, der mit Kreuzwegstationen zu den meist hoch oben am Berg liegenden Wallfahrtsorten hinaufführt. Da die Besucher heutzutage größtenteils mit dem Auto vorfahren, bin ich fast immer allein unterwegs.

An Einsamkeit kaum zu überbieten ist die Grotta di San Simeone am Südhang des Monte Taburno. Beim Abstieg vom gleichnamigen Regionalpark stoße ich mitten im Wald auf diese Höhle, an deren Felswand ein lebensgroßes Fresko des heiligen Simeon aus dem Jahr 1601 prangt. In früheren Jahrhunderten war die Grotte eine Wallfahrtskapelle, im Zweiten Weltkrieg Zufluchtsort der lokalen Bevölkerung. Heutzutage muss ein Gitter die Bemalung vor Vandalismus schützen.

Je weiter ich Richtung Sizilien vordringe, desto schlechter wird leider der Zustand der Route. Im Süden des Landes kann der CAI nämlich nicht auf bereits existierende Wanderwege zurückgreifen, sondern muss alte Feldwege nutzen, selbst neue Pfade anlegen oder auf Asphaltstraßen ausweichen. Auf denen herrscht immerhin kaum Verkehr, was mich angesichts tiefer Schlaglöcher, eingebrochener Teerdecken und Kühen auf der Fahrbahn auch nicht besonders wundert. In der Nähe von Cosenza verläuft die Route gar offiziell auf den Gleisen einer Schmalspurbahn. Glücklicherweise überprüfe ich vorher, ob die Strecke wirklich stillgelegt ist, und stelle voll Erstaunen fest, dass pro Stunde zwei Züge durch die engen Tunnel und Brücken donnern. Keine Ahnung, was sich der CAI bei dieser selbstmörderischen Routenführung gedacht hat. Ich jedenfalls hänge an meinem Leben und fahre die 14 Kilometer lieber mit dem Zug.

Erfreulicherweise ist der Weg selbst im Süden weitgehend mit rot-weißen Streifen gekennzeichnet. Allerdings habe ich manchmal den Eindruck, dass der Wegewart bei den Markierungsarbeiten zugleich der letzte Mensch war, der hier durchgekommen ist. Allzu oft muss ich mir mit meinen Stöcken einen Durchgang durch Brombeergestrüpp oder Brennnesseln freihauen, Dornen zerreißen mein Wanderhemd, und an besonders überwucherten Stellen fließt auch mal Blut.

In einem Windpark in Kalabrien zeigen mir ein paar vereinzelte Markierungen an den wenigen Bäumen zwar, dass ich richtig bin, doch der Weg ist an den steilen Sandhängen in mehreren Abschnitten komplett wegerodiert. In der Hoffnung, mich bei einem mehr als hundert Meter tiefen Absturz auf dem weichen Untergrund nicht allzu sehr zu verletzen, wage ich die erste Traverse, nur um kurz darauf wieder umzukehren, weil undurchdringliches Gestrüpp den Weitermarsch unmöglich macht. Ein Blick auf die Karte zeigt, dass die einzige Alternativstrecke einen Umweg von dreißig Kilometern auf Asphalt bedeutet, wo ich jetzt in der Dämmerung bestimmt keinen Zeltplatz mehr finde. Mit dem Mut der Verzweiflung klettere ich den Steilhang schließlich über blutrünstige Brombeerbüsche und umgestürzte Bäume querfeldein nach oben und brauche für die letzten zwanzig Höhenmeter bis hinauf auf den Kamm fast eine halbe Stunde. Trotz der laut rotierenden Windkraftanlagen schlafe ich in dieser Nacht vor lauter Erschöpfung tief und fest. Das bittere Ende kommt am nächsten Morgen: Über eine Stunde dauert es, bis ich mir sämtliche Dornen und Splitter mit der Pinzette aus meinen Gliedmaßen herausoperiert habe.

Doch der CAI scheint eifrig an der Verbesserung der Strecke zu arbeiten. Mehrfach weichen meine Tracks, die ich mir zu Tourenbeginn auf mein GPS- Gerät geladen habe, von den Markierungen ab. Auf diesen Etappen wurde die Route in den fünf Monaten seit meinem Aufbruch also bereits umverlegt, auf der Website des CAI kann ich sogar schon die aktualisierten Daten abrufen. Nur blöd, wenn ich die Änderung zu spät bemerke und dann im Wald keinen Internetempfang habe.

Leider verstärkt sich im Süden Italiens auch das Müllproblem. Mehr und mehr wilde Deponien »zieren« meinen Weg. Da im Regionalpark Monti Picentini der Uferpfad am Fiume Sabato wegerodiert ist, laufe ich einfach im steinigen Flussbett, das jetzt im Herbst ausgetrocknet daliegt. Menge und Art des angetriebenen Unrats sind erschreckend: Dutzende von Badelatschen und Kindergummistiefeln, unzählige Shampooflaschen und Plastiktüten, ja sogar eine Computertastatur.

Als ich mehrere Wochen später an einer einsamen Landstraße mal wieder auf Zeltplatzsuche bin, folgt mir in der Dunkelheit ein Wagen im Schritttempo. Alarmiert schalte ich meine Stirnlampe aus und biege auf einen schmalen Pfad ab, der die Straßenserpentinen abkürzt. Doch mein Verfolger braust nicht davon, sondern stellt den Motor ab und steigt aus! Ich höre ein dumpfes Rumpeln, dann Türenschlagen, der Wagen wendet in halsbrecherischem Tempo und verschwindet in der Nacht. Als ich gerade erleichtert aufatme, rollen mehrere blaue Säcke den Hang hinunter auf mich zu. Mein Verfolger war kein Triebtäter, sondern hat »nur« illegal Müll verklappt. Gut, dass ich hier nicht mein Zelt aufgeschlagen hatte – ein paar Kilo Unrat auf den Kopf hätten mir ein böses Erwachen beschert.

Der Schönheit der Landschaft tut all dies keinen Abbruch: Der Sentiero Italia verläuft bis in die Stiefelspitze hinein immer auf dem Kamm der Apenninen, sogar in Kalabrien komme ich noch an Skigebieten vorbei. Bei der Tourenplanung hatte ich mir die südlichste Provinz Italiens als völlig ausgedörrte Landschaft vorgestellt und war besorgt, wie ich Wasser finden sollte. Tatsächlich führt mich die Route nun bei Nieselregen durch den Nationalpark Aspromonte, der mit seinen alten Bäumen und sprudelnden Bächen eher an den Schwarzwald als an Süditalien erinnert. Das feuchte Herbstwetter bringt Heerscharen von Pilzsammlern in den Wald, die schon vor Sonnenaufgang in klapprigen Kleinwagen über die Forststraßen rumpeln und dann mit Körben bewaffnet in alle Himmelsrichtungen ausschwärmen. Um erstaunten Fragen aus dem Weg zu gehen, breche ich mein Lager noch in der Dunkelheit ab.

Anfang November wird es wegen der Höhenlage nachts schon empfindlich kalt, zusätzlich setzen mir Dauerregen und das schwindende Tageslicht zu. Vor allem aber quält mich die Frage, ob ich meine Wanderung trotz steigender Corona-Zahlen überhaupt wie geplant beenden kann. Jede Woche gehen weitere Provinzen in den Lockdown. Im dünn besiedelten Kalabrien bin ich bisher zwar kaum von Restriktionen betroffen, doch dann werde ich das knappste Timing meiner gesamten Wanderlaufbahn erleben …

Am 4. November 2020 sehe ich am Horizont schon den Gipfel des Ätna und die Küste Siziliens am Horizont, als ich auf dem Smartphone die Horrormeldung lese: »Kalabrien ab morgen Rote Zone!« Mein wohlverdienter Ruhe- und Feiertag am Strand von Reggio Calabria löst sich damit in Luft auf. In der Stadt schaffe ich es gerade noch, bei Sonnenuntergang ein Abschlussfoto am Meer zu schießen.

In meinem vorgebuchten Hotel erklärt mir die aufgeregte Besitzerin sofort: »Lockdown! Ich weiß gar nicht, ob Sie morgen überhaupt noch wegkommen.« Während ich unter der heiß ersehnten Dusche stehe, ruft sie für mich beim Bahnhof und bei der Polizei an und bringt nach einer halben Stunde die erlösende Nachricht: »Die Züge verkehren morgen nach regulärem Fahrplan. Die Einheimischen dürfen nicht mehr reisen, aber als Touristin können Sie die Provinz noch verlassen.« Glück für mich – auch wenn ich die 34-stündige Heimfahrt mit der Bahn in stinkigen Wanderklamotten antreten muss, weil die Waschsalons am Abend schon im Lockdown waren.

Für wen:

  • Für Thruhiker ist der Sentiero Italia die perfekte europäische Alternative zu den drei großen US- Trails: Er führt durchgängig über Gebirge und ist bei einer Komplettdurchwanderung von den Alpen bis Sardinien etwa 4500 Kilometer lang. Ich kenne keinen anderen europäischen Fernwanderweg, der über eine solch lange Distanz dauerhaft so spektakulär und naturnah verläuft.
  • Gleichzeitig verlangt er dem Wanderer einiges ab. Tagesetappen mit 1500 Höhenmeter Anstieg und mehr sind die Regel, Navigationskenntnisse mit Smartphone und GPS absolut essenziell. Die Karten geben leider keine zuverlässigen Informationen über die Wassersituation, dazu können Quellen ausgetrocknet und Viehtränken abgestellt sein. Nur erfahrene Wanderer werden hier Spaß haben – und sollten sich überlegen, eine ultraleichte Machete einzupacken.
  • Der Sentiero Italia ist selbst bei europäischen Wanderern noch gänzlich unbekannt. Bisher gibt es bloß eine Handvoll Thruhiker, aber keine Art von trail community. Kurzum: Es braucht Mut zum Risiko, Improvisationstalent und eine gehörige Portion Entdeckergeist für diesen Trail.