4. Kapitel

Kruså, Dänemark

Es war kurz nach eins, und sie war schon wieder müde. Agnes Jørgensen sah aus dem Küchenfenster. Gerade riss die Wolkendecke auf. Sie mochte den Sommer, wenn die Tage wärmer wurden und alles blühte. Alles wirkte gleich viel heller. Auch in ihr drinnen.

An diesem Tag fühlte sie sich jedoch wie zerschlagen. Sie hatte schlecht geschlafen. Wieder einmal. Stunde um Stunde hatte sie sich im Bett gewälzt, während Leif neben ihr schnarchte. Vielleicht lag es an den neuen Medikamenten. Sie machten nicht nur unruhig, sondern vernebelten ihr auch ein wenig das Gehirn, aber zumindest nahmen sie ihr die Schmerzen. Doch die würden wiederkommen. Früher oder später.

Ihr Kater strich um ihre Beine, schnurrte und drückte sein Köpfchen gegen ihre Füße. Er war auf Nahrungssuche. Wie immer. Agnes bückte sich, um ihm über das seidige rote Fell zu streicheln. Als sie wieder hochkam, erfasste sie Schwindel. Schwer atmend beugte sie sich über die Spüle. Sie griff nach dem Glas, das am Beckenrand stand, ließ kaltes Wasser hineinlaufen und trank es mit hastigen Schlucken. Langsam ließ der Schwindel nach.

Sie drehte das Radio auf, zog die Schüssel mit den Kartoffeln zu sich heran und holte ein Schälmesser aus der Küchenschublade. Während der Arbeit lauschte sie dem Nachrichtensprecher. Die Regierung plante, das Rentensystem zu überarbeiten. Zudem stand die steuerfreie Auszahlung der Efterløn -Beiträge, dem Vorruhestandsgeld, wieder zur Debatte, und die Königsfamilie würde in Kürze zum alljährlichen Familienurlaub in ihre Sommerresidenz Schloss Gravenstein aufbrechen, das nur zwanzig Kilometer von Kruså entfernt an der Südostküste Jütlands lag. Agnes fand es sehr bodenständig, dass die Royals Urlaub im eigenen Land einem Luxusort am Mittelmeer vorzogen, und sie freute sich auf die königlichen Fotos, die in wenigen Tagen in sämtlichen Tages- und Boulevardzeitungen zu sehen sein würden.

Der Nachrichtensprecher senkte die Stimme und berichtete, dass in den frühen Morgenstunden eine Tote am Kollunder Strand gefunden worden sei. Agnes spürte einen stechenden Schmerz. Blut quoll aus einem ihrer Finger. Sie hatte sich geschnitten.

Schnell stellte sie den Wasserhahn an und hielt ihren pochenden Finger darunter, während sie gleichzeitig versuchte, den Worten aus dem Radio zu folgen. Eine Tote. Ganz bei ihr in der Nähe.

Der Nachrichtensprecher war schon beim Wetter. Agnes presste ein sauberes Tuch auf die Schnittwunde, suchte mit der freien Hand nach einem Pflaster in der Schublade.

Als der Schnitt schließlich versorgt war, schob sie die Kartoffeln und das Schälmesser beiseite. Ihre Gedanken waren bei der Toten. Bei ihrer Familie und ihren Freunden. Entsetzlich, was jetzt auf die Angehörigen zukam. Ein furchtbarer Schock, der ihr gesamtes Leben von einem Moment auf den anderen verändern würde. Jeder einzelne von ihnen musste lernen, mit dem Verlust umzugehen, Abschied zu nehmen, um den Tod irgendwann akzeptieren zu können. Doch ehe es so weit war, würden sich andere, unvermeidliche Dinge abspielen. Tiefe Verzweiflung, Selbstvorwürfe, Schuldzuweisungen. All das gehörte zum Trauerprozess. Viele Familien zerbrachen daran. So wie ihre.

Padborg, Dänemark

Das GZ Padborg, gemeinsames Zentrum der deutsch-dänischen Polizei- und Zollzusammenarbeit, wurde 2004 als Bürogemeinschaft an der Landesgrenze eingerichtet, um die Bekämpfung der internationalen, grenzüberschreitenden Kriminalität zu verbessern. Ende 2013 wurde die Zusammenarbeit um ein Analyseteam erweitert, seit September 2014 fuhren zudem bewaffnete Polizisten beider Länder in ihrer jeweiligen Uniform gemeinsam Streife im Grenzgebiet. Das Operationsgebiet reichte von der Landesgrenze fünfundzwanzig Kilometer nach Dänemark und dreißig Kilometer nach Deutschland hinein. Die alltäglichen Einsätze des GZ fielen in die Bereiche Personen- und Sachfahndungen, Drogenschmuggel, unerlaubte Migration sowie grenzüberschreitende Eigentumskriminalität. Tötungsdelikte hingegen waren die Ausnahme.

Die Büroräume des gemeinsamen Zentrums waren in einem zweistöckigen Backsteingebäude im Padborger Industriegebiet untergebracht, versteckt zwischen zahlreichen Speditionen, LKW -Abstellplätzen und Industriehallen. Ein leer stehendes Büro war für die Ermittler kurzerhand zur Einsatzzentrale umfunktioniert worden. Tische wurden zusammengeschoben, Stühle, Computer und Telefone aufgestellt. An einem Whiteboard hingen Fotos der Leiche, an der Wand eine deutsch-dänische Landkarte. Jemand hatte eine Kaffeekanne und Becher auf dem Tisch platziert.

Als Rasmus mit Vibeke Boisen im Schlepptau eintraf, saßen bereits vier Personen mit erwartungsvollen Gesichtern im Raum.

Rasmus ergriff das Wort. »Wenn die deutschen Kollegen nichts dagegen haben, würde ich vorschlagen, dass wir uns alle duzen.« Einstimmiges Nicken. »Mein Name ist Rasmus Nyborg von der Mordkommission Esbjerg. Meine Kollegin Vibeke Boisen von der Flensburger Polizei und ich leiten die Ermittlungen. Formal gesehen ist Eva-Karin Holm, Abteilungsleiterin der Polizei Esbjerg, die Chefin der Gruppe, und ich werde ihr deshalb regelmäßig Bericht erstatten. Die deutschen Kollegen unterstehen weiterhin ihren jeweiligen Dienststellen. Da wir alle aus unterschiedlichen Behörden stammen, schlage ich eine kurze Vorstellungsrunde vor.«

Vibeke Boisen ergriff als Erste das Wort. Knapp umriss sie ihren beruflichen Werdegang für die Anwesenden und übergab anschließend an Sören Molin, einen Hünen mit Vollbart und Baritonstimme. Er war von der Polizei Sønderborg und nicht nur ein leidenschaftlicher Fußballspieler, sondern auch ein bekennender Pragmatiker. Pernille Larsen, eine dunkelhaarige Schönheit mit markanten Brauen und einer charmanten Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen, kam ebenfalls von der dänischen Polizei und verriet, dass sie am liebsten mit Akten arbeitete. Der Dritte im Bunde war Luís Silva, ein portugiesischer Informatiker mit deutscher Polizeiausbildung, der seit einem Unfall im Rollstuhl saß und allen Anwesenden umgehend erklärte, dass seine körperlichen Einschränkungen lediglich seine Beine betrafen, nicht seinen Kopf. Er arbeitete bereits seit mehreren Jahren beim GZ , hauptsächlich im Bereich Kfz-Fahndung. Jens Greve, ein hellhäutiger Brillen- und Anzugträger von der Landespolizei Schleswig-Holstein, komplettierte das Ermittlungsteam. Er sprach eigentümlich hochgestochen, mit langen Pausen zwischen den Sätzen, als wenn er im Geist jedes Wort in einzelne Buchstaben sezierte.

Rasmus musterte seine deutsche Kollegin. Die grüne Farbe war aus ihrem Gesicht verschwunden. Vibeke, die Kämpferin, dachte er. Eine seiner Cousinen trug den gleichen Namen, daher wusste er um dessen althochdeutsche Herkunft und Bedeutung.

Vibeke Boisen wirkte auf ihn wenig kämpferisch, eher nüchtern und kontrolliert, und erstaunlich jung für die Leiterin einer Mordkommission. Er schätzte sie auf Mitte, höchstens Ende dreißig. Im grauen T-Shirt und Jeans, das hellbraune Haar zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden, wirkte die Polizistin nicht nur ein wenig zu dünn, sondern auch unscheinbar, als wollte sie kein Aufsehen erregen. Das einzig Markante in ihrem blassen Gesicht waren die ungewöhnlich hellen Augen. Die Farbe erinnerte ihn an einen Gletscher. Er schaute schnell weg, als ihr Blick ihn traf.

Jens Greve redete noch immer. Rasmus stöhnte innerlich. Ein intellektueller Phrasendrescher, eine Aktenwälzerin, ein Portugiese im Rollstuhl, ein fußballverrückter Pragmatiker und eine Polizistentochter mit einer Vorliebe für grüne Farbe. Er hatte seine Zweifel, dass dieser zusammengewürfelte Haufen dazu taugte, als Team einen Mordfall aufzuklären. Am Ende würde er den Fall allein lösen müssen.

Er ergriff wieder das Wort. »Also gut, dann genug der Formalitäten. Lasst uns durchgehen, was wir bisher haben. Der rechtsmedizinische Befund steht noch aus. Da der Fundort der Leiche ein beliebter Aufenthaltsort ist, können wir jedoch davon ausgehen, dass die Tatzeit zwischen Einbruch der Dunkelheit und dem Auffindezeitpunkt liegt. Das war heute Morgen um halb neun. Wissen wir schon, ob irgendjemand am Tatort etwas Ungewöhnliches beobachtet hat?«

»Jens und ich haben die Anwohner abgeklappert.« Sören Molin fuhr sich mit der Hand über seine Halbglatze. »Von denen, die wir bisher erreicht haben, saßen alle gestern Abend in ihren Häusern. Hat wohl die meiste Zeit geregnet. Niemand hat etwas mitbekommen oder etwas Auffälliges beobachtet. Ein älterer Herr hat angegeben, nach Einbruch der Dunkelheit mit seinem Hund am Strand spazieren gegangen zu sein. Er hat weder die Leiche noch eine andere Person bemerkt.«

»Und der Hund?«, hakte Pernille Larsen nach. »Hunde wittern Leichen oft.«

Sören zuckte die Achseln. »Der war angeleint. Sein Herrchen befürchtete, der Hund könnte noch ein nächtliches Bad nehmen.«

»Außerdem wird es sich wohl kaum um einen Leichenspürhund gehandelt haben«, warf Jens Greve spitzfindig ein und fixierte die Dänin durch seine Brille. »Solche Tiere werden speziell dafür ausgebildet, Blut und Tote in allen Stadien der Verwesung aufzufinden. Denen bleibt selbst dann nichts verborgen, wenn die Stelle gereinigt wurde, an der eine Leiche gelegen hat.«

Pernille hob die Brauen. Ihr schien eine Erwiderung auf der Zunge zu liegen, doch zu Rasmus’ Bedauern sprach sie nicht aus, was sie dachte.

Er übernahm wieder das Ruder. »Leider haben wir bei der Toten keine Ausweispapiere gefunden, aber es gibt Hinweise, dass es sich um eine Deutsche handelt.« Er berichtete den anderen von dem Inhalt des Portemonnaies.

»Ich habe bereits sämtliche Datenbanken angezapft.« Luís Silva klopfte mit den Fingerkuppen rhythmisch auf die Tischplatte, während er sprach. »Weder in Deutschland noch in Dänemark wurde jemand vermisst gemeldet, auf den die Beschreibung unseres Opfers zutrifft.«

»Eine furchtbare Vorstellung, dass einen niemand vermisst, wenn man stirbt«, warf Sören ein und sprach damit einen Gedanken aus, der auch Rasmus häufig beschäftigte.

Alle schwiegen einen Moment.

»Vermutlich wurde in unserem Fall noch nicht bemerkt, dass die Person verschwunden ist«, sagte Rasmus schließlich. »Dem Zustand der Leiche nach zu urteilen, lag sie noch nicht allzu lange dort.«

»Die Kollegen von der Streife schicken mir später eine Liste mit den Kennzeichen der PKW s, die im Umfeld des Tatorts geparkt sind«, fuhr Luís Silva fort. »Vielleicht kommen wir über die Halter weiter.«

»Danke, Luís.«

Vibeke Boisen schenkte sich einen Kaffee ein. »Ist doch komisch, dass die Tote ihr Portemonnaie bei sich trug, aber keinerlei Ausweispapiere dabeihatte.« Sie trank einen Schluck. »Der Täter wird wohl kaum die Papiere rausgenommen und den Rest zurückgesteckt haben.«

»Ungewöhnlich, aber durchaus möglich«, sagte Rasmus.

»Wissen wir schon etwas über die Tatwaffe?«, fragte Sören Molin.

»Nein, zumindest wurde am Tatort nichts gefunden. Der Täter muss sie mitgenommen haben.«

»Oder er hat sie in der Förde entsorgt.« Vibeke Boisen stellte ihren Kaffeebecher beiseite. »Wir sollten Taucher einsetzen. Die Identifizierung der Leiche hat höchste Priorität. Die Angehörigen sollten nicht aus den Medien vom Tod der Frau erfahren. Deshalb möchte ich hier auch nicht länger rumsitzen, sondern endlich mit der Arbeit beginnen. Klinken putzen, wie wir in Deutschland sagen.«

»Und wie sollen wir deiner Meinung nach am besten vorgehen?«, fragte Rasmus.

»Wir teilen uns auf«, erwiderte die deutsche Polizistin. »Du übernimmst Kollund, ich Flensburg. Gibt es ein vorzeigbares Foto der Toten?«

Rasmus nickte. »Allerdings sieht man darauf nur die eine Gesichtshälfte. Der Rest ist den Leuten nicht zumutbar.«

»Da das Opfer ein Bahnticket bei sich hatte«, fuhr Vibeke Boisen fort, »sollten nicht nur die Anwohner, sondern auch die Mitarbeiter am Bahnhof, die Busfahrer und die Leute in den Geschäften befragt werden. Vielleicht hat sie sich irgendwo etwas zu trinken oder zu essen gekauft, und jemand erinnert sich. Im besten Fall kennt jemand die Frau. Wir brauchen auch die Überwachungsbänder vom Bahnhof. Möglichst das gesamte Material der letzten achtundvierzig Stunden.«

»In Kollund und Kruså gibt es keinen Bahnhof«, warf Jens Greve ein.

»Dann eben in Padborg. Und checken Sie bitte auch die Bahn- und Busverbindungen, Greve.«

»Wir haben uns darauf geeinigt, uns zu duzen.«

»Dann checkst du bitte die Bahn- und Busverbindungen. Es wäre auch gut, die Leute zu befragen, die sich regelmäßig am Strand aufhalten. Spaziergänger, Jogger, die Urlauber in den umliegenden Unterkünften. Auf dem Weg zum Tatort habe ich einen Campingplatz gesehen. Vielleicht ist jemandem etwas aufgefallen.« Sie sah in die Runde. »Morgen früh um acht treffen wir uns alle wieder hier. Bis dahin sollte auch die Kriminaltechnik erste Ergebnisse vorliegen haben.«

Rasmus fischte ein Päckchen Zigaretten aus seiner Brusttasche. »Sagen wir um eins. Die Obduktion wurde für neun Uhr festgesetzt.« Er musterte die Ermittlerin. Die Deutsche mochte vielleicht jung erscheinen, aber eine Mordermittlung führte sie nicht das erste Mal. Er musste aufpassen, dass sie nicht das Zepter übernahm.

»Gut, dann um eins.« Vibeke Boisen erhob sich. »Kann mir jemand das Foto der Toten aufs Handy schicken? Und am besten auch gleich die Adresse der Rechtsmedizin. Ich möchte gerne dabei sein, wenn die Leiche obduziert wird.«

»Schicke ich dir.« Pernille lächelte und entblößte dabei ihre Zahnlücke.

»Dann bis morgen, Frau Kollegin.« Rasmus lehnte sich lässig in seinem Stuhl zurück und zündete sich eine Zigarette an.

Demonstrativ öffnete Vibeke Boisen das Fenster, ehe sie den Raum verließ.

Flensburg, Deutschland

Es war bereits später Nachmittag, als Vibeke aus dem Bahnhofsgebäude ins Freie trat. Die Wolkendecke war aufgerissen, und die Temperaturen waren nach oben geklettert. Sie hatte den Zeitschriftenladen, den Kiosk mit angrenzendem Bistro sowie die Taxi- und Mietwagenzentrale abgeklappert, mit dem Personal gesprochen und das Foto der Toten vorgelegt. Niemand konnte sich an die Frau erinnern. Die gleiche Auskunft hatte sie vom Servicepersonal der Bahn erhalten.

Die ganze Bahnhofsprozedur hatte kaum länger als eine Stunde in Anspruch genommen. Kein Wunder. Vier Gleise. Ein Geschäft. Ein Imbiss. Keine Überwachungskameras. Flensburg war ein Kaff.

Die Fahrt mit dem Auto in die Innenstadt dauerte keine fünf Minuten. Ihre beiden nächsten Ziele waren der Supermarkt, dessen Kassenbeleg im Portemonnaie der Toten gefunden wurde, und der Laden, von dem die Bonuskarte für die Fischbrötchen stammte. Pernille hatte ihr die beiden Adressen zusammen mit der von der Rechtsmedizin aufs Handy geschickt.

Vibeke parkte ihren Wagen vor der Polizeiinspektion, einem fünfstöckigen Gründerzeitbau mitten im Flensburger Stadtzentrum. Das imposante Gebäude, das 1890 ursprünglich als Hotel gebaut und später in der Zeit des Nationalsozialismus an den Staat verkauft wurde, strahlte Großstadtflair aus und gehörte zu den Kulturdenkmälern der Stadt. Für Vibeke war es ein vertrauter Ort, behaftet mit zahlreichen Erinnerungen an Werner, der sie als Kind einige Male mit an seinen Arbeitsplatz genommen hatte. Beim Anblick der grünen Rundbogentür, durch die ihr Vater so oft gegangen war, überkam sie eine tiefe Traurigkeit. Schnell schob sie die Erinnerung beiseite.

Nach einem kurzen Fußmarsch erreichte sie den Supermarkt in einem Einkaufscenter. Sie zeigte den beiden Kassiererinnen und dem Marktleiter das Foto mit der größtenteils unversehrt gebliebenen Gesichtshälfte der Toten, doch niemand konnte sich an die Frau erinnern. Jetzt blieb nur die Fischbude.

Vibeke nahm den Weg durch die Fußgängerzone und erreichte in wenigen Minuten die Hafenspitze. Große und kleine Segelschiffe, Jachten und Motorboote, so weit das Auge reichte. Auch an Land herrschte reges Treiben. Fußgänger flanierten die Promenade entlang, saßen an den Tischen vor den Cafés oder auf den zahlreichen Bänken, um die Sonne zu genießen. Schwäne schwammen im Hafenbecken und putzten ihr Gefieder, am Himmel kreischten die Möwen.

Toms Fischhütte lag am Museumshafen. Eine kleine Bude auf dem Holzsteg, direkt am Wasser. Vor dem Verkaufsfenster hatte sich eine lange Schlange gebildet, dahinter hantierte ein einzelner Mann. Auf den Holzpaneelen neben dem Tresen standen die Namen der angebotenen Fischbrötchen und die entsprechenden Preise.

Vibeke, die seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, stellte sich an.

»Einmal mit Backfisch«, orderte sie, als sie an der Reihe war.

Sie schätzte den Fischmann auf Anfang dreißig. Semmelblonde Locken, ein verschlossenes Gesicht. »Sind Sie Tom?«

Er hob den Blick von dem Brötchen, in dessen Mitte er gerade den Backfisch auf einem Salatblatt platzierte, und nickte. Kein Wort zu viel, dachte Vibeke.

Sie zog ihren Dienstausweis aus der Tasche und legte ihn gemeinsam mit ihrem Handy auf den Verkaufstresen. Auf dem Display war die unversehrte Gesichtshälfte der Toten zu erkennen.

»Sehen Sie sich doch bitte kurz das Foto an. Kennen Sie die Frau?«

Ein aufmerksamer Blick. Ein Nicken. Mehr nicht.

»Sie kennen sie?« Vibeke sah den Mann erwartungsvoll an.

»Kommen Sie in einer Stunde wieder, da ist weniger los.« Er deutete mit dem Kopf auf die Schlange hinter ihr. »Jetzt habe ich Kundschaft.«

Vibeke erwog, Druck zu machen, damit der Fischmann sofort mit ihr sprach, doch in dem Fall würde er vielleicht vollends verstummen. Sie steckte das Handy und ihren Dienstausweis wieder ein. »Gut.«

Er drückte ihr das Fischbrötchen in die Hand. »Macht vier Euro fünfzig.«

Sie legte ihm das abgezählte Geld auf den Tresen und verabschiedete sich, aber der Mann bediente bereits den nächsten Kunden.

Mit ihrem Essen in der Hand setzte sie sich auf den Holzstamm, der neben der Bude als Sitzbank fungierte. Das Fischbrötchen schmeckte ganz hervorragend. Kein Wunder, dass die Leute dafür Schlange standen.

Sie fragte sich, wer die Tote wohl war. Eine Bekannte oder Nachbarin des Fischmanns? Vielleicht auch bloß eine Kundin. Seine Freundin wohl kaum, dann hätte sie vermutlich keine Rabattkarte, außerdem hatte sich der Mann dafür zu sehr im Griff gehabt. Andererseits konnte der erste Eindruck täuschen. Die Menschen reagierten unterschiedlich auf den Tod einer nahestehenden Person. Insbesondere, wenn diese eines unnatürlichen Todes gestorben war. Manche schrien oder weinten, andere verstummten oder taten, als wäre nichts geschehen. Eine natürliche Abwehrreaktion, die den Zeitpunkt der unwiderruflichen Erkenntnis hinauszögerte. Diese Erfahrung hatte Vibeke mehr als einmal gemacht, und die Überbringung einer Todesnachricht gehörte nach wie vor zu den schwierigsten Aufgaben ihres Jobs.

Sie vertilgte den letzten Bissen ihres Fischbrötchens, wischte sich anschließend den Mund mit der Serviette ab und zog ihr Handy aus der Tasche, um das Foto der Toten zu betrachten. Wer war die Frau, die am Morgen ermordet am Strand gelegen hatte?

Eine Dreiviertelstunde später schloss Tom Ahrendt die Fenster hinter dem Verkaufstresen und trat mit zwei Kaffeebechern in der Hand aus einer Seitentür seiner Fischhütte. Er reichte der Polizistin einen der Becher und wies auf einen kleinen Tisch mit zwei Klappstühlen, die seitlich neben dem Eingang aufgestellt waren. In einigen Metern Entfernung flanierten auf dem Holzsteg die Touristen am Wasser entlang. Niemand schenkte ihnen Beachtung.

Vibeke nippte an ihrem Kaffee. »Die Frau auf dem Foto, wer ist sie?«

»Das ist Laura. Laura Jensen. Meine Mitbewohnerin.« Der Fischbudenbesitzer wirkte angespannt. »Sie ist tot, oder?«

Vibeke nickte. »Ihre Mitbewohnerin wurde heute früh erschossen in Kollund aufgefunden.«

Tom Ahrendt wurde eine Spur blasser. »Schrecklich.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss einen kurzen Moment die Augen. »Warum ausgerechnet in Kollund?«

»Das wissen wir nicht.« Vibeke musterte den Mann über den Rand ihres Kaffeebechers. Er machte einen relativ gefassten Eindruck. »Wann haben Sie Laura zuletzt gesehen?«

»Gestern Morgen, bei uns in der Küche. Sie hat Kaffee getrunken. Das muss gegen sieben gewesen sein.«

»Was hat sie für einen Eindruck auf Sie gemacht?«

»Laura war so wie immer. Völlig normal.«

»Hat sie erwähnt, was sie an dem Tag vorhatte?«

Tom Ahrendt schüttelte den Kopf.

»Erzählen Sie mir ein wenig von Laura.« Vibeke lächelte ihm aufmunternd zu.

»Viel weiß ich nicht über sie. Laura … Sie war eher der zurückhaltende Typ, hat nie besonders viel geredet. Im Grunde hat man kaum gemerkt, dass sie überhaupt da war.« Er strich sich mit einer fahrigen Geste durch die Locken. »Sie hat studiert. Modedesign oder irgend so einen Schnickschnack.«

»Woher kannten Sie sich?«

»Ich hatte einen Zettel im Supermarkt aufgehängt, dass ich ein Zimmer zu vergeben habe. Laura war die Erste, die sich gemeldet hat.« Er stellte seinen Kaffeebecher beiseite.

»Und wie hat sie die Miete bezahlt?« Vibeke schlug die Beine übereinander. »Hatte sie einen Job, oder wurde sie von ihren Eltern unterstützt?«

Tom Ahrendt zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Mir war nur wichtig, dass das Geld pünktlich kam.« Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Hören Sie, Laura und ich haben uns eine Wohnung geteilt, zusammen mit Maria, meiner zweiten Mitbewohnerin. Mehr nicht. Wir waren keine Freunde oder so.«

Vibeke bemerkte die dunklen Flecken, die sich unter seinen Achseln auf dem T-Shirt bildeten. Der Mann fühlte sich unwohl, das war unübersehbar. War es nur eine Reaktion auf den Tod seiner Mitbewohnerin, oder steckte mehr dahinter?

»Was haben Sie gestern gemacht?« Sie zog ihr Notizbuch und einen Stift aus der Tasche.

»Verdächtigen Sie mich?« Er sah sie ungläubig an.

»Haben Sie denn damit zu tun?«

Tom Ahrendt schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Es ist nur …« Er knetete die Hände. »Eigentlich darf ich überhaupt nicht untervermieten. Aber die Fischbude wirft bloß in der Hauptsaison genügend Geld zum Leben ab, deshalb habe ich keine andere Wahl. Wenn mein Vermieter von der Sache Wind bekommt, fliege ich hochkant aus der Wohnung.«

»Ich sehe keinen Grund, Ihren Vermieter darüber zu informieren.« Vibeke griff nach dem Stift. »Trotzdem möchte ich gerne wissen, wo Sie sich gestern aufgehalten haben. Das ist reine Routine.«

Tom Ahrendt nickte. »Gestern früh war ich beim Fischhändler, um die Ware fürs Wochenende einzukaufen, und danach in der Bude. Gegen sieben habe ich dichtgemacht. Ich war kurz zu Hause, habe mich umgezogen und bin dann mit einem Kumpel ein paar Bier trinken gegangen. Gegen elf war ich wieder in meiner Wohnung. Allein. Reicht das?«

»Fürs Erste ja.« Vibeke notierte seine Angaben. »Stellen Sie mir bitte eine Liste mit Adressen und Telefonnummern von den Leuten zusammen, die das bestätigen können.« Sie legte den Stift beiseite. »Jetzt noch einmal zurück zu Laura. Wir müssen Ihre Mitbewohnerin eindeutig identifizieren. Wissen Sie, wie man ihre Familie erreichen kann?«

»Leider nein.«

»Irgendwelche Freunde?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie hat nie jemanden mitgebracht.«

Vibeke tippte nachdenklich mit dem Stift auf die Tischplatte. Es kam ihr merkwürdig vor, dass Tom Ahrendt kaum etwas über seine Mitbewohnerin wusste. Oder hielt er etwas zurück? »Wie lange hat Laura bei Ihnen gewohnt?«

»Seit November. Also ein Dreivierteljahr.«

»Haben Sie eigentlich einen Ausweis verlangt, ehe sie bei Ihnen eingezogen ist?«

»Ich habe keine Notwendigkeit dafür gesehen. Und ehe Sie fragen, Laura und Maria bezahlen ihre Miete in bar. Das war für uns alle das Einfachste.«

»Kann uns Maria vielleicht mehr über Laura erzählen?«

»Möglich, aber sie ist über die Semesterferien bei ihren Eltern in Spanien.«

Vibeke seufzte. Dann klappte sie ihr Notizbuch zu und steckte es zusammen mit dem Stift zurück in ihre Tasche. »Können wir zu Ihnen in die Wohnung gehen? Ich würde gerne Lauras Zimmer sehen.«

»Jetzt?« Tom Ahrendts Blick glitt zur Fischbude.

Sie nickte.

»Dann rufe ich kurz die Aushilfe an.« Er zog sein Handy aus der Hosentasche und wandte sich einen Moment ab, um zu telefonieren. Als er sich wieder umdrehte, streifte ein schiefes Lächeln seine Lippen. »Glück gehabt. Die Aushilfe ist in zehn Minuten hier.«

Vibeke erhob sich. »Ich vertrete mir solange die Füße.«

In Tom Ahrendts Miene spiegelte sich Erleichterung.

Kollund, Dänemark

Rasmus legte den Hörer auf. Sie hatten einen Namen. Die Tote hieß Laura Jensen und hatte in einer Flensburger WG gewohnt. Zusammen mit einem Fischbudenbesitzer und einer spanischen Austauschstudentin. Die Boisen war tüchtig, das musste man ihr lassen. Dabei arbeitete er ungern mit Frauen zusammen. In entscheidenden Situationen verloren sie oft die Nerven.

Er saß in seinem Bulli an der Bushaltestelle der Küstenstraße und wartete. Eigentlich wäre er jetzt lieber in Flensburg, um sich in der Wohnung des Opfers umzusehen, sich ein Bild davon zu machen, was für ein Mensch die Tote gewesen war. Räume verrieten viel über ihre Bewohner.

Zudem interessierte es ihn, warum eine Frau um die dreißig in einer Wohngemeinschaft lebte. Verfügte sie über wenig Geld, oder konnte sie nicht allein sein? Oder handelte es sich am Ende um eine vorübergehende Lösung? So wie bei ihm.

Erstaunlicherweise gefiel ihm das Leben im Bus. Ohne jeglichen Komfort, mit wenig Platz, einer Matratze anstatt eines Bettes, ohne Backofen, um sich schnell eine Pizza zu machen. Andere lebten ähnlich, fuhren mit einem Camper durch Australien und schrieben ein Buch darüber.

Er zündete sich eine Zigarette an. Sollte die Boisen sich um die Wohnung der Toten kümmern. Er hatte seine eigene Baustelle. Die letzten Stunden hatte er damit zugebracht, die Fahrer der Buslinien 220 und 110 zu befragen, die zwischen Padborg, Kruså und Kollund pendelten. Bis auf einen Fahrer hatte er alle erwischt. Der hatte gerade Dienst. Genau wie am vorigen Abend. Nachdem keiner der bisher Befragten sich an Laura Jensen erinnern konnte, war der Mann die wahrscheinlichste Option. Sonst blieb nur die Möglichkeit, dass die Frau sich einen Wagen geliehen oder dass sie ab Padborg jemand mitgenommen hatte. Noch drei Minuten. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und blies den Rauch anschließend aus dem heruntergekurbelten Fenster.

Der Bus kam in Sichtweite. Etwas zu früh. Er stieß die Fahrertür auf, stieg aus und schnippte die Zigarette beiseite.

Als der Bus in der Haltebucht zum Stehen kam, zückte er seinen Dienstausweis und trat durch die vordere Tür, sobald diese geöffnet wurde. Ein knutschendes Pärchen in der letzten Reihe sowie eine ältere Frau im Mittelteil des Busses waren die einzigen Fahrgäste. Niemand stieg ein oder aus.

»Polizei Esbjerg.« Rasmus hielt dem rotgesichtigen Fahrer das Display seines Handys vors Gesicht. »War die Frau gestern in deinem Bus?«

Der Busfahrer beäugte das Foto. »Ist die tot?« Er wurde etwas blasser um die Nase.

»War sie einer deiner Fahrgäste?«

»Die habe ich noch nie gesehen. Und ich kann mir gut Gesichter merken. Gehört zu meinem Job.« Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.

»Danke.«

Enttäuscht steckte Rasmus sein Handy ein und stieg wieder aus.

Der Bus schloss die Türen und fuhr davon.

Unschlüssig blieb Rasmus in der Haltebucht stehen. Vielleicht war die Frau bei jemandem mitgefahren. Vielleicht sogar bei ihrem Mörder?

Sein Blick glitt zum nahe gelegenen Parkplatz. Etwa ein Dutzend Wagen parkte dort. Wie viele waren es am Vorabend gewesen?

Sören hatte gesagt, keinem der Anwohner sei etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Hätten die Leute, vorausgesetzt der Täter kam von außerhalb, ein Auto bemerkt, das dem Kennzeichen nach nicht in die Gegend gehörte? Vermutlich nicht.

Im Sommer wimmelte es hier von Touristen. Gerade bei den Deutschen war Dänemark als Urlaubsziel sehr beliebt. Sie schwappten mit ihren SUV s zu Ferienbeginn wie eine Tsunamiwelle über die Grenze, brachten Bier und Würstchen mit und ließen dann ihren Müll in den Ferienhäusern zurück.

Rasmus sah die Küstenstraße entlang. Ihm kam ein Gedanke.

Er stieg wieder in seinen Bulli, zündete sich die nächste Zigarette an und wartete auf den Bus aus der Gegenrichtung.